Auch wenn der Historiker Johann Chapoutot in diesem Buch den NS-Juristen Reinhard Höhn in den Mittelpunkt stellt, der im Hitlerreich eine zentrale Rolle dabei spielte, das theoretische Rüstzeug für die Leistungssteigerung in der Kriegswirtschaft bereitzustellen und in Westdeutschland dann die Führungskräfteakademie in Bad Harzburg gründete: Es geht in diesem Buch nicht nur um das Leben dieses anpassungsfähigen und gut vernetzten SS-Mannes,

Und so behandelt Chapoutot das Thema auch nicht, auch wenn er akribisch referiert, wie Höhn im NS-Reich Karriere machte und involviert war in die Debatte, wie die Führungsstrukturen des Dritten Reiches funktionierten sollten, um auch noch die letzten Kräfte für die Kriegswirtschaft zu mobilisieren. Ein Thema, das aufs Engste verkoppelt war mit der Verachtung der Nationalsozialisten für den Staat und ihrer Denkweise über das sogenannte Führerprinzip.Schon hier wird das Buch zu einem kleinen und lehrreichen Ausflug in die Geschichte der Staatsphilosophie. Und auch heutige Leser dürften einiges daraus gewinnen. Denn die Staatsverachtung mit ihrer seltsamen Sicht auf Grundrechte und individuelle Freiheiten tobt sich ja heute schon wieder auf den Straßen aus. Als wäre den dort Lärmenden nicht einmal bewusst, was der Staat eigentlich zur Stabilisierung von Recht und Gesetz, von Sicherheit und sozialer Absicherung leistet, egal, wie fremd einem viele bürokratische Auswüchse sein mögen.

Hier prallt das von der Aufklärung manifestierte Verständnis eines Staates, der die bürgerlichen Rechte gewährleistet, auf das geradezu anarchistische Staatsverständnis der Nationalsozialisten, die den Staat immer als Hemmnis gesehen haben für ihre Totalmobilisierung der „Volksgemeinschaft“. Und die sich auch entsprechend verhielten und ein Regime der „chaotischen Improvisation und Unordnung“ schufen, in dem nicht einfach nur von oben nach unten durchbefohlen wurde.

Um die nötige Flexibilität erst recht mit Kriegsbeginn in riesigen besetzen Gebieten zu schaffen, arbeiteten die Nazis mit einem Führer-Prinzip, das nicht nur für Chapoutot erstaunlich einer Managementkultur ähnelt, die Höhn dann ab 1956 an der Akademie für Führungskräfte in Bad Harzburg vermittelte, die hunderttausende westdeutsche Führungskräfte durchliefen.

Ein Führerprinzip, wie es Höhn schon bei Scharnhorst theoretisch vorbereitet und dann im preußischen Heer im 19. Jahrhundert umgesetzt sah: Den alten friderizianischen Spießrutengehorsam löste Scharnhorst durch eine neue Befehlsstruktur ab, die die Verantwortung auf die unteren militärischen Hierarchieebenen delegierte. Die obersten Befehlshaber gaben nur noch das Ziel der Operation aus. Die unteren Chargen mussten dann selbst entscheiden, wie sie das Ziel erreichten.

Was der 1806 so blamabel unterlegenen preußischen Armee tatsächlich eine höhere Flexibilität und Schlagkraft verlieh und sie fortan alle wichtigen Kriegszüge gegen Dänemark, Österreich und Frankreich gewinnen ließ und den enormen Dünkel der preußischen Offizierskaste begründete, die ja auch im Ersten und im Zweiten Weltkrieg den Kern der Kommandostrukturen bildete. Denn die hatte diese Art der modernen Unterordnung geradezu verinnerlicht.

Die Verantwortung dafür, ob ein Angriff gelang, landete ganz weit unten bei den Unteroffizieren und Soldaten, die jetzt nicht nur ihren Kopf hinhielten, sondern auch noch die Verantwortung dafür trugen, wenn ein Angriff scheiterte.

Oder ein Krieg. Manches von diesen seelischen Dramen, die nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg die Politik in der jungen Weimarer Republik bestimmte, wird begreiflich, wenn man das weiß. Das hatte Höhn schon sehr gut verstanden, wie Scharnhorsts Kunstgriff funktionierte. Und warum sich viele der Weltkriegssoldaten verraten fühlten und entsprechend bereit waren, die „Dolchstoßlegende“ zu akzeptieren, die Generalität aber nicht ansatzweise ein Bewusstsein für Schuld und Verantwortung zeigte. Eigentlich genau dasselbe wie 1945.

Und das alles, weil dieses preußische Führungsprinzip auch noch mit einem Moment arbeitete, den die Betroffenen tatsächlich als persönliche Freiheit auffassen konnten, nämlich die Entscheidungsfreiheit, wie sie einen Befehl umsetzen. Sie wurden aus unselbstständigen Befehlsempfängern quasi Teil der großen Sache, egal wie klein ihr Entscheidungsbereich war, sie identifizierten sich mit ihrer Einheit, der Armee, der Fahne. Was dann auch die vielen Kriegervereine mit ihrem lebenslangen Stolz aufs Uniformtragen und Marschieren erklärt.

Obwohl diese Freiheit immer das Gegenteil war. Und genau dieser Freiheit begegnet man in Höhns Schriften in der Nazi-Zeit wieder. Denn da sie einen Krieg mit begrenzten heimischen Ressourcen führen wollten, waren die Nazis darauf angewiesen, dass sich nicht nur ihre Führer auf allen Ebenen mit der Sache identifizierten, sondern auch die Arbeiter in den Fabriken.

Leistungsbereitschaft, Produktivität und Effizienz

Die in rasendem Tempo vollzogene Aufrüstung des NS-Reiches ist genau deshalb auch erklärlich. Und sie fasste sich auch damals schon in Begriffen wie Leistungsbereitschaft, Produktivität und Effizienz. Das Wort „Menschenmaterial“ begegnet uns heute wieder im Wort „Humankapital“. Und natürlich haben das alles nicht erst die Nazis erfunden.

Das ist der eher essayistisch gestaltete Teil von Chapoutots Buch, in dem er skizziert, wie die modernen Managementmethoden, die dann Höhn in Bad Harzburg quasi zum gültigen Arbeitskodex westdeutscher Führungskräfte ausformulierte, schon mit Ende des 19. Jahrhunderts in den führenden Industriestaaten entwickelt wurden – teilweise auch, um der erstarkenden Gewerkschaftsbewegung den Boden zu entziehen.

Denn wenn es gelingen sollte, die Industriearbeiter quasi zu direkten Verantwortungsträgern des Erfolgs eines Unternehmens zu machen, würden sie sich zehnmal überlegen, ob sie bei Streiks mitmachten. Ein Prinzip, das heute in den USA noch mit „Erfolg“ praktiziert wird, das aber in deutschen Unternehmen nicht unbekannt ist.

Auch wenn das Denken, wie es Höhn ab 1956 an die westdeutsche Führungselite vermittelte, seit den 1970er Jahren in die Kritik geraten ist. Denn so modern es klingt, die Belegschaft über die Delegation von Verantwortung am Erfolg des Unternehmens zumindest mental zu beteiligen, so fatal waren und sind teilweise noch die Folgen. Denn die Führungskräfte delegieren zwar Aufgabenerfüllung und Verantwortung – aber die permanente Kontrolle der Umsetzung und der Ergebnisse durch die Vorgesetzten ist zentraler Bestandteil dieser Doktrin.

Mit Auswüchsen wie der permanenten Bespitzelung des Personals, Kameraüberwachung, der Anlage von Akten mit den „Verfehlungen“ der Angestellten, die dann bei Entlassungen als Druckmittel verwendet werden können, der Erwartung von Mehrleistung und dem unsichtbar immer gegenwärtigen Druck, stets höchste Leistungsbereitschaft zu zeigen. Die Psychotherapeuten unserer Gegenwart können ein Lied davon singen.

