Kindheit ist peinlich. Erwachsensein aber auch. Nicht, weil man den Kleinen auch lauter peinliche Fragen beantworten muss. Das lernt man irgendwann, wenn man die kleinen Frager ernst nimmt und auch mal zugesteht, dass man was nicht weiß, oder nicht richtig weiß. Im Grunde ist Tanja Eschs Quatsch-Buch ein schönes Hilfsbuch für große Leute, die in der Schule die falsche Scham gelernt haben.

Dafür können unsere Lehrer/-innen nichts. Das weiß ich. Sie würden auch gern auf all die falschen Bewertungen verzichten, die sich deutsche Feldwebel mal ausgedacht haben, um die Leistungen der Kinder zu sortieren wie Eier, Äpfel oder Birnen. Das merken die Kleinen wohl, dass sie in der Schule genau so behandelt werden und schon früh sortiert werden nach akzeptabel und irgendwie unpassend. Und die neue Scham, die sie da schnell kennenlernen, ist die Scham, etwas nicht zu wissen.Was ja nichts Schlimmes ist. Eigentlich. Aber tatsächlich erzieht Schule, wie wir sie handhaben, lauter Besserwisser. Menschen, die eigentlich nichts besser wissen, aber gelernt haben so zu tun, als wüssten sie alles. Mit fatalen Ergebnissen, wie wir wissen. Die einen trauen sich nicht mehr zuzugeben, dass sie etwas nicht wissen, die nächsten bellen das, was sie glauben zu wissen, mit voller Überzeugung in die Welt. Und Dilettanten besetzen verantwortliche Posten ohne die Fähigkeit zur Selbstkorrektur.

Ja, stimmt: Mir wären auch Politiker/-innen lieber, die noch fähig sind zu lernen.

Aber die wählen wir eben leider nicht in diese Ämter. Denn auch hier schlägt der Besserwisser-Effekt zu: Die, die niemals Zweifel zeigen an dem, was sie sagen, die werden gewählt. Egal, welchen Bullshit sie von sich geben. Hauptsache mit Überzeugung und ohne Zögern.

Und Kinder wundern sich nur noch. Zumindest so lange, bis auch sie gelernt haben, wie das läuft. Dann fragen sie auch nicht mehr.

Aber was kann man da tun?

Das Zweifeln üben. Dabei hilft dieses sehr witzig gedachte und gezeichnete Buch, das auf 14 Fragen, die einem so als Knirps tatsächlich einfallen können, doppelt so viele Antworten anbietet. Die Hälfte davon natürlich richtige, die andere Hälfte so dicht daneben, dass man meinen könnte, diese Antworten könnten auch logisch und richtig sein.

Dieses Knapp-Daneben ist wichtig. Denn damit macht Tanja Esch deutlich, wie leicht wir auf falsche Erklärungen reinfallen, wenn die nur irgendwie sinnvoll klingen. Denn das haben diese teils richtig spaßigen Antworten gemein mit so vielem, was in unserer Welt viele Erwachsene als unhinterfragbare Wahrheit vor sich hertragen, anderen aufnötigen und jeden, der daran auch nur zu zweifeln wagt, mit Verachtung strafen. Man weiß es ja besser.

Was übrigens weitab von jedem wissenschaftlichen Denken ist. Denn Wissenschaftler zweifeln. Immer. Sogar an ihren eigenen Forschungsergebnissen. Sie wissen nämlich, dass all unser Wissen immer nur eine Annäherung ist an eine in der Regel sehr komplexe Realität. Und dass man viel messen, rechnen und experimentieren muss, um wenigstens einigermaßen belastbar sagen zu können, was tatsächlich ist. Unsicherheiten bleiben immer.

Auch wenn man mit der Zeit einige wirklich falsche Erklärungen ausschließen kann, egal, wie logisch sie klingen. Das sind die 14 falschen Antworten, die Tanja Esch aber genauso liebevoll illustriert und ernsthaft erklärt hat. Und auf den ersten Blick wirken sie oft nicht nur ungemein lustig, sondern auch irgendwie logisch. Zum Beispiel, dass Lamas unseren Geruch nicht mögen und deshalb spucken. Oder dass Mücken sich rächen, wenn sie uns stechen. Oder dass eine Radiologin irgendwas mit Radios zu tun haben müsste.

