Es war vor und nach den Fußballweltmeisterschaften in Katar 2022 eine höchst peinliche Vorstellung, die auch der deutsche Fußballverband gab. Denn wenn es um große Sportereignisse geht, die in Autokratien und Diktaturen stattfinden, werden deutsche Sportfunktionäre immer sehr windelweich. Dann soll Sport bzw. Fußball mal eben nichts mit Politik zu tun haben. Das war auch 1978 so, als die Fußball-WM in Argentinien stattfand. Ein höchst aktueller Vergleich, fand Michael Bolten.

Er hat Politologie studiert, schreibt für mehrere Medien, hat mit Martin Krauß in den 1990er Jahren die Zeitschrift „Sportkritik. Die Zeitschrift gegen das Unentschieden“ herausgegeben und inzwischen fünf Bücher veröffentlicht, die alle „,mehr oder weniger um seinen Lieblingsverein Fortuna Düsseldorf kreisen“.

Dies ist sein erster Roman. Und auch der hat mit Fortuna Düsseldorf zu tun. Sein Held: der Jungstar Tommy Küpper, der 1978 so gut spielt, dass er es in den Nominierungskader für die Fußball-WM in Argentinien schafft. Eigentlich ein junger, sympathischer Kerl, der aber mit Politik, wie er selbst sagt, nichts am Hut hat. Den auch nicht wirklich interessiert, was die Militärjunta in Argentinien tatsächlich getan hat, wie viele Menschen sie auf dem Gewissen hat und wie sie nun mit der Fußball-WM versucht, ihr Image weltweit aufzupolieren.

Der Schatten des Deutschen Herbstes

Doch 1978 – das ist auch kurz nach dem Deutschen Herbst, in dem die Anschläge der RAF die Bundesrepublik in Atem hielten und sich nicht nur kluge Filmemacher/-innen die Frage stellten, was da eigentlich schiefgelaufen war und warum sich einige linke Gruppierungen derart radikalisieren konnten, dass sie nur noch mit Anschlägen und Entführungen glaubten, ihre Ziele erreichen zu können.

Ziele, die sie ja bekanntlich nicht erreicht haben. Im Gegenteil: Sie haben mit ihren Aktionen geradezu die Vorlage dafür geliefert, dass der Staat sich gegen „den Terrorismus“ aufrüstete und der „linke Terror“ mittlerweile zum Standardvokabular des konservativen Establishments geworden ist – angewendet ja seit Herbst 2022 auch gegen junge Leute, die sich aus Protest einfach auf die Straße kleben.

Aber darum ging es Bolten in seiner Geschichte nicht. Er fand die politischen Vorgänge um die Fußball-WM 1978 nur sehr vertraut, sah dasselbe Schema des Abwiegelns und Unpolitischseins, das auch 2022 bei der WM in Katar wieder zum Tragen kam. Und das macht natürlich ratlos, weil ja sichtlich nicht mal den sonst so ratschlagfreudigen Kommentatoren der großen Magazine ein Rezept einfällt, wie man Fußballfunktionäre zu einer einigermaßen anständigen politischen Haltung bewegen kann.

Also: Was tun?

Bolten interessierte dabei natürlich auch, wie die Menschen ticken, die in so einer Watte-Situation einfach beschließen, zum Beispiel eine Entführung zu planen und dabei glauben, genug Druck in der Öffentlichkeit aufbauen zu können, um ihre Forderungen erfüllt zu bekommen. Was in diesem Fall erst einmal drei scheinbar ganz friedliche und vernünftige Frauen aus dem linken Milieu tun. Zeichen setzen ist ja immer irgendwie gut. Oder doch nicht?

Wo sind die Grenzen des politischen Aktionismus?

Das ist eigentlich das Frappierende an der Geschichte, die Bolten fast dokumentarisch aufblättert, dass sich die drei Frauen nicht einmal Gedanken darüber machen, wie die Sache eigentlich ausgehen soll und was sie für seelische Verletzungen mit sich bringen wird. Sie beschließen die Entführung des aufgehenden Fußballtalents Tommy Küpper, finden ein Verlies, wo sie ihn für ein paar Wochen einsperren können, finden auch zwei tatkräftige Männer aus der linken Szene, die ihnen helfen. Und dann holen sie den jungen Mann einfach aus seiner Wohnung, mitten aus den Trainingsvorbereitungen. Denn Tommy hat sich wirklich reingehängt und sich in den engeren Auswahlkreis für die WM vorgearbeitet.

Einen ähnlichen Fall gab es 1978 zwar nicht in Deutschland, sondern in Frankreich. Aber das Schema ist durchaus nachvollziehbar. Und es wirft auch Fragen für die Gegenwart auf. Denn wie beginnt eigentlich die Radikalisierung von ansonsten klugen und vernünftigen Menschen? In diesem Fall Frauen, die ja eigentlich etwas Gutes wollen, aber irgendwie kein Problem dabei haben, das Leben eines Menschen in Gefahr zu bringen.

Die Diskussionen in der Entführergruppe, was sie dem jungen Man im Keller eigentlich antun und wie viel Gewalt zulässig ist oder nicht, beginnen ja erst später, als die deutsche Mannschaft längst in Argentinien kickt und die Polizei nicht einmal Anzeichen zeigt, auf die Forderungen der Entführer eingehen zu wollen. Die Sache droht also völlig aus dem Ruder zu laufen.

Die Würde des Opfers

Und dabei spielt Tommy mit, das auch noch, als er weiß, dass seine große Chance, in Argentinien dabei zu sein, längst vorbei ist. Auch der Bundestrainer sieht sichtlich keinen Grund, sich auf die Forderungen der Entführer in irgendeiner Weise einzulassen. Eine durchaus nervenzehrende Entwicklung, denn natürlich fiebert man mit Tommy und seiner Freundin Andrea mit. Die beiden haben ja auch noch eigene Pläne fürs Leben.

Während einem die fünf Entführer/-innen relativ fremd bleiben. Auch wenn die Frauen am Ende tatsächlich so etwas wie Gefühle zeigen für den Jungen im Keller. Sie sind es auch, die letztlich entscheiden, die Sache ohne Eskalation zu beenden. Auch wenn Michael Bolten für die Leser/-innen seines Buches am Ende noch eine ganz böse Überraschung in petto hat.

Denn der Deutsche Herbst war nun einmal auch von einer um sich greifenden Hysterie geprägt. Ein Begriff, der zwar aus guten Gründen als veraltet gilt. Aber im Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff – anders als in der medizinischen Begrifflichkeit – eben nach wie vor ein Verhalten, das überzogen ist, von Panik und falschen Ängsten befeuert, den tatsächlichen Vorgängen völlig unangemessen. Was Wikipedia eben nicht wirklich zu fassen bekommt. Irgendwie fehlt es dort an wirklich sprachsensiblen Autor/-innen.

Hysterie in diesem Sinn macht blind, fixiert nur noch auf etwas Bedrohliches, ob es nun tatsächlich da ist oder nur eingebildet ist. Und sie sorgt dafür, dass Menschen – und in diesem Fall Männer – völlig überreagieren. Von den heutigen Medien, die in diesem Sinne Hysterie regelrecht schüren, müssen wir da gar nicht erst reden. Auch wenn die Folgen ebenso zu beobachten sind. Denn wer immerfort Ängste schürt und die Gefahren übertreibt, bringt nun einmal auch all jene unter Handlungsdruck, die eigentlich besonnen und zurückhaltend agieren sollten.

Die Rolle der Medien

Und auch wenn man die Frauen, welche die Entführung von Tommy Küpper planen, nicht wirklich versteht in ihrer kühlen Planung der Entführung und der Auswahl ihres Opfers, reagieren sie am Ende, nachdem die Wochen des Wartens so gar keinen Erfolg zeitigten, dennoch überlegt. Sie sind es nicht, die die Geschichte blutig ausgehen lassen. Was natürlich die Frage nicht klärt, warum sie überhaupt so selbstverständlich auf eine Entführung als politisches Mittel verfallen sind.

