Worte sollte man genau verwenden und genau so, wie sie auch gemeint sind, findet der Professor für Kunstgeschichte Jörg Scheller, dem nach all den wilden Debatten um vermeintliche Privilegien in den letzten Jahren die Hutschnur platzte. Nicht etwa, weil „Weiße“, Männer oder wer auch immer mit seinen „Privilegien“ angeprangert wurde, nicht von den Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft profitierten. Sondern, weil das Wort Privileg die ganze Debatte in die Irre führt.

Weil aber über die diffuse Verwendung des Wortes so gut wie nie diskutiert wird, nimmt sich Scheller in diesem Buch richtig viel Raum und Zeit, das Problematische an dieser um sich greifenden Verwendung des Wortes für alles Mögliche zu erläutern.

Und natürlich auch darauf einzugehen, was Privileg einmal bedeutete in Zeiten, als Mächtige solche Sonderrechte aus eigener Willkür verteilen konnten. Aber auch wieder entziehen. Was augenscheinlich den meisten so heftig um Privilegien Diskutierenden gar nicht bekannt ist, weil sie die historische Dimension völlig ausblenden.

Denn Privilegien sind nur dort ein wirksames Mittel, wo die meisten Menschen so gut wie keine Rechte haben, auch keine Grundrechte und schon gar keine Freiheiten. Also in klassischen Autokratien.

Wer das negiert, negiert die ganze Geschichte der modernen Revolutionen, der Demokratie mit ihrer Gewährleistung grundlegender Freiheiten für alle ihre Bürger ohne Ausnahme und die Erfolge des Liberalismus, der ja genau mit dieser Intention angetreten ist: Nicht nur die alten Privilegien abzuschaffen, sondern auch die Systeme, in denen Sonderrechte willkürlich von den Mächtigen verteilt werden konnten.

Wer maßt sich eigentlich welches „Wir“ an?

Wenn man erst einmal diese Klarheit geschaffen hat, wird nämlich erst deutlich, dass es bei den meisten so kritisierten Erscheinungen eben nicht um Sonderrechte geht, die einzelnen Menschengruppen verliehen wurden, sondern um echte Ungerechtigkeiten, Machtmissbrauch und Benachteiligung.

„Was mit der Kritik, bestimmte Gruppen verfügten über ‚Privilegien‘, in vielen Fällen gemeint ist, sind nicht ‚Privilegien‘ als Vorrechte, sondern schlicht die selektive und tendenziöse Anwendung des Rechts beziehungsweise die Ignoranz gegenüber jenem Recht, das formal, auf dem Papier, für alle Menschen gleich ist“, schreibt Scheller.

Und besonders kritisierenswert findet Scheller die Undifferenziertheit der Debatte, die selbst wieder Ungerechtigkeiten produziert und Bilder erzeugt, die mit der vorgefundenen Realität nicht viel zu tun haben. Was er zum Beispiel an einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier deutlich macht, der nach Putins Angriff auf die Ukraine geradezu in ein Versagenspathos abtauchte, in dem er ein imaginäres „Wir“ des immer neuen Versagens bezichtigte.

Da fragte sich nicht nur Scheller: Welches „Wir“ meint der Mann eigentlich? Warum tut er so, als wären auch noch alle anderen Deutschen mitbeteiligt am Versagen einer kleinen Gruppe von Politikern und Lobbyisten, die weder Putins Aggressionswillen sehen wollten noch die extreme Abhängigkeit von russischem Gas, mit dem Deutschland auf einmal so erpressbar war?

Es ist nur ein Beispiel von vielen, mit denen Scheller deutlich macht, wie sehr die Konstruktion von vermeintlichen „Privilegien“ mit der Konstruktion scheinbar homogener Gruppen zu tun hat. Wobei das eine das andere beflügelt, denn Politiker wie Steinmeier sind ja nur zu sehr geneigt, von einem imaginären „Wir“ zu reden.

