Die jüngere Archäologie ist ein einziges Aufräumen mit alten Vorstellungen, wie die menschliche Zivilisation eigentlich entstand. Vorstellungen, in denen sich das patriarchalische und nationalistischen Denken de 19. Jahrhunderts oft unsichtbar manifestierte. Da konnten sich selbst aufmerksame Forscher oft nicht vorstellen, dass die Vorherrschaft der Männer vielleicht gar nicht so gesetzmäßig war, wie man auch in wissenschaftlichen Abhandlungen oft lesen konnte.

Längst stehen die alten Thesen über die Entstehung der menschlichen Zivilisation massiv unter Beschuss – ob aus feministischer Perspektive an der Männerdominanz, aus der Perspektive der Kritik am (Post-)Kolonialismus oder am modernen Rassismus. Denn all das ist in alte Erzählungen vom „Siegeszug“ der Menschheit tief eingeschrieben. Zeitweilig auch noch aufgeladen mit nationalistischem Gedankengut. Man denke nur an den Missbrauch der Geschichtswissenschaft durch die Nationalsozialisten. Doch selbst die Distanzierung vom völkischen Glaubenssystem der Nazis hatte wieder negative Folgen für die Forschung. Denn damit wurden für Jahrzehnte auch Ideen ausgesondert, die tatsächlich historische Migrations-Ereignisse gut beschreiben, die von den nationalsozialistisch dominierten „Forschung“ fehlinterpretiert und missbraucht wurden.

Dazu gehören eben auch Forschungen zu frühen Migrationsbewegungen, in denen die so bezeichneten Indoeuropäer eine ganz zentrale Rolle spielen. Wobei Indoeuropäer keine Selbstbezeichnung ist, sondern ein Begriff, den Linguisten benutzen, um eine historisch entstandene Sprachfamilie zu bezeichnen, deren Wurzeln mit einer archäologisch sogar nachweisbaren Wanderungsbewegung aus dem Raum des heutigen südlichen Russlands und der Ukraine zusammenhängen. Denn wenn man – wie die Leiterin der Wissenschaftsredaktion der schwedischen Tageszeitung „Dagens Nyheter“ Karin Bojs wissen will, wie wir heutigen Europäer so wurden, wie wir sind, dann kann man die viele großen Wanderungsbewegungen der letzten 43.000 Jahre nicht ausblenden.

Die Werkstoffe der Frauen

Denn sie stecken auch in unseren Genen. Angefangen von den ersten Homo Sapiens, die noch während der Eiszeit nach Europa vordrangen und dort auch den hier schon lebenden Neandertalern begegneten. Und mit ihnen auch Kinder bekamen. Weshalb auch ein bisschen Neandertaler-Erbmaterial in unseren Genen steckt.

2018 (auf Schwedisch schon 2015) machte Karin Bojs mit ihrem Buch „Meine europäische Familie“ erstmals nachlesbar, wie die moderne Paläogenetik unser Wissen über unsere eigene Herkunft bereichert hat und damit die Befunde der Linguisten und der Archäologen nicht nur bereichert, sondern oft auch differenziert und hinterfragt. Da geraten selbst alte Klassifizierungen wie Steinzeit, Bronze- und Kupferzeit in Bewegung, stellt sich heraus, dass diese Einteilungen nicht nur viel zu schematisch waren (aber anfangs in der Archäologie natürlich sehr hilfreich), sondern auch irreführend, weil sie eine Fundkategorie verabsolutieren, die sich in der Erde gut erhalten hat – die Werkzeuge und Waffen, die vor allem von Männern benutzt wurden.

Schon die ersten Kapitel in Bojs’ Buch sind ein Vergnügen für alle, die beim Lesen gern neue Welten entdecken. Denn moderne Forschungsinstrumente haben inzwischen auch geholfen, wenigstens Spuren all der vergänglichen Werkstoffe nachzuweisen, die die Menschen all die Jahrtausende ja ebenfalls verarbeiteten und nutzten. Nur überdauern Holz, Pflanzenfasern und Gewebe in der Erde nun einmal schlecht. Und damit all jene Werkstoffe, mit denen vor allem Frauen gearbeitet haben. Und mit denen die Menschen sich schon in der Eiszeit schmückten. Etwas, was Bojs gerade um die weltberühmte und fast 30.000 Jahre alte Venus von Willendorf diskutiert, die einerseits möglicherweise ein Bild für die Muttergöttin war, andererseits wohl tatsächlich eine gehäkelte Mütze trägt und damit sichtbar macht, was schon vor 30.000 Jahren zur normalen Kleidung unserer Vorfahren gehörte.

Und auch für Töpferhandwerk, Weberei und Kupfergewinnung wurden in den letzten Jahren immer frühere Spuren sichtbar, die alle darauf hindeuten, dass es Frauen waren, die diese Techniken praktizierten. Und damit steht die Frage im Raum, welches der beiden Geschlechter eigentlich für die „Erfindung“ welcher Technologie verantwortlich war? Und damit für jeden einzelnen Technologiesprung, der aus den Jägern und Sammlern der Eiszeit ab der Zeit vor ungefähr 11.600 Jahren nach und nach Bauern und Tierzüchter machte.

Die späte Erfindung des Patriarchats

Wer domestizierte die Tiere, die wir heute ganz selbstverständlich in Stall und Hof vorfinden? Wer wählte die Kulturpflanzen aus, die heute die Grundlage unsere Ernährung sind? Alles spannende Fragen, die auch spätestens ab der Entwicklung der Landwirtschaft vor 11.600 Jahren die Diskussion anregen, wie eigentlich das Verhältnis der Geschlechter zueinander war. Denn die archäologischen Funde weisen eher darauf hin, dass es die patriarchalische Dominanz späterer Jahrtausende damals noch nicht gab. Möglicherweise gab es auch das von einigen Autorinnen dichterisch beschriebene Matriarchat in dieser Form nicht. Aber auch Grabfunde deuten darauf hin, dass Frauen nicht die untergeordnete Stellung innehatten, die ihnen spätere Gesellschaften zuwiesen.

Selbst die frühen Bauerngesellschaften, die vor 8.600 Jahren auf die Balkanhalbinsel übersetzen und vor über 7.000 Jahren auch in das heutige Gebiet Deutschlands einwanderten, müssen eine noch relativ gleichberechtigte Gesellschaft gewesen sein. Dafür schildert Kartin Bojs exemplarisch die Vinča-Kultur an der unteren Donau, die möglicherweise sogar die erste Schrift entwickelte, die archäologisch nachweisbar ist – nur entziffert hat sie bis heute niemand.

Aber in dieser Zeit – wohl vor 5.500 Jahren, wurden auch die ersten Erfindungen gemacht, die möglicherweise das Geschlechtergleichgewicht so langsam zum Kippen brachten – das Rad und das Joch, mit dem fortan zwei Ochsen vor Pflug und Wagen gespannt werden konnten. Wozu Kraft gebraucht wird. Was die Rolle der Männer deutlich veränderte – auch bei den folgenden Wanderungen, bei den Ochsen und Ochsenkarren auf einmal wesentliches Element der Mobilität wurden. 1.000 Jahre später kamen dann noch die Pferde und die großen Viehherden hinzu, mit denen die Hirten der Jamnaja-Kultur Richtung Westen aufbrachen und die Verhältnisse in Europa radikal veränderten.

Auch die Geschlechterverhältnisse. Und weite Teile des Buches lesen sich natürlich wie eine Würdigung der Prähistorikerin Marija Gimbutas, die schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur die wichtige Rolle dieser großen Migrationsbewegungen beschrieb, sondern auch deren Bedeutung für die drastische Veränderung der Geschlechterverhältnisse.

