Eigentlich – so erzählt Svetlana Lavochkina im Vorwort – sollte die Geschichte der roten Herzogin ursprünglich Teil ihres Romans „Puschkins Erben“ werden. Aber dann drohte sie den Roman zu sprengen: nicht teamfähig, zu eigensinnig, zu brutal. Schreibt Svetlana Lavochkina. Aber wie kann ein Roman über das Jahr 1932 im Reich Stalins nicht brutal sein? Erst recht, wenn man mit diesem Roman im ukrainischen Saporischschja (Zaporoschje) landet, einer jene Städte, die jetzt wieder von Putins Truppen bedroht sind.

Die russische Tradition der Satire

Es steckt auch ein trauriges „Hört das denn nie auf?“ in diesem Buch, auch wenn es Svetlana Lavochkina schon 2018 veröffentlicht hat, auf Englisch als „Dam Duchess“ in den USA. Denn Englisch ist die Autorensprache der gebürtigen Ukrainerin, die mit ihrer Familie in Leipzig lebt und vor allem als Übersetzerin arbeitet.

In diesem Fall hat sie freilich selbst wieder eine begnadete Übersetzerin zur Seite, die ihren Text aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hat: Diana Feuerbach, die in ihrem Roman „Die Reise des Guy Nicholas Green“ 2014 ihre eigene Liebeserklärung an die ukrainische Hafenstadt Odessa geschrieben hat.

1932 – das war in der Ukraine das Jahr des Holodomor, der riesigen Hungersnot in Gefolge der von Stalin angeordneten zwangsweisen Kollektivierung der Landwirtschaft, der in der „Kornkammer Russlands“ Millionen Menschen zum Opfer fielen. In einigen Szenen, die man beinah überliest, schiebt sich diese Tragödie motivisch hinein.

Fast überlesbar, weil Svetlana Lavochkina die Klaviatur der großen russischen Romanliteratur beherrscht wie derzeit in Deutschland keine zweite. Eine Literatur, die alle Schrecken, alle Verbitterung und Trauer hinter einem Stil versteckt, der auf den ersten Blick burlesk wirkt, satirisch bis zur lässigen Übertreibung. Wer Gogol kennt, wird sich wie zu Hause fühlen. Es ist die große russische Tradition der bitterbösen Satire, in der Lavochkina schreibt.

Wenn Menschenleben nichts mehr wert sind

Eine Satire, die ja nach dem Sturz des Weißen Zaren munter weiter ging. Denn am Umgang der neuen Herren mit dem gemeinen Volk hat sich nach der Inthronisation des Roten Zaren ja nicht wirklich viel verändert. Die alte Elite wurde durch eine neue Funktionselite ersetzt. Und die benahm sich schon zu Majakowskis und Bulgakows Zeiten genauso rücksichtslos wie der Adel, den man aus dem Land gejagt hatte. Sogar noch rücksichtsloser.

Auf Menschenleben wurde beim Bau all der riesigen „sozialistischen“ Vorzeigeprojekte keine Rücksicht genommen. Auch beim Bau des Dnepr-Staudamms bei Zaporoschje 1932 nicht, der im Zentrum dieser Erzählung steht. Exemplarisch für die Zeit. Auch Platonow-Leser dürften sich in dieser Erzählung wie zu Hause fühlen. Oder vielleicht besser formuliert: sich genauso verstört fühlen.

Denn auch „Die rote Herzogin“ erzählt vom stupenden und menschenverachtenden Stalinismus, auch wenn Darja Katz, vor der Revolution eine Herzogin Woronchina, hier anfangs in die scheinbar mächtige Position der Personalchefin und Propagandistin des Dnepr-Projekts kommt, Herrin über Personalakten und Beförderungen.

Und damit auch über die Leben der am Staudamm Arbeitenden, einer wachsenden Schar Heimatloser, des Strandguts der Revolution – einstige Adlige, Popen, Offiziere, Kriminelle und Bauern, die versuchen, dem Hunger zu entkommen und am Staudamm regelrecht verheizt werden. Kein Tag ohne Todesfall. Die Verpflegung eine Katastrophe, das Leben in den Baracken eigentlich unzumutbar.

Das falsche Versprechen der Gleichheit

Nur für den aus den USA importierten Chefingenieur Winter hat man extra ein Blockhaus aus dem Katalog hingestellt. Während Darja mit ihrem Mann, dem Bauleiter Caim Katz, mehr oder weniger in einer besseren Baracke lebt und ihren Körper nur zu bereitwillig hergibt, wenn es um persönliche Vorteile geht. Auf den ersten Blick: wieder eine burleske Geschichte, ganz im Stil von Ilf und Petrow. Eine Geschichte aus dem jungen, proletarischen Russland, in dem Standesunterschiede nicht mehr gelten und jeder alles werden kann.

Wäre da nicht die immer gegenwärtige Angst. Denn das Versprechen ist eine Lüge. Die Vergangenheit hängt jedem Einzelnen an, ist in seiner Akte vermerkt und kann jederzeit gegen ihn – oder sie – verwendet werden. Und wurde es auch, wie die Stalinschen Verfolgungen der 1930er Jahre ja auch zeigten.

Scheinbar ist Darja allmächtig, kann sich im Laden Dinge bestellen, die sich sonst kein Arbeiter leisten kann. Ein Weihnachtsfest, zu dem sie sich sechs Auserwählte aus dem Lager einlädt, wird zum makabren Höhepunkt, dem letzten Aufglimmen ihres Traums von Glanz und Würde. Während ihre Ehe schon längst in die Brüche gegangen ist. Denn eigentlich verachtet sie diesen Chaim, der auf seine Weise ja das Leben eines Verkleideten spielt, eines doppelt Verkleideten durch seine selbstgewählte Taufe durch einen eifrigen Popen, die ihm erst seinen Aufstieg zum Techniker und Bauleiter ermöglichte.

Doch schon seine Ernennung zum Bauleiter durch Stalin ist von der allgegenwärtigen Angst geprägt. Würde er scheitern, wäre ihm das Erschießungskommando sicher. Was ja ein guter erzählerischer Ausgangspunkt wäre: Wie entkommt dieser Bursche der Angst und dem NKWD? Schafft er es am Ende? Wird das ein Triumph?

Wenn der Mensch keine Würde mehr hat

So könnte man die Geschichte vielleicht in Deutschland erzählen, wo sich so viele Leute richtig viel Mühe geben, den Absturz in die Unmenschlichkeit in der NS-Zeit zu verklären, zu verharmlosen und die Angst zu negieren, die moderne Diktatoren zu schüren wissen. Eine Angst, mit der sie Demokratien morsch machen und die Diktatur wieder salonfähig. Denn Untertanen lieben die Angst, den Befehl und die Unverantwortlichkeit.

In diesem Mechanismus sind alle Diktaturen gleich. Und alle Populisten ebenso. Doch wie lange erträgt das ein Volk? Wann verzweifelt es? Wann wehrt es sich?

Die Wahrheit ist wohl: Es wehrt sich nicht. Denn die Angst kennt viele Diener. Sie ist die Waffe der Feiglinge. Und wer die großen russischen Romane über diese Zeit kennt, der weiß, mit welcher spöttischen Pose die großen und kleinen Helden darin auf die Wertlosigkeit allen Lebens schauen. Denn wo die Tausende und die Millionen egal sind und das einzelne Schicksal nicht zählt, ist der Tod billig und allgegenwärtig.

Svetlana Lavochkina hat ihre Erzählung gefüllt mit solchen Menschen, Verfemten, Entwurzelten, über sich selbst nicht mehr Bekümmerten. Denn darin, dass ihnen alle Sicherheit genommen ist, sind sie alle gleich. Die Bauern, die verhungert auf den Perrons des Bahnhofs liegen, die Roma, die vom NKWD bei Nacht und Nebel nach Sibirien verfrachtet werden, Chaim, der Jude, den selbst seine eigenen Arbeiter verachten. Der armenische Händler, der gegen Schmiergeld alles heranschaffen kann, was Darja sich wünscht – aber nur auf kriminellen Wegen.