Derselbe Topos ist ja von Angela Merkels „Wir schaffen das“ in Erinnerung. Und auch damals, als sie das sagte, fragten sich eine Menge Leute: Wen meint sie eigentlich damit? Ihr Kabinett arbeitsunwilliger Minister? Die Freiwilligen draußen im Land, die sowieso schon aus Menschlichkeit halfen? Die Beamtenapparate?

Konstruierte Menschengruppen

Jedes konstruierte „Wir“ hat seine Tücken. Und eigentlich sollten das ausgerechnet all jene, die sich in der Feminismus- und der Antirassismusdebatte engagieren, nur zu genau wissen. Denn sie haben es von Anfang an mit Leuten auf der anderen Seite zu tun, denen das Konstruieren von „Rassen“, Feindbildern und Opfergruppen zentrales Anliegen ist.

Wir würden schlicht nicht über „Schwarze“ und „Weiße“ reden, wenn Rassisten nicht angefangen hätten, Menschen nach ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben, ihrem Anderssein zu sortieren und auszugrenzen. Wer diese Konstrukte übernimmt, spielt eigentlich das Spiel der Rassisten und Ideologen mit – und zwar nach ihren Regeln.

Man merkt schon, wie sauer das Scheller aufstößt: „Wer Menschen nur als passive Opfer adressiert, diskriminiert sie umso mehr.“ Und er geht auch sehr dezidiert auf den Individualismus ein, den es nun einmal nur in einer freien Gesellschaft geben kann.

Wo dann gleich wieder das nächste Missverständnis steckt, wenn von Gleichheit die Rede ist und darunter eine Gleichmacherei verstanden wird, wie sie in autoritären Regimen die Norm ist. Während Gleichheit in einem Rechtsstaat gerade das Gegenteil meint: das gleiche Recht für alle zur Entfaltung der eigenen Individualität. Was jeder draus macht, ist dann seine Sache.

Auch dann, wenn die Menschen mit unterschiedlichen Talenten und sozialen Voraussetzungen ins Leben starten. Aber das sind keine Privilegien, betont Scheller immer wieder. Auch dann nicht, wenn man als „Weißer“ dann deutlich weniger Diskriminierung erfährt und als Mann deutlich weniger benachteiligt wird als Frauen.

Auf einmal wird dann nämlich sichtbar, dass es Strukturen sind, die Menschen benachteiligen. In Strukturen manifestieren sich immer Macht-Ungleichgewichte, egal, ob die über Korruption, Lobbyismus oder Geld durchgesetzt werden.

Es geht immer um konkrete Verhältnisse

Und spätestens da darf man dann bemerken, dass es auch benachteiligte weiße Männer gibt, dass es weder die homogene Gruppe der Frauen gibt noch die der „Farbigen“. Da die Debatte aus den USA nach Europa geschwappt ist, stecken noch ganz andere Homogenisierungen darin, denn die us-amerikanische Gesellschaft ist ja nicht nur einfach in „Schwarze“ und „Weiße“ geteilt.

Nicht einmal die „Weißen“ bilden eine homogene Gruppe, setzen sich aus Zuwanderergruppen zusammen, die völlig unterschiedliche Erfahrungen bei der Einwanderung gemacht haben – Iren, Juden, Polen, Deutsche usw. Die amerikanische Gesellschaft ist viel differenzierter.

Und selbst die soziale Lage der „Weißen“ unterscheidet sich gravierend, wenn die einen den erfolgreichen WASP an der Ostküste angehören, andere den „working poor“, die sich mit mehreren Jobs durchschlagen müssen, in benachteiligte Viertel aufwachsen und ganz bestimmt keine „Privilegien“ genießen.