Wobei ich den Vorschlag, die ganzen Leute auf ihren Hometrainern ans Stromnetz anzuschließen, gar nicht so daneben finde. Warum sollten sich die Fitness-Besessenen denn nicht auf diese Weise nützlich machen und echten Bio-Strom erzeugen? Das würde wahrscheinlich nicht reichen, um eine ganze Stadt zu beleuchten, aber für etliche Smartphones und Musikanlagen dürfte das schon reichen.

Die doppelten Antwort-Vorschläge laden also nicht nur zum Suchen nach der richtigen Lösung ein, sondern auch zum lateralen Denken. Und auch ein bisschen zum Mitgefühl – etwa mit Laura, die in Kevin verliebt sein soll. Hier wird nämlich das Thema Scham angerührt. Und Kinder wissen das, wie viel Scham man in der Schule erlebt – nämlich immer dann, wenn es persönlich wird.

Egal ob beim Schulhoftratsch oder wenn der Lehrer einen ganz persönlich triezt. Vielleicht unabsichtlich. Aber wenn man sich dafür schämt, etwas nicht zu wissen, ist das schlimm genug. Und zwar erst recht, wenn man in der Schule nicht lernt, wie man damit umgehen kann.

Denn das ist eigentlich das Wichtigste, was man in der Schule lernen sollte: Das Nicht-Wissen lockerer zu nehmen und Wege zu finden, zu richtigem Wissen zu kommen. Nicht zu besserem, sondern zu richtigerem Wissen. Denn das ist die Grundlage für alle Problemlösungen im Leben.

Leute, die alles besser zu wissen glauben, hemmen und bremsen nur. Sie stehen breitbeinig in der Gegend herum und machen sich über die Grübler und Sucher lustig, lachen sie aus und nutzen es aus, dass sie sich mit ihrer Besserwisserei überhaupt keine Mühe geben müssen, während die anderen wirklich Zeit und Mühe aufwenden, eine Lösung zu suchen.

Das ist ein echtes Kräfteungleichgewicht, bei dem in unserer Gesellschaft fast immer die Besserwisser und Schamlosen gewinnen.

Das steckt auch ein bisschen in diesem Buch, auch wenn es natürlich ein schönes Bilderwerk ist, mit dem Eltern ihren Kleinen zeigen können, wie dicht beieinander oft richtig und falsch liegen, wie schnell also auch Irrtümer und Fake News in die Welt kommen können, wenn sie keiner in Zweifel zieht.

„Lernt zweifeln, Kinder!“, ist die stille Aufforderung hinter all den witzigen Erklärbildern. Und wenn ihr etwas nicht wisst, fragt nach. Und oft werden natürlich Papa und Mama beim Vorlesen auch nicht gleich wissen, welches die richtige Antwort ist (es sei denn, sie haben vorher heimlich am Ende des Buches nachgeschaut).

Aber das ist dann die beste Gelegenheit zuzugeben, dass auch Eltern nicht alles wissen können – und auch nicht müssen. Dazu gibt es viel zu viele Dinge auf der Welt, die man wissen kann – aber nicht muss. Etwa, was ein Podologe anstellt oder warum der Pullover knistert beim Ausziehen, wie das Salz ins Meer kommt oder warum manchmal die Füße einschlafen.

Je mehr man lebt, umso mehr Fragen beschäftigen einen. Und manchmal wissen andere Leute tatsächlich die Antwort und können es gut erklären (Imker zum Beispiel bei der Sache mit dem Honig) oder es steht in Büchern, in denen kluge Leute es gut erklären.

Es kann natürlich auch passieren, dass der Knirps, dem man dieses Buch vorgelesen hat, dann auf noch mehr wilde Fragen kommt. Ist das schlimm? Nicht wirklich. Lieber versuchen dann eben alle zusammen rauszukriegen, wo man die richtigen Antworten finden könnte. Das gehört dazu. Denn der Spruch gilt nach wie vor: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Lernt fragen, Kinder. Der eigentliche Spaß beginnt nämlich erst da, wo die Besserwisser immer glauben, dass alles schon fertig und klar ist. Was sie mit der Welt angerichtet haben, kann man ja überall besichtigen.

Wir brauchen viel mehr fragende Kinder.

Und viel mehr Erwachsene, die zugeben, dass sie es (noch) nicht wissen.

Tanja Esch Wahrheit oder Quatsch?, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2021, 14 Euro.

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