Auch wenn in Leipzig in den letzten Jahren das Thema Zwangsarbeit immer öfter thematisiert wurde, ist dieses finstere Kapitel aus der NS-Zeit noch längst nicht umfassend aufgearbeitet. Das wird es wohl auch nie. Denn die Zeitzeugen sind mittlerweile fast alle tot. Und trotzdem ist es so dringend wie je, zu zeigen, wie die Profiteure des NS-Regimes Menschen in Zwangsarbeit ausnutzten. Auch in Leipzig. Vorneweg Konzerne wie die HASAG.

An die dort zur Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen gezwungenen Arbeiterinnen und Arbeiter aus insgesamt 28 Ländern erinnert seit 2001 die Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig, die mit diesem Buch auch den ersten Band einer eigenen Schriftenreihe herausgibt.

Er ist im Grunde so etwas wie eine Bilanz des Forschungsstandes zu den über 40.000 Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern, die hier in der Kriegszeit in Barackenlagern untergebracht und ausgebeutet wurden.

Die Nutznießer der NS-Politik

Das Wichtigste aber muss auch erwähnt werden – und darauf geht Josephine Ulbricht im ersten Beitrag in diesem Band „Der Rüstungskonzern HASAG“ – auch ein. Denn Zwangsarbeit ist nicht einfach so passiert. Vorher brauchte es nicht nur die Machtübernahme der Nationalsozialisten, sondern auch die bereitwillige Unterstützung der Nazis und ihrer Kriegsziele durch die Bosse der großen deutschen Konzerne.

Das wird so gern vergessen, wenn mit alten Wochenschaubildern Hitlers Hunde, Frauen und Brandreden gezeigt werden. Denn ohne Hitlers willige Helfer und Vollstrecker ist das Nazireich nicht denkbar.

Und die Bosse der großen Konzerne haben den Aufstieg der Nationalsozialisten von Anfang an unterstützt und standen allesamt Gewehr bei Fuß, als es darum ging, mit Rüstungsaufträgen richtig Geld zu verdienen.

Und unter der Leitung des HASAG-Geschäftsführers Paul Budin war die HASAG von Anfang an dabei, sich der Nazi-Führung anzudienen und zum Nutznießer der Aufrüstung zu werden, mit der die Hitlerregierung systematisch den Krieg vorbereitete.

Und als dann deutsche Truppen einmarschierten in Polen, war es Budin selbst, der sofort dabei war, sich in den eroberten Gebieten das erste zwangsverpflichtete Personal zu sichern – in diesem Fall polnische Arbeiter und Arbeiterinnen aus den polnischen Rüstungsbetrieben.

Wobei es nicht blieb, denn in den nächsten Jahren war die HASAG immer eifrig mit dabei, wenn es darum ging, sich billiges Personal für seine diversen Produktionsstandorte zu sichern, von mehr oder weniger zur Zwangsarbeit gezwungenen Niederländern, Tschechen und Kroaten bis hin zu kriegsgefangenen Menschen aus der Sowjetunion und den noch arbeitsfähigen Überlebenden aus dem Vernichtungsprogramm gegen Jüdinnen und Juden.

Das HASAG-eigene Lagersystem

In den folgenden Beiträgen wird dann recht detailliert gezeigt, wie das Repressionssystem der HASAG, die eng mit der SS kooperierte, funktionierte. Wie nicht nur ein eigenes Lagersystem errichtet wurde, sondern auch ein eigener Werkschutz, der sich vor allem in den Lagern im sogenannten Generalgouvernement auch systematisch an Schikanen und Tötungen beteiligte.

Es gibt auch einen Beitrag im Buch, der sich mit der späteren juristischen Ahndung der Verbrechen im HASAG-Konzern beschäftigt. Aber das Fazit ist ernüchternd. Nur wenige Täter und Täterinnen wurden überhaupt bestraft – und selbst in den beiden Leipziger Prozessen betraf es fast ausschließlich niedere Chargen, während das Führungspersonal der HASAG praktisch ungeschoren davonkam.

Was auch mit der jahrzehntelangen Verharmlosung der Zwangsarbeit zu tun hat. In Ost wie West war sie über Jahrzehnte kein Thema, verschwanden auch die verschiedenen Opfergruppen völlig aus der Erinnerung, wenn sie nicht – wie im Osten – dem verordneten Erinnerungsschema der tapfer widerstehenden Genossen entsprachen.

Was dann zwar die Würdigung der beiden nachweislichen Widerstandsgruppen bei der HASAG ermöglichte – erinnert sei insbesondere an die Gruppe Rumjanzew. Aber das Leid der besonders schlecht behandelten Jüdinnen und Juden, der „Ostarbeiterinnen“ und „Ostarbeiter“ wurde meistens ausgeblendet und nicht wahrgenommen.

Die Erinnerungen an die mit Stacheldraht und Wachtürmen umgebenen Lager rund um das Betriebsgelände verschwanden. Die alten Werkhallen wurden von der sowjetischen Besatzung beräumt, die Maschinen abtransportiert, die Hallen gesprengt.

Übrig blieben im Grunde nur noch das präsentable Gebäude der Werksleitung, das heute Teil des Umweltforschungszentrums ist, und ein Hallenkomplex an der Kamenzer Straße. Doch gerade dort gibt es seit Jahren Konflikte, da die Gebäude in Privatbesitz sind und sich dort Rechtsextreme eingemietet haben.

Wenn Menschen zu Material gemacht werden

Denn natürlich sind wir diese Leute mit ihrem menschenverachtenden Weltbild nicht los. Die jahrzehntelange Nicht-Aufarbeitung der Ausbeutungsgeschichte hat Folgen.

Denn Nicht-Aufarbeitung bedeutet eben auch, das Denken und Trachten hinter dem Handeln der deutschen Konzernleitungen nicht zu beleuchten, die willfährige Partnerschaft zwischen der Nazi-Nomenklatura und den Konzernleitungen, die es stillschweigend einkalkulierten, dass für ihren Profit Menschen wie Sklaven behandelt wurden, eingepfercht in überwachten Lagern, schlecht ernährt und maximal ausgebeutet bis zum letzten Tag.

Und es machten auch viele scheinbar ganz gewöhnliche Deutsche mit, sonst hätte dieses System nicht funktioniert.

Wobei gerade das Kapitel zu den Aufseherinnen im Frauenlager zeigt, dass es nicht unbedingt „Bestien“ waren, die sich zu diesem Dienst verdingten. Oft wurden die Frauen, die über die Zwangsarbeiterinnen wachen sollten, direkt im HASAG-Werk angeworben und mit höheren Löhnen gelockt.

Es sind die sehr persönlichen Zeugnisse der Überlebenden, die eben auch davon erzählten, dass auch die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen im Werk nicht zwingend selbst zu Bestien werden mussten in diesem System. Auch wenn jede freundliche Geste den ausgehungerten und ausgepowerten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern gegenüber mit drakonischen Strafen belegt war.

Das Innenleben einer Dikatatur sieht grau aus, schäbig, und es funktioniert nur durch allgegenwärtige Drohungen und Denunziationen. Diktaturen sprechen das Schäbigste im Menschen an und befördern logischerweise die schäbigsten Gestalten, scheinbar ganz normale Mitmenschen, die aber nur zu gern die neuen Grauzonen ausfüllen, um ihre Macht über andere Menschen auszuleben.

Sie waren nicht unsichtbar

Doch Diktaturen leben auch von der Einschüchterung, davon, dass die meisten Menschen lieber den Kopf einziehen und wegschauen, wenn Unrecht geschieht. Wie es wohl die meisten der über 20.000 deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der HASAG taten, auch wenn es einige unter ihnen gab, die sich dennoch wagten, mit kleinen, menschlichen Gesten zu zeigen, dass sie die drangsalierten Nachbarn an der Werkbank ganz und gar nicht – wie die Nazis – für „Untermenschen“ hielten.

Einige der Texte in diesem Buch erschüttern, weil sie das Zwangssystem sehr detailliert und in sehr persönlichen Erinnerungen sichtbar machen. Wenigstens in Ausschnitten, weil die Aufarbeitung des Lagersystems bei der HASAG bis heute nur lückenhaft ist.