Denn auch wenn Höhns Akademie in die Kritik geriet und nicht mehr als das Nonplusultra der deutschen Management-Ausbildung gilt, haben die Prinzipien dieses „Managements durch Verantwortungsübertragung“ bis heute überlebt und haben mit dem Aufkommen des Neoliberalismus ein regelrechtes Comeback erfahren. Worauf Chapoutot nicht extra eingeht. Aber die Statistiken der Krankenkassen zu seelischen Erkrankungen im Berufsleben sprechen eine klare Sprache.

Die Widersprüche dieser (Nicht-)Führungs-Kultur führen nicht nur zu Paradoxien in der Unternehmensführung.

„Diese Häufung von Widersprüchen scheint konstitutiv zu sein für eine ganz und gar reale, wortwörtliche Perversion: Das Harzburger Modell wie die ihm innewohnenden Methoden eines Managements durch Zielsetzung beruhen auf einer fundamentalen Irreführung, indem sie die Angestellten oder Untergebenen von einer versprochenen Freiheit in eine sichere Entfremdung abschieben – zur größtmöglichen Entlastung der Führung, die nicht mehr allein die Verantwortung trägt für ein mögliches oder tatsächliches Scheitern“, schreibt Chapoutot.

Denn dieser Umgang mit den Leuten „führt unweigerlich zu einer entfremdeten Arbeit, deren psychosoziale Symptome allzu bekannt sind: Angst- und Erschöpfungszustände, ,Burn-out‘ sowie das ,Bore-out-Syndrom‘, diese Form der ,Inneren Kündigung‘, der Höhn, auch mit 79 Jahren noch auf der Höhe der Zeit, 1983 zwei wegweisende Werke gewidmet hat.“

So lange geht das also schon …

Und recht belastbar erzählt Chapoutot davon, wie gerade diese in der Nazi-Zeit perfektionierte Methode der Führung nach dem Krieg direkt im deutschen Wirtschaftswunder sofort wieder eingesetzt werden konnte und die leistungsbereiten Arbeiter und Angestellten dazu brachte, ein Maximum an Einsatzbereitschaft zu erbringen, um die Wirtschaft wieder zu Höchstleistungen zu tragen.

Da und dort deutet er an, dass das zwar eine ganz spezielle deutsche Schule war. Aber Managementschulen in Frankreich, den USA oder der Schweiz entwickelten ganz ähnliche Führungsmodelle. Denn natürlich stimmt auch der Vergleich, den Chapoutot zieht: Das NS-Reich sollte funktionieren wie ein modernes Unternehmen. Und moderne Unternehmen sollen funktionieren wie straff geführte Armeen, in denen die Oberbefehlshaber nur noch die Richtung vorgeben, die unteren Hierarchieebenen aber für die Umsetzung der Direktiven zu sorgen haben.

Der Druck des Erfolgs wird von oben nach unten delegiert. Und während man sich oben mit Boni und üppigen Gehältern belohnt, gilt unten ein straffes Kontroll- und Bestrafungssystem. Wer die erwartete Leistung nicht bringt, fliegt. Die Angst ist immer gegenwärtig, egal, wie mies bezahlt der Job am Schalter ist.

Etwas, was vollkommen der politischen Liberalität widerspricht, die eigentlich als Grundlage unserer Demokratie behauptet wird. „Unsere Gesellschaften haben sich angewöhnt, das ,Management durch Angst‘ und die nahezu vollständige Entfremdung des zum schlichten ,Produktionsfaktors‘, zur puren ,Humanressource‘ oder zum ,Produktivkapital‘ reduzierten Individuums mit der ,Globalisierung‘ und dem aus ihr resultierenden Konkurrenzdruck zu erklären oder zu rechtfertigen“, schreibt Chapoutot.

Aber da kann er auf jüngere Studien verweisen, die zeigen, dass das „Harzburger Modell“ noch in der jüngeren Gegenwart in einigen durchaus berühmten deutschen Unternehmen angewendet wurde, dass es also in manchen Unternehmen geradezu „Unternehmenskultur“ ist und zahlreiche Managements es zutiefst verinnerlicht haben, dass man mit Angestellten derart rücksichtslos umgehen darf.

