Amoz Oz hat sich mit diesem Apostel beschäftigt, Walter Jens hat es getan. Martin Meister hat sich für die Evangelische Verlagsanstalt in der Reihe „Biblische Gestalten“ mit ihm beschäftigt. Und zwar unter dem Titel „Einer von uns“. Was schon sehr gut auf den Punkt bringt, was an dieser Gestalt so reizt.

Ohne ihn funktioniert die ganze Jesus-Geschichte nicht. Ohne ihn kein „Verrat“. Obwohl es in der Geschichte überhaupt nicht um Verrat geht. Diese Deutung kam eigentlich erst mit Luther in die Übersetzung, während die richtigen Übersetzungen von Ausliefern, Übergeben und Opfern sprechen.

Denn wer muss einen Messias verraten, der in Jerusalem für Aufsehen sorgt und den der hohe Sanhedrin sowieso schon auf dem Kieker hat? Es ist Quatsch, juristisch sowieso. Es geht um die Logik einer Geschichte, auch wenn es Dr. Fabian Brand natürlich zuallererst theologisch versucht.

Den späteren Hinzudichtungen misstrauen

Aber er versucht sich auch an das zu halten, was wirklich in den Evangelien steht. Und das ist nicht viel. Und wer im Theologiestudium nur ein kleines bisschen aufgepasst hat, der weiß, dass die vier Evangelien nicht alle gleichzeitig entstanden sind, sondern selbst schon eine Entwicklung und Umformung der ursprünglichen Jesus-Geschichte darstellen.

Was besonders beim Johannesevangelium deutlich wird, das auf den ersten Blick scheinbar mehr erzählt, auch über Judas – aber da es später entstanden ist als die Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas, kann man davon ausgehen, dass hier auch schon deutlich hinzuerzählt wurde.

Bis in die Wortwahl und die Vorverurteilung des Apostels Judas hinein, dem nun schon weit vor dem Tag des Abendmahls eine finanzielle Gier angedichtet wird, die sich mit der selbstgewählten Armut der Apostel eigentlich nicht verträgt.

Logisch, dass auch Fabian Brand diese Stellen sehr skeptisch beurteilt. Denn sie verändern das Judas-Bild gewaltig – und schaffen letztlich auch den Raum, der später den Antisemitismus mit all seinen Stereotypen mitbegründet, die man auch bei Luther findet.

Denn zu Recht verweist Brand darauf, dass gerade in den älteren Evangelien vieles darauf hindeutet, dass nicht nur das Leben von Jesus in der Deutung des Alten Testaments erzählt wird, nach dem sich in ihm uralte Prophezeiungen verwirklichen. Es trifft auch auf Judas zu, von dem sich möglicherweise auch annehmen lässt, dass er der Lieblingsjünger sein könnte, der bei Johannes nirgendwo beim Namen genannt wird.

Die Sache mit dem eingetunkten Brot

Und was man bei Markus liest, klingt eher danach, dass Jesus den Jünger selbst bestimmt hat, der ihn (immerhin „das Lamm Gottes“) an die Häscher ausliefern soll. Die Geschichte bekommt einen völlig anderen Dreh, wenn man sie von dem ganzen „Verräter“-Klimbim befreit, den spätere Legendenerzähler und „Kirchenväter“ dazugetan haben, weil sie sich die Geschichte ohne einen abgrundbösen Widersacher nicht vorstellen können.

Bei Markus klingt das so: „Und als sie bei Tisch waren und aßen, sprach Jesus: ‚Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten. Und sie wurden traurig und fragten ihn, einer nach dem andern: Bin ich’s? Er aber sagte zu ihnen: Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht.‘”

Da steckt noch die Luther-Übersetzung drin. In der Einheitsübersetzung ist von „in dieselbe Schüssel eintunken“ die Rede.