Eine Geschichte der Migrationen

Und auch wenn es das märchenhafte Matriarchat wohl nie gegeben hat, zeigen archäologische und genetische Befunde, dass man bis zur Einwanderung der Indoeuropäer in ein von Seuchen geschwächtes Westeuropa wohl von einer stärkeren Parität der Geschlechter und damit einer eher gleichberechtigten Rolle der Frau in der Gesellschaft ausgehen kann. Und dass man archäologische Funde auch so lesen kann, gerade weil sich die Spuren der Frauen schlechter erhalten haben.

Was ja am Ende auch heißt, dass das Patriarchat, das unsere Welt heute dominiert und eng verbunden ist mit Gewalt, Macht und technischem Machbarkeitsdenken, erst ein relativ junges Produkt der menschlichen Entwicklung ist. Bedingt durch neue Produktionsmittel, neuartige Waffen und – mit dem Pferd – größerer Mobilität. Und die moderne Archäogenetik zeigt immer detailreicher, welche Migrationsbewegungen sich im Genom der heutigen Europäer abbilden. Was natürlich nur allzu deutlich macht, dass Europa nichts anderes ist als das Ergebnis von vielen sich oft überlagernden Migrationen.

Die Nation und das Volk sind allesamt Erfindungen viel jüngerer Zeiten, als sich die modernen Reiche und Nationalstaaten herausbildeten und sich das – patriarchale – Denken über Grund und Boden auch im Nationalstaatsdenken manifestierte. Und damit Grenzen und Unterschiede definierte, die es so in der jahrtausendealten Vorgeschichte nicht gab.

Karin Bojs bedauert ein wenig, dass sie so eine Geschichte nur über die Mütter Europas schreiben konnte. Hätte sie auch noch andere Kontinente wie Asien oder Amerika einbezogen, hätte es ihr drittes Buch zum Thema völlig gesprengt. Und bei Afrika, dem eigentlichen Ursprungskontinent aller Menschen, kommt noch hinzu, dass sich im tropischen Klima kaum irgendwelches genetisches Material erhalten konnte. Ein riesiger Zeitabschnitt, in dem Afrika natürlich auch Anteil hatte an den Entwicklungen im Nahen Osten, wird so kaum greifbar.

Die Spuren der Mütter

Was natürlich doppelt bedauerlich ist, wenn man mit Karin Bojs erkundet, welche Spuren eben auch Frauen in den archäologischen Schichten Europas hinterlassen haben, wenn man tatsächlich danach sucht und sich mit Steinbeilen und Kupferklingen nicht zufrieden gibt, sondern auch einbezieht, dass die meisten Materialien, die Menschen seit Jahrzehntausenden bearbeitet haben, vergängliche Materialien waren. Aber die Aufmerksamkeit hilft, und so werden Frauen eben doch sichtbar. Unsere Mütter, die sie ja allesamt sind, auch wenn es dann patriarchalische Männergesellschaften waren, die dann seit ungefähr 7.000 Jahren die genetischen Linien beeinflussten.

Aber die Weiterentwicklung der archäologische Forschungsbereiche macht eben immer besser unterscheidbar, welche Rolle Frauen in dieser europäischen Frühgeschichte tatsächlich spielten. Und sie macht die Migrationen sichtbar, ohne die wir nicht so geworden wären, wie wir heute sind. Migrationen, die eben auch so prägend waren wie die Einwanderungen der Bauern aus Anatolien vor über 8.000 Jahren und die Ankunft der indoeuropäischen Hirten vor fast 5.000 Jahren, die eben auch ihre Sprache mitbrachten, die fortan zur Grundlage der meisten in Europa gesprochenen Sprachen wurde.

Aber aus gutem Grund legt Bojs in diesem Buch sehr viel Wert darauf, endlich auch die Frauen in dieser Geschichte sichtbar zu machen, ohne die das alles nicht stattgefunden hätte. Europas Mütter eben, die in den alten Heldengeschichten so gern vergessen wurden.

Karin Bojs „Mütter Europas. Die letzten 43.000 Jahre“, C. H. Beck, München 2024, 26 Euro

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