Schon mit ihrem Buch „Fliegen lernen“ hatte Susanne Niemeyer gezeigt, dass man die weltberühmten Geschichten aus der Bibel auch völlig anders lesen kann. Nämlich mit den Augen einer modernen, emanzipierten Frau. Mit „Kirschen essen“ zeigt sie erst recht, wie sehr die Bibelgeschichten immer noch aus Männer- und Machoperspektive interpretiert werden. 3.000 Jahre Männerignoranz sind einfach so zählebig, dass man das eigentliche Leben vor lauter Brettern nicht mehr sieht.

Machos sehen Frauen immer nur als Objekt, als passive duldsame Lämmer, die die von Männern gemachte Geschichte einfach nur hinzunehmen haben. Diesen Macho-Blick merkt man in den Geschichten um Bathseba, Eva und Maria genauso wie bei Delilah, Hagar, Lea oder Rachel. Es ist ja nicht so, dass die Bibel keine starken Frauengeschichten enthalten würde.

Aber sie wurde jahrhundertelang von Männern (meist auch noch zölibatär lebenden) überarbeitet, umgeschrieben, redigiert, bis der ganze Krempel passte zu einer von lauter berühmten Männern gemachten Geschichte. Nur wer die Bibel aufmerksam liest, findet die vielen Stellen, wo Kürzungen nicht komplett erfolgten, Reste früherer Varianten durchscheinen.

Und vielleicht ist auch die Betonung auf emanzipiert zu stark, denn sie suggeriert ja auch, dass sich Frauen jahrtausendelang in die von Männern auferlegten Rollen gefügt haben und sich auch immer so benahmen, wie das Männer von Frauen erwarteten. Aber taten sie das wirklich? Kann es sein, dass Frauen immer auch versucht haben, ihre eigene Persönlichkeit und Freiheit zu leben?

Eine Frage, die man eigentlich mit „Ja“ beantworten muss. Nur hatten sie all die Zeit keine Stimme. Und wenn sie sich selbstbewusst benahmen und ihr Recht auf Gleichwertigkeit einforderten, dann wurden sie in den von Männern aufgeschriebenen Geschichten schnell zu Karikaturen – Salome genauso wie Judith oder in diesem Buch ganz eindeutig Maria Magdalena, die Geliebte von Jesus.

Jenem seltsamen Jesus, von dem wir in allen vier Evangelien nicht einmal die Hälfte erfahren. Als wären die graubärtigen Redakteure mit Schabemesser und Radiergummi drüber gegangen, um alles auszumerzen, was Jesus zu einem Sohn, einem Geliebten, einem Menschen mit Ängsten und Gefühlen gemacht hätten. Er schwebt regelrecht als Statue durch die Geschichte, ab und zu wird er wütend, manchmal auch recht unmotiviert.

Und nicht nur in dieser Geschichte stellt Susanne Niemeyer die stille, kaum angedeutete Frage: Kann es sein, dass viele Bibel-Geschichten so komisch sind, weil verkrampfte alte Männer versucht haben, das Elementarste daraus zu entfernen, was die Bibel zu sagen hat? Neben dem so elementaren „Fürchte dich nicht!“? Und das ist nun einmal die Liebe. In all ihren Formen und Facetten. Und zwar die selbstbewusste, fordernde Liebe, die Susanne Niemeyer in lauter Geschichten entdeckt, in denen wir heute nur die männliche Sicht auf die „brav waltende Hausfrau“ sehen, weil uns die Moral der Geschichte dazu zwingt.

Man braucht wahrscheinlich wirklich den unverstellten Blick einer Autorin wie Susanne Niemeyer, um zu sehen, dass es in der ganzen Eva-Apfel-Geschichte nicht um Adam, diesen Feigling geht. Denn Eva ist die Starke, die sehr wohl begriffen hat, was Gott mit diesem Apfelbaum und den Engeln an der Pforte des Paradieses eigentlich konstruiert hat: die Frage der freien Entscheidung sich auf ein Leben einzulassen, in dem es für nichts eine Garantie gibt.

Und so wird Susanne Niemeyers Paradiesgeschichte zu einer Geschichte, vor der jedes Menschlein irgendwann steht: Nehme ich mein Leben selbst in die Hand – unter der Gefahr, dass es manchmal schiefgeht? Oder bleibe ich im Paradies und erfahre nie, was es da draußen zu erleben gibt?

Und so krempelt Susanne Niemeyer eine Liebesgeschichte aus der Bibel nach der anderen um – auch solche, in der nur Männer Männer lieben und Frauen Frauen und mancher auch Gott oder Jesus, so wie Judas, der sich von diesem charismatischen Prediger und seinem Armutsgelübde hat einfangen lassen und am Ende merkt, dass der Angebetete genauso ratlos ist wie er selbst.

Nur so als Ergänzung: Susanne Niemeyer schreibt aus einer sehr religiösen Sicht. Sie will das „Buch der Bücher“ nicht demontieren. Auch wenn sich eine ihrer Geschichten darum dreht, dass Gott auch als eine Frau gesehen werden kann oder als Tier, sodass auch Franz von Asisi verstummen muss. Denn warum predigt er zu den Tieren, wenn sie ihre eigene Vorstellung von Gott haben?

Susanne Niemeyer entkernt das Buch eher, führt es auf die Grundlage zurück. Und die kann nur Liebe sein – die Liebe zum verlorenen Sohn, die Liebe zu den Kindern, auch wenn es nicht die eigenen sind. Und wie ist das mit der Selbstliebe, die Jesus ja gleich neben der Nächstenliebe nennt? Das spielt Susanne Niemeyer am Beispiel von Saulus vor, der zum Paulus wurde, so sehr, dass wir alle heute nur den Paulus sehen und dabei übersehen, wie viel Saulus im Paulus übrig geblieben ist. Man kann sich wandeln – aber man kann sich nicht wandeln, wenn man sein ursprüngliches Wesen verleugnet. Denn dem schaut man jeden Morgen im Spiegel ins Gesicht.

Liebe hat auch viel mit Loslassenkönnen zu tun – etwas, was Niemeyer gerade in der Kirschen-essen-Geschichte durchspielt, eine Geschichte, die wieder eine starke, selbstbewusste Frau zeigt, eine richtige Königin, die genau weiß, dass man den anderen mit seinem Selbstbewusstsein auch erdrücken kann. Dass man manchmal auch einfach nicht zusammenkommen kann, wenn man den oder die, die man liebt, nicht einengen und erdrücken möchte.

Kleine Zitate – manchmal aus der Bibel, gern auch aus dem Hohe Lied oder von bekannten Dichtern – ergänzen die kurzen Texte, die auch durch eine kurzweilige, forcierte Erzählweise bestechen. Diese Autorin möchte schnell zum Punkt kommen. Und was dabei garantiert nicht entsteht, sind die rätselhaften Gleichnisse, die alle möglichen Deutungen zulassen. Warum mogeln sich die Evangelien so um Josefs Gewissensnöte herum, als Maria ihm mitteilt, dass sie das Kind eines anderen bekommt? Wo ist die Passage, die Josef in seiner Hingabe und väterlichen Zuneigung für dieses „untergeschobene“ Kind zeigt?

Und dass Maria Magdalena arg zensiert wurde, hat den Gläubigen natürlich die Geschichte vorenthalten, die diesen Jesus vielleicht sogar erklärbar macht. „Ich liebe es, sagt er, dass du mich nicht festnagelst.“

Es sind solche kurzen, freundlich funkelnden Sätze, in denen Niemeyer ihre Gestalten aus der biblischen Entrückung holt und auf die Erde setzt. In diesem Fall neben Maria Magdalena, die diesen Burschen, der seine Liebe scheinbar an alle ausschüttet, durchschaut wie keine andere. Nur Judas scheint – aus lauter Liebe – genauso hellsichtig zu sein.

„Sie ahnt etwas von seinem Schmerz. Obwohl er ihn nie zur Schau stellt. Auch von seiner Wut. Wie ein Sommergewitter bricht sie manchmal herein, unerwartet und heftig. Aber sie fürchtet sich nicht vor Gewittern.“

Wenn Susanne Niemeyer so weitermacht, bleibt von der alten Alte-Männer-Bibel eine ganze Menge übrig – aber es würde anders aussehen, eindeutiger, irdischer. Es wäre ein unverstellter Blick auf richtige Menschen, die manchmal den Mut haben, ihre Liebe zu leben, auch wenn sie eigentlich nicht dürfen und nicht sollen.

Und wenn man die entsprechenden Passagen in der Bibel liest, merkt man, dass die Geschichten, die Susanne Niemeyer erzählt, tatsächlich in den alten Texten stecken, gut versteckt unter lauter (männlicher) Moral, altbackenen Vorstellungen von Sitte und Anstand und meist auch nur durch die Männerbrille gesehen. Was dann leider Generationen von Menschen geplagt hat, weil sie vergeblich versuchten, diesen Wüstenvorstellungen von Menschsein zu genügen. Und die Bathseba-Geschichte zeigt zum Beispiel auch, dass das nicht nur Frauen in ihrer Lebensfülle beschnitten und gekränkt hat, sondern auch Männer.

Fast wünscht man sich, Susanne Niemeyer schriebe jetzt endlich mal die komplette Bibel um, auch zur Aufklärung all unserer verdrucksten Bischöfe und Päpste, die den Alte-Männer-Tinneff für das Heiligtum halten, das sie bis in alle Ewigkeit bewahren müssen, und leider vergessen haben, was dieser ziemlich einsame Jesus meinte, als er sagte: „Fürchtet euch nicht.“

Susanne Niemeyer Kirschen essen, Edition Chrismon, Leipzig 2020, 15 Euro.

„Fliegen lernen“ – Susanne Niemeyers Geschichten über Wesen, die da sind, wenn wir aus unseren Sorgen nicht herausfinden

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