Wobei ich das „in die Schüssel eintunken“ besonders schön finde, denn jahrhundertelang streiten sich die Exegeten über Brot und Wein und ihre höhere Bedeutung und alle Welt glaubt, es hätte beim Abendmahl nur Brot und Wein gegeben.

Aber in Wirklichkeit war es ein echtes Festmahl mit Polstern und Paschalamm. Und natürlich gewaltigem Erschrecken, weil die Zwölf jetzt erst merkten, dass es ihr Meister ernst meinte und ausgeliefert werden wollte wie ein Opferlamm.

Und dass das einer von ihnen tun sollte.

Verrat oder Auftrag?

Fabian Brand rätselt zwar an einigen Stellen darüber, dass Jesus ja schon vorher gewusst haben musste, dass ihn einer aus der Runde „verraten“ würde und warum der das nicht verhindert hat. Man merkt schon: Da kommt auch ein studierter Theologe immer wieder in die lutherschen Wortfallen. Worte schaffen Vorstellungen und sind, wenn sie wie dieses Wort „Verrat“ auch noch Jahrhunderte echter Verwüstungen vollbracht haben, nur schwer wieder aus der Vorstellung zu bringen.

Erst recht, wenn Generationen von Erzählern das spätere Schicksal des Judas immer schrecklicher und immer höllischer ausgemalt haben, sodass heute mehrere Erzählvarianten nebeneinanderstehen, die sich alle gegenseitig ausschließen.

Mal bringt sich der Jünger gleich noch in der Nacht des „Verrats“ um, nachdem er die 30 Silberlinge in den Tempel geworfen hatte – den „Judaslohn“, wie es später oft bezeichnet wurde. Wobei auch hier die Frage steht, ob er die Summe selbst verlangt und ausgehandelt hatte und Jesus damit „verkauft“ hatte.

Die Silberlinge stammen übrigens auch von Luther, der damit die römische Geldeinheit Denar übersetzt hatte. Und Wikipedia schreibt zu deren Wert: „Die Kaufkraft eines Denars, gemessen an heutigen Waren und Dienstleistungen, lag bei Kaiser Augustus, um 13 v. Chr., noch bei etwa 15 bis 25 Euro.“

Dass man sich damals für 500 Euro einen Acker kaufen konnte, den berühmten „Blutacker“, den Judas davon gekauft haben soll, ist schwer vorstellbar. Ganz abgesehen davon, dass er dafür überleben musste, sich also nicht umbringen durfte.

Die undankbarste Aufgabe

Man gerät, wie man sieht, in ein Dickicht von Geschichten, in denen meist immer schlechtere Erzähler zu Gange waren, um die Sache noch boshafter auszumalen, aber damit letztlich die ursprüngliche Geschichte zu demolieren.

Fabian Brand hält sich möglichst nah an dem, was an Bibelstellen zu Judas überhaupt zu finden ist, diskutiert die Widersprüche der vier Evangelien und einiger späterer Judaslegenden, geht auch darauf ein, dass es durchaus christliche Strömungen gab, die Judas in einem völlig anderen Licht sahen und ihn nach wie vor als Apostel und sogar Heiligen betrachteten.

Denn indem Judas gehorchte und Jesus auslieferte, nahm er selbst ein Opfer auf sich. Und zwar ein angekündigtes. „Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; aber weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.“

Hier steht noch das Luthersche „verraten“. Die Einheitsübersetzung spricht dann richtiger von „ausgeliefert“.

Luther war zwar ein wortgewaltiger Übersetzer, aber ein ganz schlechter Geschichtenerzähler.

Warum es besser wäre, dass der Erwähnte nicht geboren wäre, erzählt Jesus an der Stelle zwar nicht. Aber zumindest die frühen Evangelien erzählen ja von der Reue, die Judas zerriss. Eigentlich hat er die undankbarste Aufgabe übernommen. Er, der wahrscheinlich in dieser Apostelrunde am seltensten zweifelte und widersprach.

Auch darauf geht Brand ein, wenn er die verschiedenen Deutungen des Beinamens Iskariot diskutiert. Deutet der Name darauf hin, dass dieser Judas zu den Sikariern, einer der Rebellengruppen in dieser Zeit, gehörte? Oder doch nur auf seine Herkunft aus einem Nest namens Kerijot?

Wer opfert das Lamm Gottes?

All das lässt sich mit den kargen Befunden nicht klären. Aber Markus zeigt eindeutig, dass sich die ganze Apostelrunde davor fürchtete, auserwählt zu werden, Jesus auszuliefern. Eine ganz vertrackte Geschichte, deren Höhepunkt eigentlich nicht erzählt wird.

Kein guter Geschichtenerzähler aber würde sich den Moment entgehen lassen, wenn der Mann, der wohl stets wie selbstverständlich neben Jesus saß beim Mahl und auch wie selbstverständlich sein Brot in die gemeinsame Schüssel tunkte, merkt, dass er es wieder mal gleichzeitig mit seinem Meister getan hatte – oder der Meister mit ihm.

Und dann beim Tunken merkt, was das für ihn bedeutete. Da wähle mal einer.

Und natürlich diskutiert Brand auch, was eigentlich geschehen wäre, wenn Judas den Job nicht übernommen hätte. Hätte sich Jesus dann selbst ausgeliefert? Hätte das überhaupt funktioniert? Und hätte die Geschichte dann noch funktioniert, wenn es den Jünger nicht gegeben hätte, der ihn ausliefert und die Häscher auf den Berg Getsemani führt? Und welche Bedeutung hat der Kuss, der ja nun einmal Zeichen engsten Vertrauens ist?

Mal abgesehen davon, dass die Geschichte auch menschliche Konflikte erzählt, wie sie selbst die Gläubigsten bis in die Gegenwart immer wieder erleben – dass sie oft das ihnen Wichtigste und Heiligste verraten, verraten müssen gar, weil es um die eigene Haut geht.

Auch all die Leute, die sich so gern für Heilige halten und dabei nicht mal merken, was für Schaden sie anrichten. Wie geht man dann mit diesem schrecklichsten aller Gefühle um, mit dieser Verzweiflung und Reue? Denn das erzählen ja die Varianten der Geschichten vom Selbstmord des Judas, dass er diese Last nicht aushielt.

Darf ein Jünger zweifeln?

Gerade weil Brand die so oft erzählten Geschichten hinterfragt und auf die durchaus kargen Belege in den Evangelien verweist, wird deutlich, dass hier leider viel zu viele spätere Erzähler mit herumgepfuscht haben und eine Geschichte des bösesten Verrats draus gemacht haben, die nicht nur Judas Iskariot für alle Zeit in die Schlünde der Hölle verbannt, sondern auch zur Grunderzählung des neuzeitlichen Antisemitismus geworden ist. Mit der sich Brand auch beschäftigt, denn er weiß ja um die Folgen und antisemitische Aufladung des Namens Judas gerade in Deutschland.

Womit natürlich die wesentliche Rolle, die Judas in dieser Geschichte spielen muss, völlig untergeht. Wobei Brand auch darüber sinniert, ob Judas nicht doch eher zu einer Rebellengruppe gehörte und sein Messias ihn am Ende nur noch enttäuschte, weil er die Verhältnisse gar nicht gewalttätig umstürzen wollte. Aber das sind nur Mutmaßungen. Es wäre eine andere Geschichte.

Mal ganz abgesehen davon, dass wir überhaupt keine echten Augenzeugenberichte besitzen und auch in den ältesten Evangelien schon einen Kanon von Erzählungen vor uns haben, in denen die Deutung der Ereignisse im Licht des Alten Testaments unübersehbar ist.

Denn wenn im Alten Testament nichts geschrieben stünde, würde sich auch nichts erfüllen. Und darum geht es ja genau in dieser Nacht und bei diesem festlichen Pessachmahl, das die Juden natürlich nicht nur mit Brot und Wein feiern.