Lückenhaft auch deshalb, weil das Werkarchiv zum Kriegsende 1945 verschwunden ist, möglicherweise von Budin selbst noch in die Luft gesprengt, und in den Wochen und Monaten danach eigentlich niemand die Kraft hatte, noch alles zu verschriftlichen, was in den vergangenen sechs Jahren in diesem auf Zwangsarbeit begründeten Rüstungsbetrieb passiert ist.

Noch kurz vor der Ankunft der US Army wurden ja die meisten Häftlinge aus dem KZ-Außenlager des KZ Buchenwald bei der HASAG auf einen Todesmarsch geschickt. Viele überlebten völlig ausgehungert und von Krankheiten geschwächt, hatten also auch in den nächsten Monaten eher mit dem Überleben zu tun und dann der langersehnten Rückkehr in die Heimat.

Und dort hörte das Vergessenmüssen für viele nicht auf, wie es im Buch etwa am Schicksal des italienischen Militärinternierten Giuseppe Caroli geschildert wird. Und selbst die Erinnerungen der spanischen Kommunistin Mercedes Nunez Targa drangen erst spät nach Leipzig durch.

Es ist im Grunde die Arbeit der Gedenkstätte, die viele Stimmen der einst in Leipzig internierten Zwangsarbeiter zum Sprechen gebracht hat. Die des Niederländers Gerrit-Jan Jochems etwa, dessen Fotoalbum belegt, dass die geschätzt über 110.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter den Leipzigern selbst ganz bestimmt nicht verborgen geblieben sein dürften.

Alle Ausreden, man habe davon nichts gewusst, sind faule Ausreden. Die Lager mit ihren Baracken, Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen waren unübersehbar. Die morgendlichen Marschkolonnen in die Fabriken ebenso.

Man begegnete den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in den Betrieben, arbeitete in derselben Werkhalle. Und die besser behandelten Arbeiter etwa aus den Niederlanden traf man auch bei ihren Sonntagsausflügen im Stadtbild an.

Ungeschützt im Bombenhagel

Erschütternd freilich ist auch Martin Clemens Winters Beitrag zur gerade 20-jährigen ukrainischen Zwangsarbeiterin Ana Krawtschuk, deren Ring im Leipziger Stadtarchiv überdauert hat als letztes Zeugnis ihres Todes beim Bombenangriff vom 29. Mai 1944, als über 70 Zwangsarbeiter/-innen im HASAG-Gelände starben.

Sie waren – anders als die deutsche Belegschaft – so gut wie gar nicht geschützt und stellten deshalb auch den größten Teil der Bombenopfer an diesem Tag. Viel mehr als der kleine Ring erzählt nicht mehr von Annas Schicksal, ein Ring, den ihr erst kurz zuvor ihr Verlobter gegeben hatte, der ebenfalls bei diesem Bombenangriff zu Tode kam.

Wenn die Opfer einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte bekommen, hört das Grau des deutschen Faschismus auf, schlichtes Grau zu sein, und die Opfer verschwinden nicht mehr in Bergen von Zahlen.

Auf einmal werden die ganz konkreten Menschen sichtbar, mit ihren Träumen, Hoffnungen, Ängsten und ihrer Not – und ihrer Machtlosigkeit in einem System, in dem sie entrechtet und misshandelt wurden.

Und ausgenutzt bis zum letzten Atemzug, weil das in der Weltsicht ihrer Ausbeuter normal war, weil dieses Denken auch in den Köpfen vieler deutscher Unternehmer steckte (und auch ihrer Aufsichtsräte), die wie selbstverständlich mit den braunen Machthabern paktierten und in Krieg, Besatzung und Entrechtung ganzer Menschengruppen nur eine schöne Gelegenheit sahen, noch mehr Profit zu machen.

Wenn das Lagersystem aus Sicht der Betroffenen oft so unverständlich und unberechenbar wirkte, hat das genau damit zu tun, dass es Konzernen wie der HASAG letztlich nur um die Ausnutzung der verfügbaren Arbeitskraft ging.