In einem Land, in dem keiner mehr seines eigenen Glückes Schmied sein darf, ist alles potenziell kriminell. Ein Anruf beim NKWD genügt, und selbst die eben noch in ihrem kleinen Glanz tanzende rote Herzogin wird samt ihren Tänzern abgeholt, erschossen und in der Baugrube verscharrt.

Das Drama einer entgleisten Vision

Und weil er nicht aufgepasst hat, geschieht Chaim Katz am Ende dasselbe. Und nicht einmal die Ganoven, die Darja angezeigt haben, haben etwas davon. Neid verwandelt sich in Rache. Aber übrig bleiben nur kleinliche Begierden. Für Größe und Menschlichkeit ist in diesem Reich des institutionalisierten Misstrauens kein Platz.

Und dabei ist das nur die Ouvertüre, der blutige Auftakt für das, was aus diesem Land und seinen Menschen einmal werden sollte – das bedrückende Drama einer völlig entgleisten Vision, in der gerade das auf der Strecke blieb, was eigentlich mal das Herz der Revolutions-Träume gewesen war.

Der Dichter Ossip Mandelstam, der 1938 in einem Lager in Sibirien starb, wird von Darja noch direkt zitiert. „Puschkins Erben“ handelt ja viele Jahrzehnte nach dieser Erzählung. Aber da haben sich Korruption, Egoismus und Schwarzhandel längst etabliert. Sie sind zur Seele jener Sowjetunion geworden, die am Ende gar nicht unterging, obwohl sie abgeschafft wurde.

Da hat auch Michail Gorbatschow die alten Geister unterschätzt, die Stalin nicht nur aus der Flasche gelassen hat, sondern in die Köpfe der Menschen gebannt. Wer mit den Mächtigen tanzen wollte, musste bereit sein, für sie auf den Tischen zu tanzen und auch seinen Nächsten zu verraten.

Jeder ist sich selbst der Nächste. Und die Wahrheit ist: So bitter und voller Sprachwitz hat kein deutscher Autor je über den Faschismus geschrieben. Was einen schon nachdenklich macht. Haben wir keinen Humor? Oder trauen wir uns nicht, weil dann jedes Mal die ganzen Jammerlappen wieder herumheulen, deren Urgroßeltern natürlich damals nie dabei gewesen sind? Oder nehmen wir uns zu ernst, tun nur zu gern so, als könnten wir uns nicht so schäbig benehmen wie diese Gestalten in Svetlana Lavrochkinas Erzählung, wir „Dichter und Denker“?

Einbildung ist ja bekanntlich auch eine Bildung – nämlich die, die die meisten Leute nur zu gern auf die Straße tragen, wenn sie ihr kleines Freiheitchen auch nur angekratzt fühlen.

Die Phrasen der Macht

Denn das ist ja das Erstaunliche: Dass gerade diese spöttische, von bitterbösem Sarkasmus getragene Literatur der Bulgakow, Pilnjak, Sostschenko von einer stillen und menschlichen Größe erzählt, die man in unserer deutschen Literatur sehr selten finden. Schon gar nicht mit dieser fröhlichen Flapsigkeit, mit der auch Lavochkina erzählt. Einer Flapsigkeit voller Bilder, Ironie, unverbrauchtem Spott über die steifen Phrasen des Soz-Sprech, die sich im armseligen und geschundenen Alltag im Lager selbst verraten in all ihre Leere und Verlogenheit.

Nur dass Lavochkina das ganz unangestrengt einfließen lässt, als wäre das ganz mühelos, die Phrasen in der Wirklichkeit aufzulösen, Darja agieren zu lassen wie einst ihre Vorfahren, wenn sie die „Leibeigenen auf ihren Feldern“ überwachten. Nur dass für jeden ihrer neuen Leibeigenen jetzt eine „Akte im Personalleiterschrank steht“.

Es liest sich so leicht, so burschikos, dass man fast überliest, was für eine Trauer in dieser Geschichte steckt. Denn nicht umsonst hat sich ja „Die rote Herzogin“ gewehrt, einfach in „Puschkins Erben“ aufzugehen. So wehrt sich eine Geschichte, die allein erzählt werden will. So meldet sich ein altes Trauma zu Wort. Eine alte Geschichte, die mit der offiziellen Geschichte des Dammbaus nichts mehr zu tun hat.

Denn die offiziellen Geschichten sind Erfindungen für eine Presse, die mit jeder Oberflächlichkeit zufrieden ist. Die lieber über amouröse Verwicklungen schreibt als über die Finsternisse der Macht. Einer Macht, der völlig egal ist, was einer geleistet hat. Sie ist immer selbstgerecht und fühlt sich zum Wächter erkoren über die Fehlbarkeiten der Menschen. Sie versteckt es nicht einmal. Auch in den heutigen Diktaturen ist das alles offen sichtbar. Und macht gerade deshalb so wütend und ratlos, weil es aus Menschlichkeit nicht zu erklären ist. Nur aus Bosheit, Gefühlskälte, völliger Verleugnung im Gehorchen.

Aber wie schreibt man darüber, ohne zu verzweifeln? Wahrscheinlich genau so am besten, wie es Gogol schon in den „Toten Seelen“ und im „Revisor“ vorgemacht hat. Und wie es Lavochkina hier tut, scheinbar ganz abgebrüht. Hat eben Chaim Katz mit seiner Sanftmut nur nicht mitbekommen, „welche Schlange er an seinem Busen genährt hat“.

Oja: Die scheinheiligen Phrasen der Mächtigen sind unter uns und stecken in unserer Sprache. In der Sprache aller Völker, denn alle haben solche Vergangenheit hinter sich. Manche stecken mittendrin.

Die langen Folgen der Herzlosigkeit

Und Scheinheilige haben wir auch noch zuhauf. Es steckt auch eine gewisse literarische Wut auf diese Scheinheiligen in diesem Text. Gerade in dem, wie Lavochkina ihre Personage miteinander reden lässt. Chaim Katz wird für seine Sanftmut erschossen, Darja für ihre Lust am Leben und Lieben.

Also beide für das, was eigentlich Menschlichkeit ausmachen sollte. Und was zum Gespött wird in einer Gesellschaft, in der Geheimdienste und Bürokraten definieren, wie jedes Rädchen zu funktionieren hat. Es ist auch eine Geschichte über das geworden, was diese alte Herzlosigkeit aus dem Land und den Menschen darin gemacht hat. Und das ist nicht vergangen. Sonst könnte Svetlana Lavochkina so nicht erzählen.

Scheinbar erzählt sie abgebrüht und lustvoll darüber, was ihren Figuren passiert. Aber tatsächlich kann auch dieser herrliche Sprachwitz nicht darüber hinwegtäuschen, wie nah ihr die Schicksale ihrer Figuren gehen, auch wenn keine einzige davon sich heldenhaft benimmt.

Denn möglich ist in so einer Welt nur falsches Heldentum, Funktionärsheldentum. Gefeiert bis zur nächsten Erschießung. Platz für Menschlichkeit ist da keine. Jede menschliche Regung kann bestraft und kriminalisiert werden. Das wollte wohl endlich raus und nicht einfach nur Fußnote sein in „Puschkins Erben“. Weil es eben nicht abgegolten ist. Vergessen auch nicht. Denn das wollen die Eisigen ja nur: Dass die Menschen vergessen und beim nächsten Mal wieder kuschen, wenn die Herren mit den eisigen Augen kommen.

Kein Buch für brave Kinder. Ganz bestimmt nicht.

Svetlana Lawochkina Die rote Herzogin, Voland & Quist Verlag, Dresden 2022, 20 Euro.

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