„Wenn Gleichheit irgendwie Gerechtigkeit meint und ein Vorrecht irgendwie das Gleiche ist wie ein Recht, fühlen sich alle Gruppen ermuntert, die Begriffe in ihrem Sinne als Instrumente für ihre Interessen zu gebrauchen“, schreibt Scheller. „Mit Entgrenzung ist nichts gewonnen, außer sinnlose und zermürbende Debatten darüber, was eigentlich gemeint ist.“

Und zurück zum oben zitierten Satz, der natürlich eine Fortsetzung findet: „Wer Menschen nur als passive Opfer adressiert, diskriminiert sie umso mehr. Diesen für Ice-T selbstverständlichen Aspekt muss man bei vielen linken Autoren oft mit der Lupe suchen, während ihn viele liberalkonservative oder libertäre Autoren, nun ja: privilegieren. Beide Ebenen gegeneinander auszuspielen, ist das Geschäft von Ideologen und Demagogen. Man kann es nicht oft genug wiederholen: relationieren, nicht relativieren, lautet das Gebot.“

Wer redet hier für wen?

Und deshalb findet er es geradezu inakzeptabel, wenn die fast immer aus akademischen Kreisen kommenden Autorinnen und Autoren, die über „Privilegien“ schreiben, auch in der scheinbaren Selbstanklage (“Check your Privilege!”)  als „privilegierte“ Gruppe ein diffuses „Wir“ verwenden, als sprächen sie gleich mal für die ganze „weiße“ Gesellschaft.

Als würden „alle Weißen“ auch gleichsam das „Privileg“ besitzen, studieren zu können, an berühmten Universitäten lehren zu können oder in Politik, Wirtschaft und Medien alle Führungsposten übernehmen zu können.

Genau da wird nämlich deutlich, dass auch die meisten „Weißen“ von solchen Karrieren nur träumen können, also im Sinn diese Debatten „unterprivilegiert“ sind. Obwohl sie in Wirklichkeit nur benachteiligt werden und sich den Status nicht erarbeiten können (oder wollen), aus dem herab sich dann so gut reden lässt.

Auf einmal wird deutlich, dass unsere Gesellschaft tatsächliche Ungerechtigkeiten beinhaltet, Machtstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen. Und auch, dass man ziemlich rücksichtslos (auch gegen sich selbst) sein muss, in einem derartigen System zu einem der „weißen Männer“ zu werden, die das Sagen haben.

Und nicht jede Ungleichheit ist auch eine Ungerechtigkeit, betont Scheller. Es gibt sehr viele Frauen und Männer verschiedenster Hautfarben, die so eine Karriere gar nicht machen wollen, die gar nicht reich und mächtig werden wollen, weil sie das abstößt.

Wer setzt den Maßstab?

Auch das ist eine Freiheit. „Nicht alle wollen große Macht“, schreibt Scheller, „denn große Macht korrumpiert.“

Was eben nicht ausschließt, dass eine Menge Menschen systematisch benachteiligt werden und keine reale Chance bekommen, ihre Wünsche und Talente im Leben zu verwirklichen.

Aber genau da muss man dann differenzieren, wie es Scheller fordert. Denn erst so bekommt man zu fassen, worin die konkrete Ungerechtigkeit tatsächlich besteht – und wie man sie vielleicht beseitigen kann. Aber das macht dann richtig Arbeit.

Das ist dann mit einer wortgewaltigen Anklage gegen „Privilegien“ nicht getan. Da geht es um reale Machtverhältnisse und um Leute, die alles dafür tun, dass Ungerechtigkeiten erhalten bleiben, weil sie davon profitieren.

Oder mit Schellers Worten: „In ihrer Grobschlächtigkeit eignet sie (die Rede von ‚Privilegien‘, d.Red.) sich nicht für ein vertieftes Verständnis der komplexen Herausforderungen und Probleme, vor denen liberaldemokratische und zunehmend pluralistische Gesellschaften heute stehen.“

Jörg Scheller (Un)check your Privilege, Hirzel Verlag, Stuttgart 2022, 19,90 Euro.

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