Wenn die Ausgesiebten dann nicht mehr leisteten, was man von ihnen verlangte, gar krank wurden und vom Hunger ausgezehrt, dann wurden sie wie selbstverständlich wieder auf Listen geschrieben und in die Vernichtungslager abgeschoben.

Der HASAG-Konzern war damit unübersehbar selbst Teil der Vernichtungsmaschinerie, der gleichzeitig aus den entrechteten und ausgemergelten Menschen herausholte, was an Arbeitskraft noch herauszuholen war.

Die fast unsichtbar gemachten Opfer

Die Gedenkstätte und zwei Gedenksteine erinnern heute an dieses sehr spezielle Kapitel der Zwangsarbeit. Wobei die Recherchen zu den anderen Leipziger Unternehmen, die von der Zwangsarbeit profitierten, oft gar kein anderes Bild ergeben.

Nur dass es die HASAG systematischer und in viel größerem Maßstab aufzog und durch das Verschwinden dieses Unternehmens aus dem Leipziger Stadtbild auch die Erinnerung an diese eisige Ausbeutungspraxis fast schon getilgt schien.

Die alleinige Fokussierung des Ostens auf den kommunistischen Widerstand als Erinerungsmarker hat jahrzehntelang die Erinnerung an die größten Opfergruppen der Nationalsozialisten verdrängt.

Und damit sehr konkretes Leid, das für viele, die es schweigend mit angesehen haben, auch mit Schuld verbunden gewesen sein muss. Nicht nur westwärts war eine ganze Gesellschaft eifrig damit beschäftigt, diese Schuld zu verdrängen und so zu tun, als hätte man von nichts gewusst.

Verdrängen ist immer der falsche Lösungsansatz.

Josephine Ulbricht weist zu Recht auf die nach wie vor existierenden Lücken in der Erforschung der HASAG-Geschichte hin, von denen viele wahrscheinlich nie geschlossen werden können, weil die Unterlagen fehlen.

Aber so gesehen ist die Erforschung der Geschichte der Zwangsarbeit in Leipzig auch noch recht jung. Erst in den letzten Jahren wurden die ja längst abgerissenen Barackenlager im ganzen Stadtgebiet zumindest virtuell wieder sichtbar und kann jeder, der die Augen nicht davor verschließt, sehen, wie diese Stadt sechs Jahre lang gar nicht ohne die Ausbeutung der zur Zwangsarbeit getriebenen Menschen funktionieren konnte.

Zentrum der Rüstungsindustrie

Und was dabei auch wieder sichtbar wird, ist natürlich Leipzig als eines der Zentren der mitteldeutschen Rüstungsindustrie. Die Stadt wurde ab 1943 nicht grundlos Ziel immer neuer Luftangriffe, die neben den Rüstungsbetrieben auch die Infrastruktur im Visier hatten, auf der eben auch die hier produzierten Waffen an die Front gebracht wurden – etwa die Millionen „Panzerfäuste“ aus der HASAG.

Auch das gehört ja zum Unerhörten, dass die gefangenen Menschen Waffen gegen ihre eigenen Herkunftsländer produzieren mussten. Und der Satz im Buch ist überdeutlich, der feststellt, dass die deutsche Rüstungsindustrie ohne die Zwangsarbeiter schon zwei Jahre vor Kriegsende zum Erliegen gekommen wäre.

Die herausragende Stellung der HASAG unter den Wirtschaftsunternehmen im „Dritten Reich“ „war nur möglich durch den Einsatz zehntausender Zwangsarbeiter/-innen, die dafür mit unermesslichem physischen und psychischem Leid sowie in tausenden Fällen mit dem Tod bezahlt haben“, schreibt Josephine Ulbricht.

Der Band erzählt von dem, was durch die bisherige Forschung dazu bekannt ist. Es ist erschütternd. Und erhellend. Und lehrreich, wenn man daran denkt, wie leichtfertig man in Deutschland mit dem Vergessen, Abhaken und Wegschauen ist, wenn nichts mehr da steht, das an den Ort der Grausamkeit erinnert.

Anne Friebel; Josephine Ulbricht Zwangsarbeit beim Rüstungskonzern HASAG Hentrich & Hentrich, Leipzig 2023, 23,90 Euro.

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