Offiziell ist die Zeit des Nationalsozialismus vorbei. Dass einige Nazigesetze immer noch in Kraft sind und so etwas wie eine „Entnazifizierung“ nach 1945 in beiden Deutschlands lückenhaft bis gar nicht stattfand, wissen viele. Wenn es an die eigene Familie geht und die Frage „Was habt ihr damals gemacht?“, dann wird das Wissen freilich schon dünner.

Wie sehr diese Epoche die Gesellschaft durchdrungen hat und in jeder (egal, was Eltern, Großeltern, Urgroßeltern uns glauben machen wollen – wirklich jeder) Familie ihre Spuren hinterließ, zeigt die Anthologie „Gern würdest du allen so viel sagen“.

Entstanden ist der Band im Rahmen eines einjährigen Forschungsprogramms. 16 junge Comicautor*innen trafen sich mit Forscher*innen und Autor*innen und arbeiteten sich durch Archivsammlungen. Sie setzten sich mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts auseinander.

Das tun sie in diesem Buch nicht nur abstrakt, sondern oft anhand der eigenen Familiengeschichten. So entsteht ein absolut lesenswertes Mosaik der diversen Geschichten, die zeigen, welchen Einfluss die NS-Herrschaft auf Familien gehabt hat.

Ostaschkow

So zum Beispiel das Schicksal der Familie von Karochy: Der Uropa der*s Autor*in war polnischer Armeeangehöriger. Er wurde von Stalins sowjetischer Armee auf die Insel Stolbnyi deportiert. Später kam er in das Lager von Ostaschkow und wurde schließlich beim Massaker von Katyn ermordet – zusammen mit mehr als 6.000 anderen Menschen, größtenteils polnischen Offizieren.

Doch hier endet die Geschichte nicht. Abends sitzen die Autorin und eine Freundin beim Wein zusammen, ihnen gegenüber an der Wand das Hochzeitsbild der Urgroßeltern. Wie geht man damit um? Wie sieht Gedenken für Menschen aus, die man nicht kennt? Darf man sich Spaß erlauben?

Das Massaker von Katyn war lange in der Sowjetunion bzw. später Russland ein weißer Fleck in der Geschichte. Auch im von der UdSSR kontrollierten Polen wurde sich lange vor der Aufarbeitung gedrückt. Erst nach Gorbatschows Glasnost hat man sich ordentlich mit den Fällen auseinandergesetzt. Doch polnische Historiker*innen beklagen nun wieder eine Blockade Russlands, wenn es um das Herausgeben von Akten geht.

Der Radierer

Auch Katia Foquets Comic „Der Radierer“ beschäftigt sich mit ihrem Großvater – Hermann Clemens. Die Geschichte des stillen Künstlers beginnt in Familienerzählungen immer mit seiner Flucht 1945 vor den Alliierten und fünf Jahren Kriegsgefangenschaft. Das Leiden von Hermann Clemens wird wie das Leid vieler Deutscher nach dem Krieg stillschweigend akzeptiert – ohne auf ihre Täterschaft zu blicken.

Katia Fouquet recherchiert. Und findet heraus, dass Hermann Clemens Richter in der NS-Zeit war, der außerordentlich gefolgstreu unter der NSDAP handelte. 1945 gab er sich als einfacher Soldat aus, um der Verfolgung durch die Alliierten zu entgehen.

Mit beeindruckenden Bildern erzählt Katia Foquet diese Geschichte. Die expressiven Farben und die ausdrucksstarken Zeichnungen schaffen es, das Schweigen, die Trauer, den Schrecken, all das zu vermitteln und aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen.

Die Fahne unten

Nik Neves wird von einer Querdenken-Demonstration an sein Fenster hoch über der Straße geholt. Anhand der Fahnen ist es schwer einzuschätzen, welchen Zweck die Demonstration verfolgt. Durch diese Straße sind über die Jahrzehnte schon viele Demonstrationen gelaufen, zum Beispiel die Demos zum 1. Mai in der DDR.

Das Verhältnis der Deutschen zur Deutschlandflagge war lange ein kompliziertes, bis die Fußball-WM 2006 es ein wenig entspannte. Noch heute wird, vor allem von Neonazis, das Argument bedient, Deutsche müssten wieder stolz auf ihr Land sein dürfen. Nik Neves arbeitet mit der Geschichte der deutschen Flagge und zeigt, wie sich die Bedeutungen heute verändern, wenn zum Beispiel jemand eine Reichsflagge auf einer Demonstration trägt.

In welche Richtung kippt die Stimmung gerade? Danach fragt dieser Comic. Wohin geht es mit den starken rechten Bewegungen nun?

Unterbrochene Gespräche

Keine Geschichte wird so richtig zu Ende erzählt. Sie lassen viele Lücken und ergeben dadurch ein wahrhaftigeres Bild von Aufarbeitung und Erinnerungskultur. Diese muss mit den Lücken leben, wir als Gesellschaft müssen mit den Lücken leben, die durch Schweigen, Vertreibung, Verdrängung, Unterdrückung entstehen.

Wir können das sehen, was durch Kämpfe und Recherche wieder ans Licht geholt wird. Die Geschichten versuchen so nicht nur, zu rekonstruieren, was „damals“ war, sondern die Fäden bis in die Gegenwart zu verfolgen. In diesem Sinne haben die Autor*innen nicht nur künstlerisch wichtige, sondern auch eine historisch-gesellschaftlich relevante Arbeit geleistet.

Monika Powalisz und Kai Pfeiffer (Hrsg.) „Gerne würdest du allen so viel sagen“, Avant-Verkag, Berlin 2023, 28 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar