So langsam erst wird sich Leipzig wieder bewusst, dass in dieser Stadt bis 1933 auch einmal ein reiches jüdisches Leben pulsierte. Das war zwar seit den Maßstab setzenden Büchern von Bernd Lutz Lange schon bekannt. Aber wirklich präsent ist es im öffentlichen Leben nicht. Auch nicht, wie stark jüdische Architekten wie Wilhelm Haller vor 90 Jahren das Stadtbild veränderten.

Das ist eine Zeit, da denkt man eher an Bauhaus und Reformstil, auch wenn diese Begriffe nicht wirklich alles fassen, was in den 1920er Jahren an Innovation im städtischen Bauen zu erleben war. Einer Zeit, die durchaus viele konservative Menschen als verstörend erlebt haben dürften. Denn Deutschland machte sich gerade zwischen 1918 und 1933 auf den Weg, wirklich ein modernes Land zu werden, das sich den großen Kunstentwicklungen der Welt öffnete.Das ist vielen gar nicht bewusst, die nur die eine, einseitige Geschichte gelernt haben, dass die Weimarer Republik politisch so zerrissen war, dass die unweigerlich auf die Diktatur der Nationalsozialisten zusteuerte. Was auch an den falschen Heldenbildern liegt, die bis heute kolportiert werden.

Was dabei völlig untergeht, ist das Wissen darum, dass reaktionäre Rückschläge immer auch eine Reaktion auf Modernisierungsschübe sind, von denen sich gerade die Wahrer der alten Besitzstände massiv bedroht fühlen. So betrachtet, ähnelt unsere Gegenwart ein wenig diesen 15 Jahren, in denen ein wirklich modernes Deutschland sich zu Wort meldete, dessen Keime dann von den machtergreifenden Nazis mit mörderischer Verbissenheit ausgerissen wurden.

Es wurden ja nicht nur Menschen vertrieben und ermordet. Es wurden auch Gebäude zerstört, so wie die von Wilhelm Haller entworfene Feierhalle des neuen Israelitischen Friedfhofs an der Delitzscher Straße. Über die hat Daniel Thalheim, der sich als Autor vor allem um Kunst-Themen in der „Leipziger Zeitung“ und auf l-iz.de kümmert, an dieser Stelle schon vor zwei Jahren geschrieben, als der Bau der Feierhalle gerade 90 Jahre zurücklag.

Heute ist von der Feierhalle nichts mehr zu sehen. Denn 1938 steckten sie die Nationalsozialisten in Brand und befahlen der jüdischen Gemeinde, die Ruine auf eigene Kosten abzutragen. Der Akt richtete sich gegen die jüdische Gemeinde genauso wie gegen jene Bau-Moderne, deren Teil Wilhelm Haller war. Einer Moderne, der die Nazis nur zu gern den Garaus gemacht hätten.

In der Ausstellung „Moderne in Leipzig“, die 2007 im Stadtgeschichtlichen Museum gezeigt wurde, wurde erstmals umfassend daran erinnert, wie viele Architekten und Städteplaner in diesem kurzen Jahrzehnt der Demokratie neue Formensprachen in die Stadt brachten. Und wie viel davon noch zu sehen ist, wenn man offenen Auges durch die Stadt geht.

Kurz zuvor – 2006 – hat Daniel Thalheim seine Magisterarbeit am Institut für Kunstgeschichte der Uni Leipzig vollendet. Mit diesem Buch hat man sie im Grunde in der Hand, auch wenn er den Stoff noch einmal neu sortiert hat. Es ist die erste umfassende Würdigung für die von Wilhelm Haller geschaffene Eingangssituation zum Neuen Israelitischen Friedhof, die zu ihrer Zeit auch farblich die Vorüberfahrenden frappiert haben dürfte mit ihren hellblau gestrichenen Wänden und der ziegelroten Kuppel.

In diesem Buch schildert Thalheim, was in alten Akten und Archiven zur Entstehung des Bauwerks zu finden war. Akribisch geht er den Lösungen nach, die Haller für die vielfältigen Nutzungsanforderungen gefunden hat. Er diskutiert die von Haller genutzte Formensprachen, die eben nicht nur die ägyptisch-orientalischen Bautraditionen zitieren, sondern eingebettet sind in die Architekturentwicklungen der Zeit, die für die Zeitgenossen durchaus rasant gewirkt haben dürften.

Als wäre da ein Pfropfen aus der Flasche gezogen und würden die Architekten jetzt aufatmend eine völlig neue Freiheit nutzen, mit alten, schablonenhaften Bautraditionen zu brechen und das Bauen völlig neu zu definieren.

Dabei diskutiert Daniel Thalheim natürlich auch die Frage, wie sich Hallers Schaffen eigentlich einordnet. Was auch für Fachleute nicht so einfach ist, denn das wichtigste Kennzeichen der Zeit war ja gerade, dass man die alten Schubladen verlassen wollte und Bauwerke viel stärker nach ihren künftigen Nutzungen gestaltete.

Was eben nicht nur das Bauhaus mit seinem radikalpraktischen Ansatz hervorbrachte, sondern noch ganze Strömungen wie die Reformbau-Bewegung, den Werkbau und das Neue Bauen (dem dann wieder das Bauhaus zuzuordnen wäre). Und Haller scheint sich intensiv mit all diesen Entwicklungen auseinandergesetzt zu haben, was sich dann auch in den von ihm skizzierten oder auch umgesetzten Projekten zeigt, die sich folglich auch nicht in eine Schublade stecken lassen.

Das trifft auch auf seine Feierhalle zu, die scheinbar durch ihre orientalische Kuppelgestaltung auffällt. Aber bei genauerem Betrachten des Bauwerks macht Daniel Thalheim sichtbar, wie sehr der Architekt hier den Wünschen der jüdischen Gemeinde entsprochen haben muss und einen Bau entworfen hat, der östliches und westliches Bauen in sich vereint, aber auch den Ansprüchen der verschiedenen jüdischen Strömungen an ein feierliches Bauwerk genügte, das die traditionellen Riten mit modernen Hygieneanforderungen vereinte.

Was zu einer auch für Haller einmaligen Lösung führte, auch wenn Daniel Thalheim zahlreiche architektonische (mögliche) Vorbilder in ganz Europa als Querverweis anführt. Schon die wenig später in Halle verwirklichte Feierhalle hatte eine völlig andere Formensprache, die sichtbar machte, mit welcher Intensität Haller die Möglichkeiten des Neuen Bauens nutze und – eigentlich ein wesentliches Kennzeichen dieser Epoche – die verwendeten Materialien wirken ließ.

Was manchen Architekturhistoriker dazu brachte, Haller in die Schublade Art Déco stecken zu wollen, um ihn überhaupt irgendwie greifbar zu machen. Obwohl das ja nun keine wissenschaftliche Bezeichnung ist, wie Thalheim betont. Andererseits zeigt gerade diese Verunsicherung, wie vielfältig, mutig und grenzensprengend das war, was die Architekten in der Weimarer Republik schufen, eng verflochten mit parallelen Entwicklungen in den Nachbarländern.

Und gerade die vielfältigen Lösungen, die man in Hallers Projekten findet, erzählen von einem Architekten, der diese Entwicklung aufmerksam und aufgeschlossen verfolgte. Und der sich nicht festlegen lassen wollte auf einen fertigen Stil.

Thalheims Buch zeigt natürlich besonders, was Leipzig verloren hat, als die Brandstifter dieses Bauwerk anzündeten. Eher beiläufig geht Thalheim noch darauf ein, dass Leipzig auch an Kreativität und Vielfalt verloren hat, als die Nationalsozialisten die Juden aus der Stadt vertrieben. Haller schaffte es relativ früh, nach Palästina auszuwandern und dort noch einige Jahre als Architekt wirksam sein zu können.

Mit der Veröffentlichung im Verlag Dr. Kovač wird Daniel Thalheims Grundlagenarbeit zur Feierhalle auf dem Neuen Israelitischen Friedhof und Hallers Intentionen, eine genau den Wünschen der Auftraggeber entsprechende Lösung zu finden, jetzt auch für all jene zugänglich, die sich für die vielen durchaus erstaunlichen Wege der modernen Architektur im Allgemeinen und kreative Architekten wie Wilhelm Haller im Speziellen interessieren.

Und natürlich reiht sich das Buch auch ein in die zunehmende Zahl Leipziger Publikationen, die den Reichtum des jüdischen Lebens bis 1933 sichtbar machen. Denn oft genug ist es eben genau so wie heute am deutlich nüchterneren Eingang zum Neuen Israelitischen Friedhof in der Delitzscher Straße: Was verschwunden ist, sieht man nicht. „Misstraut den Grünflächen!“, schrieb einst der Feuilletonist Heinz Knobloch für sein Erkundungsfeld Berlin.

Aber dasselbe gilt auch für Leipzig.

Daniel Thalheim Wilhelm Haller, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2021.

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