Gut möglich also, dass zur tatsächlichen Apostelrunde auch ein paar aufrührerische Gesellen gehörten, die mehr wollten als einen Messias, der dann am Kreuz endet. Aber diese Geschichte erzählt eben keines der Evangelien, die schon in ihrer frühesten Form Deutung sind und Parabel. Was eben auch für Judas zutrifft, der durchaus als lebendiger Mensch mit all seinen Zweifeln und seinem großen Glauben existiert haben mag.

Aber in der Geschichte ist er Teil einer Legende, die sich erfüllen muss. So, wie die anderen Jünger auf dem Ölberg alle flüchten und Jesus nicht verteidigen – außer Petrus, der dann aber seinen Herrn gleich dreimal verleugnet. (Fast hätte ich schon wieder „verrät“ geschrieben. Aber er verleugnet ihn nur, verrät ihn aber nicht.)

Das Dilemma des Judas

Zu Recht weist Fabian Brand darauf hin, dass man die Evangelien ohne ihre vielen Bezüge auf das Alte Testament nicht lesen kann, sonst versteht man die Symbolik nicht. Eine Symbolik, die die Jesus-Geschichte fest in der jüdischen Überlieferung verankern und seine Rolle als der erwartete Messias belegen soll.

„Es ist gut und wichtig, immer auch einen neuen Blick auf jemanden zu werfen, von dem man doch glaubt, ihn zu kennen“, schreibt Brand. Und verweist gleich im Einstieg darauf, wie eng in unserer heutigen Vorstellung der Name des Judas Iskariot mit dem Wort „Verrat“ verknüpft ist.

Aber das wird der Person, die in den Evangelien greifbar wird, nicht gerecht. Im Gegenteil: Es verdreht die ganze Geschichte und schreibt gerade diesem Judas eine Eindimensionalität zu, die seiner Rolle in dieser Nacht nicht gerecht wird. Was eher von unserem platten heutigen Dualismus erzählt, der die Welt immer nur in Schwarz und Weiß, Opfer und Verräter teilt und damit eine Simplizität suggeriert, die das menschliche Leben nun einmal nicht hat.

Im Gegenteil: Gerade in diesem Judas, der letztlich gehorcht und tut, was ihn am Ende so sehr bereuen lässt, wird das Dilemma des Menschen besonders deutlich. Und natürlich die Frage nach Barmherzigkeit, die Brand ganz zum Schluss anspricht. Eine nicht ganz unwesentliche Frage in einer Zeit, in der sogar gut gepolsterte Kommentatoren wieder lustvoll die Unbarmherzigen mimen.

Gilt hier nicht auch Jesus Wort vom „ersten Stein“?

Die Demolierung einer guten Geschichte

Oder die nach der Logik der Geschichte, die hier ursprünglich erzählt wird. Man muss ja nicht mal Theologie studiert haben, um zu sehen, dass die Urgeschichte dieses Abendmahls zwingende erzählerische Strukturen hat, denen keine der beteiligten Figuren entkommen kann.

Was eigentlich jeder spürt, der weiß, was eine gute Geschichte ist. Und wann Geschichten wieder zu plattem, ödem Boulevard werden, mit dessen Methoden den Leuten simplifizierte Erzählmuster eingehämmert werden, die auf das, was in der Welt passiert, nie wirklich passen.

So gesehen ist Brands Untersuchung auch eine Suche nach der ursprünglichen Geschichte und nach der Rolle, die Judas Iskariot tatsächlich zugewiesen wurde. Und die die frühen Christengemeinschaften ganz bestimmt auch noch verstanden haben, bevor diverse Bischöfe und Märchenerzähler damit begannen, die ganze Geschichte zu boulevardisieren.

Fabian Brand Judas, St. Benno Verlag, Leipzig 2022, 7,95 Euro.

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