Wenn solche Führungsmodelle über die „Globalisierung“ wieder usus werden, ist das quasi nur das Wiederaufleben eines alten, letztlich von Kontrolle, Misstrauen und Überwachung geprägten Führungsdenkens, das im Grunde nur ein Ziel hat: die Beschäftigten zu maximalster Leistung anzutreiben, ohne dass sie dem Dauerdruck entfliehen können. Mit der sogar offen propagierten Erwartung, dass sich die derart Angetriebenen mit ihrem Betrieb und ihrer Arbeit vollkommen identifizieren (was dann meist hinter all den verlogenen Team“-Kampagnen steckt).

Die Menschen identifizieren sich, werden manchmal geradezu zu frenetischen Verteidigern ihrer grandiosen „Arbeitgeber“ – aber letztlich bezahlen sie dafür mit dem Verlust ihrer Individualität, sie opfern sich quasi freiwillig den immer weiter steigenden Leistungsanforderungen ihres Unternehmens, ohne zu wissen, wo das hinführen soll und wo die Grenze der Anforderungen ist, „da die Arbeitskraft, das Humankapital und das ,Menschenmaterial‘ nur dann vollkommen effizient und rentabel sein konnten, wenn sie frei und glücklich, selbstbestimmt und initiativreich waren – oder zumindest die Illusion hatten, es zu sein.“

Führungskultur, Militarismus und Schlachtfelder

Skizzenhaft deutet Chapoutot auch noch an, wie sehr diese Art des Führungsdenkens noch immer dem Denken in militärischen Kategorien ähnlich ist, was man oft genug auch noch am kriegerischen Vokabular in Unternehmensmeldungen und Börsenberichten merkt. Denn das Denken dahinter ist nach wie vor ein kriegerisches, das selbst dann in den Kategorien eines Wirtschaftskrieges agiert, wenn die Staatslenker gerade mal keinen Handelskrieg gegen andere Länder ausgerufen haben.

So sieht die Weltwirtschaft eben leider auch aus derzeit: Es ist ein einziges Schlachtfeld. Aber bevor wir den Rahmen des Buches ganz sprengen, stoppen wir an dieser Stelle. Denn das ist ja die Stärke dieser Skizze: Dass Chapoutot zeigen kann, dass auch das Führerprinzip des Faschismus dem Kapitalismus selbst nicht fremd ist und dass die Entwicklung moderner Armeen mit ihrer Delegierung der Verantwortung an den einzelnen im Gefecht stehenden Soldaten im Grunde parallel ablief zur Entwicklung heutiger Führungsstrukturen in großen Unternehmen, wo man das Prinzip der Verantwortungsdelegierung immerfort verfeinert hat.

Bis die mies bezahlten Angestellten am Ende der Kette gar nicht mehr merkten, wie ihnen die ganze Verantwortung aufgehalst wurde – ohne gerechte Vergütung, dafür mit einer immer mehr perfektionierten Kontrolle, die von vielen Beschäftigten derart verinnerlicht wurde, dass sie nur zu bereit sind, sich auch noch in ihrer Freizeit kontrollieren und konditionieren zu lassen.

Man ahnt, warum auch Chapoutot an der Stelle lieber einen Punkt gesetzt hat, denn die Erforschung dessen, was in der heutigen deutschen Wirtschaftswelt aus der Perfektionierung der Führungsmodelle aus Höhns Zeiten geworden ist, hätte sein Buch völlig gesprengt. So macht es aufmerksam auf etwas, was wir für gewöhnlich nicht sehen und schon gar nicht in Verbindung bringen mit dem sonst kaum verständlichen Erfolg der Nazis.

Ein ungemütlicher Gedanke. Aber ein störend wichtiger.

Johann Chapoutot Gehorsam macht frei, Propyläen, Berlin 2021, 22 Euro.

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