Aber diese Frage steckt ja in der kompletten Diskussion um den Deutschen Herbst und vor allem die Entwicklung davor. Und sie ist sogar noch älter und hat auch eine Menge mit der medialen Darstellung von Gewaltphänomenen zu tun. Das wird meist vergessen. Und auch Bolten blendet es – bis auf einige ins Spiel gebrachte Nachrichtensendungen – aus.

Aber er bemerkt es zumindest, dass es die Medien sind, die das Stimmungsbild im Lande prägen – und zwar vor allem die bildgebenden Medien, das Fernsehen vorneweg. Ein Medium in diesem Fall, auf das die Entführer keinen Zugriff bekommen – und damit auch keine Wirkmächtigkeit. Und auch andere linke Gruppen solidarisieren sich nicht, helfen also ihrerseits nicht, den Druck zu verstärken. Was andererseits auch ein Zeitbild ist, denn die Kritik am Auftritt der deutschen Fußballmannschaft in Argentinien ließen damals DFB und Politik völlig von sich abprallen und damit ins Leere laufen.

Und Katar 2022 hat gezeigt, dass sich an diesen Mechanismen bis heute nichts geändert hat.

Und zu den Zielen der Entführer gehört ja in Boltens Buch auch, die Missstände in der argentinischen Militärdiktatur auch in den großen Medien anzuprangern. Doch da ihnen das nicht gelingt, ist ihre Geschichte letztlich eine des Scheiterns, auch wenn gerade die drei Frauen hocherhobenen Hauptes aus der Geschichte gehen, ihre Niederlage eingestehen und eben nicht versuchen, mit Gewalt irgendetwas zu erreichen.

Das hat niemand verdient …

Aber was bleibt dann eigentlich von einem politischen Anliegen, wenn man es nicht in der Öffentlichkeit thematisieren kann? Kein Gehör findet? Was natürlich schwerer ist, wenn das auch noch mit einer Entführung gekoppelt ist. Was richtet das an oder ist das zwangsläufig Teil einer Radikalisierung einer Bewegung, die sich an den Rand und ins Nichtwahrgenommenwerden abgedrängt sieht?

Das sind natürlich Fragen, die Bolten nicht beantwortet. Wie die drei Frauen ihr Leben nach dieser Geschichte weiterleben, erzählt er ja nicht mehr. Aber er lässt die Geschichte sehr menschlich ausklingen, wenn er eine der drei Frauen am Ende verzweifelt schluchzen lässt: „Nein, das hat niemand verdient. Niemand.“

Auf einmal liegt die Wunde ganz offen, das Mitgefühl der drei Frauen, die so nüchtern eine Entführung geplant haben und doch nicht aufgehört haben, Verständnis für ihre Mitmenschen zu zeigen. Augenscheinlich anfangs versteckt hinter der Logik einer politischen Aktion, die ihre menschliche Dimension erst im Nachhinein zeigt. Dann, wenn es zu spät ist. Was einem in Bezug auf scheinbar logische politische Aktionen durchaus zu denken gibt. Wo ist die Grenze? Wo sagt einem schon das Bauchgefühl: Hier ist Schluss?

Was übrigens nicht nur für die Aktivisten gilt. Sondern auch für all jene braven Bürger, die dann so schäumend nach Gewalt und „hartem Durchgreifen“ rufen. Und Innenministern, die dem nur zu gern folgen. Verbale Gewalt neigt nur zu gern zur Eskalation. Und endet dann fast immer in solchen Szenen, die Boltens Buch beenden, das jetzt vielleicht im Umkreis von Fortuna Düsseldorf viele begeisterte Leser findet, auch wenn es einen talentierten Fortuna-Profi namens Tommy Küpper nie gab.

Michael Bolten „Comando Cordobazo“, EINBUCH Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2023, 17,40 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar