Irgendwie leben wir in einer Zeit, in der sich ein Haufen Leute zurückzusehnen scheint in eine Zeit, in der in ihrer Vorstellung alles besser war, die klassischen Rollenbilder noch galten, Männer das Sagen hatten und die Wirtschaft boomte. Also irgendwie in die Zeit des westdeutschen „Wirtschaftswunders“. Das so wundersam gar nicht war. Und gerade Frauen dürfte das blanke Grausen packen, wenn sie an die damals noch als normal geltenden Rollenbilder denken.

Und an den langen Schatten des deutschen Faschismus, der mit den patriarchalischen Männerbildern immer aufs Engste verquickt war. Genau darum geht es in Christine Koschmieders neuem Roman. Auf geht es in eine völlig falsch verklärte Zeit.

Es sind die Jahre 1963 bis 1965, die die Autorin hier wieder aufleben lässt. Mit Lilo Kowatz in einer der Hauptrollen, die nach Erfolgen als Modedesignerin für das „kleine Schwarze“ nun mit einer neuen Bademodenkollektion Erfolg haben möchte. Ihr Mann Harry hat, nachdem er jahrelang Touren für die deutsche Kriegsgräberfürsorge organisiert hatte, einen neuen Job beim Neckermann-Konzern gefunden.

Aber beide haben eine dunkle Vorgeschichte, über die sie eigentlich nicht reden wollen. Es ist die Zeit, in der endlich die Auschwitz-Prozesse in Gang kommen und einige wenige der hauptverantwortlichen Täter nun doch noch für ihre Taten in der Nazi-Zeit zur Verantwortung gezogen wurden. Und damit auch endlich einige der alten Verstrickungen publik wurden – auch etliche jener Leute betreffend, die geradezu zu Ikonen des „Wirtschaftswunders“ wurden.

Nützliche Netzwerke

Die Handlung von Christine Koschmieders Roman mag erfunden sein, auch wenn diese atmosphärisch dicht ist und einem die ganze schäbige Borniertheit dieser 1960er Jahre wieder hochkommen lässt. Aber der Hintergrund ist belegt und in einigen grundlegenden Forschungsarbeiten untermauert und nachlesbar. Was sich da in Versandhaus- und Reisekatalogen wie der überschäumende Geist einer neuen Zeit darstellte, beruhte in vielen Fällen auf einer engen Kollaboration der gefeierten Unternehmer mit dem einstigen Nazi-Regime.

Oft genug haben sie sich dort selbst bereichert und von der „Arisierung“ jüdischer Unternehmen profitiert. Und auch 20 Jahre nach dem Krieg wollten sie darin für gewöhnlich kein Unrecht sehen, auch nichts wiedergutmachen. Deutsche Unternehmer eben, die sich kein Gewissen machten über die Herkunft ihres Reichtums.

Und allesamt noch aufs Engste verbandelt. Denn die Leute, die einst vom Regime der Nazis profitierten, haben ihre Netzwerke niemals aufgegeben. Im Gegenteil: Sie halfen sich nach dem Motto „Eine Hand wäscht die andere“ auch in der jungen Bundesrepublik, in der sie keine Fremdkörper waren. Das zeichnet Koschmieder mit geradezu sensibler Hand, wie sehr die fatalen Vorstellungen von Stolz, Ehre und „reinem Blut“ auch noch Jahrzehnte nach dem Krieg die Moral der feinen neuen Gesellschaft prägten.

Und auch wenn Lilo selbst ihre schäbigen Erfahrungen mit diesen Leuten gemacht hat, hat auch sie eine Geschichte, die ihr unter den neuen Umständen dieser 1960er Jahre gefährlich werden kann – und am Ende tatsächlich ihren Traum von Liloba-Bademoden zerstört. Denn Bademoden hat die umtriebige junge Frau auch damals im Ghetto von Litzmannstadt, wie die Nazis das polnische Łódź nannten, herstellen lassen. Mehr oder weniger illegal. Eine Vorgeschichte, von der sie hofft, dass sie längst vergessen wäre.

Doch die Geschichte holt sie ein. Und nicht nur sie. Denn ihre Tochter Reni, die mit Hilfe des umtriebigen Alfred eine Karriere als Laufstegmädchen gestartet hat, begegnet in dieser Erzählung einigen jungen Leuten, die mit all den verschwiegenen Gewinner-Geschichten aus der Nazi-Zeit aufräumen wollen. Und die Reni schon einmal darüber aufklären, aus welcher Vorgeschichte ihr Alfred stammt, der ihre Touren durch Deutschland organisiert.

Gespenster der Vergangenheit

Ein bisschen Reisebus-Feeling darf durchaus mit dabei sein. Ein ganzes Land war ja dabei, die Albträume der Vergangenheit und die eigene Schuld bei Vergnügungsfahrten zu verdrängen. Und es stimmt ja: Es hat lange kein Autor, keine Autorin so atmosphärisch dicht über diese Zeit und alle ihr Maskeraden geschrieben. Diese organisierten Versuche, alles zu vergessen, was vorher war.

Nur kommen die Protagonisten in der Geschichte ganz unterschiedlich damit zurecht. Während Lilo gar nicht einsieht, sich einfach unterbuttern zu lassen und noch etwas einzufordern hat von einem der eichenlaubverzierten Herren von damals, steckt Harry noch immer in der Klemme des alten, so deutschen Rassismus, der die Menschen in Klassen sortiert hat, in Untermenschen und Deutsche 1. und 2. Klasse.

Dass einem da Gedanken kommen, die an die snobistischen Figuren der politische Gegenwart erinnern, ist kein Zufall. Was immer nur verdrängt und abgestritten wurde, lebt weiter – in Köpfen und in Reden. In Zynismus und Arroganz. Nur dass sich immer mal wieder ändert, welche Menschen in die 2. und 3. Klasse sortiert werden.

Für Harry bedeutet das lebenslang das Gefühl, immer wieder neu beweisen zu müssen, dass er dazugehört und doch ein Deutscher ist. Obwohl er sich doch so viel Mühe gibt, für Reni das Bild eines sorgenden Vaters zu geben. Auch wenn es für Reni letztlich eine erschütternde Entdeckung sein wird, als sie die Wahrheit über ihre Herkunft erfährt. Das klingt jetzt wie ein Satz aus einem süßlichen Frauenroman.

Aber Koschmieders Geschichte hat nichts Süßliches. Sie liest sich eher wie eine bitterböse Abrechnung mit den verlogenen „Wirtschaftswunder“-Jahren, mit der Gesellschaft der braven Wohlstandsbürger, die ihre eigene braune Vergangenheit zugepudert und entsorgt haben. Nazis waren immer nur die anderen, die Leute „da oben“, mit denen man ja nie etwas zu tun hatte.

Menschen ohne Geschichte

Das Land hatte sich irgendwie in eine bunt aufgehübschte Werbewelt mit lauter Menschen ohne Geschichte verwandelt – mal von den Witwen abgesehen, die mit Harrys Bussen zu den Kriegsgräbern in Belgien und Frankreich fuhren.

Lilo bringt es am Ende irgendwie auf den Punkt, als sie sich nach ihrer Katastrophe mit den Bademoden wieder berappelt, einen alten Kontakt aufnimmt und so das Kapital für einen neuen Traum bekommt: Lilos Café, in dem sie einige amerikanische Ideen übernimmt und damit ein Stück jenes Traums, den die Deutschen nach dem verlorenen Krieg ganz offiziell träumen durften. Mit „echten amerikanischen Donuts im Angebot“. Und Kaffee, so viel jeder will.

„Deutschland kann vielleicht Volkswagen und Versandhäuser und Wiederaufbau“, schreibt Koschmieder an dieser Stelle. „Freundlichkeit und guten Kaffee kann es nicht.“ Was ja irgendwie bis heute gilt. Der alte Geist von Ordnung, Ehre und Strenge steckt noch immer in den Köpfen. Freude am Leben darf nur haben, wer etwas leistet. Wer es sich durch Fleiß „verdient“ hat. Man hört die Stiefel knallen und das Schnarren in der Stimme.

Und hätte auch nicht gedacht, dass das nach 80 Jahren immer noch da ist. Es ist zum Gänsehautkriegen. Und man spürt es mit Koschmieders Erzählung um die drei Menschen, denen sie mit ihrem Erzählen versucht, gerecht zu werden. Aber mit Lilos Café erzählt sie auch etwas, was bis heute nicht zur deutschen Selbstwahrnehmung gehört: „Magie ist eine Währung …“

Denn das setzt voraus, dass Menschen einander Freude gönnen möchten. Dass sie neue, magische Welten erschaffen möchten und daran glauben, dass es sich lohnt, anderen Menschen ihre kleinen Träume zu erfüllen.

Der falsche Glanz der Kataloge

Was aber wohl auch nicht funktioniert, wenn man nicht einmal selbst weiß, was man eigentlich will. So wie es Reni geht, die am Ende konsequenterweise nach New York geht. Da hat sie dann endlich begriffen, dass ein Alfred, der ihr sagt, was sie zu zu tun und zu lassen hat, ihr ganz bestimmt keine Zukunft bereiten kann, in der sie sie selbst sein darf. Vielleicht hätten Autorinnen der 1960er Jahre so sensibel über ihre eigene Zeit niemals schreiben können, wie es Christine Koschmieder hier tut.

Bei der man merkt, dass sie etwas erzählen muss, was die Eltern und Großeltern sich nie gewagt hätten, so deutlich beim Namen zu nennen. Die Enkel dürfen sehen, was die Großeltern nicht fühlen durften. Und sie haben den Vergleich zu einer Gegenwart, in der die Gespenster der Vergangenheit wieder mit aller Dummheit hervorbrechen, Menschen in 1. und 2. Klasse sortieren und die ganze Gesellschaft mit ihren Moralvorstellungen bevormunden wollen.

Moralvorstellungen, die aufs engste mit einem völlig verlogenen Leistungsdenken verkuppelt sind. Was insbesondere Harry erfahren muss, der für den Versandkonzern, für den er arbeitet, eigentlich nichts anderes tun soll, als immer billigere Lieferanten zu finden – letztlich irgendwo in der DDR, wo die Betriebe für lächerliches Geld die Kollektionen für die westlichen Versandhauskataloge produzieren sollen und nur zu bereitwillig auf jede Zumutung eingehen, nur um überhaupt einen Lieferauftrag zu bekommen.

Es steckt schon die ganze schäbige „Globalisierung“ von heute drin, die eben in weiten Teilen auch nichts anderes ist als eine Auslagerung von „zu teurer“ Produktion. Irgendwo gibt es immer einen, der noch billiger produzieren muss. Und auch noch gute Miene zum bösen Spiel machen muss. Sonst zieht die Karawane weiter.

Das muss Christine Koschmieder gar nicht groß analysieren. Sie muss es nur ihren Harry erleben lassen. Der dieses schäbige Gebaren durchschaut, und doch nichts ändern kann. Oder kann er doch? Man spürt seine ganze – ins Schweigen versenkte – Zerrissenheit.

Er weiß nur zu gut, das die Leute mit dem schmutzigen Geld auch die Macht haben, über die Karrieren der Schwächeren zu bestimmen. Und so ganz ist auch Reni nicht raus aus diesen Zwängen. Das steckt in der letzten Szene im Buch, das einfach nicht gemütlich werden will. Eher mit feinem Strich die Abhängigkeiten zeichnet von Menschen, die darum wissen, dass sie nicht unschuldig sind.

Und dass ihre Geschichte jederzeit wieder auftauchen kann aus dem fröhlichen Treiben eines „Wirtschaftswunders“, das eher reine riesige Sause des Vergessenwollens war. Mit allen Konsequenzen. Auch für die Kinder, die unter dem Schweigen der Eltern leiden sollten. Weit über diese schöne Neckermann-Katalog-Zeit hinaus.

Christine Koschmieder Frühjahrskollektion Kanon Verlag, Berlin 2025, 24 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar