In Heinrich Manns Netzig passiert alles im Zeitraffer. Eben noch hat Diederich Heßling mit seiner Zeugenaussage wegen Majestätsbeleidigung dafür gesorgt, dass der Fabrikant und Buck-Schwiegersohn Lauer ins Gefängnis kam, schon bewirbt er sich dreist um den frei gewordenen Sitz im Stadtrat. Denn Lauer hat mit dem Urteil auch gleich noch sein Mandat verloren.

Und da auch Wolfgang Buck ausscheidet, sind gleich zwei Sitze der bislang dominierenden Freisinnigen frei. Und um die prügeln sich jetzt die Aufsteiger: die Sozialdemokraten und die Nationalen. Wobei die Sozialdemokraten in diesen späten 1890er Jahren längst auf dem Siegeszug sind. Die Sozialistengesetze haben sie nicht aufhalten können. Sie sind die Partei der Malocher. Und die Malocher sind in diesem Boom-Land, das das Deutsche Reich in diesen Jahren darstellt, die Mehrheit. Auch in Netzig. Einen Sitz haben sie schon sicher.

Anders als bei Diederich, der ja schon den Prozess genutzt hat, um irgendwie Wahlkampf für sich zu machen. Wir haben ja die ganze Zeit im Hinterkopf, dass es seiner Papierfabrik miserabel geht. Wichtige Auftraggeber sind ihm abgesprungen. Und er tut nicht die Bohne dafür, die wieder für sich zu gewinnen. Ein Unternehmer ist er eigentlich nicht, oder vielleicht sollte man es so formulieren: Er steht für einen anderen Unternehmertyp, einen, der sein Geschäft nicht auf Vertrauen, Zuverlässigkeit und guten Kundengesprächen aufbaut, wie das für Klein- und Mittelständler eigentlich das belastbare Geschäftsprinzip ist, sondern auf Kungelei und politischer Vorteilsnahme.

Da kündigt sich etwas Neues an. Ein Unternehmertypus, der nicht in fairen Geschäftspraktiken und geduldiger Arbeit an Innovationen seine Arbeit sieht, sondern im Strippenziehen hinter den Kulissen und in der rücksichtslosen Arbeit daran, die wirtschaftliche Konkurrenz „vom Markt zu fegen“. Was einem irgendwie sehr heutig vorkommt, wo einem selbst die Wirtschaftsexperten in den großen Zeitungen erzählen, wie toll disruptive und monopolistische Geschäftspraktiken sind.

In Netzig verquickt sich das alles mit der Politik. Dass Diederich in den Stadtrat kommt, ist überhaupt nicht sicher. Dass „der nationale Mann“ schon das Sagen habe, das hat er sich bis jetzt nur eingeredet. Die Sozialdemokraten hat er einfach ignoriert. Aber wenn er in den Stadtrat will, braucht er auch von ihnen Stimmen, wie es aussieht. Und jetzt nimmt er Napoleon Fischer wieder mal beiseite für eine seiner Kungelrunden, in der er bei diesem Mann, vor dem er sich erklärtermaßen richtig fürchtet und der ihn allein durch sein Auftreten einschüchtert, versucht sich die Unterstützung für seine Wahl zu kaufen.

Und da lernt er in dem Maschinenmeister, der ja längst auch seine schlimmeren Schweinereien kennt, einen politischen Verhandlungspartner kennen, der genau weiß, was er will: ein Gewerkschaftshaus für Netzig und natürlich Diederichs Einfluss bei der „Netziger Zeitung“, um auch Fischer den Weg freizuschießen ins Mandat.

Ging das damals noch? Man schaut den beiden in Heßlings guter Stube zu und überlegt sich, ob man so etwas eigentlich von heutigen Parteien so kennt. Würden sich da die Spitzenkandidaten heimlich treffen, um ihren Wahlkampf aufeinander abzustimmen?

Eigentlich doch nicht. Jeder kämpft und stirbt für sich allein. Die Sozialdemokraten ja erst recht. Und am Ende gewinnen die Lautesten und Gröbsten, weil sie über die Folgen ihrer Versprechungen nie nachdenken müssen. Aber das größte Echo in der Presse bekommen.

Ganz so kann es Diederich noch nicht machen. Er muss sogar noch zum alten Buck, um sich letztlich von den Freisinnigen als Kandidat aufstellen zu lassen. Eine nationale Partei in dem Sinn gibt es also in Netzig noch nicht. Diederich ist der erste, der sich so geriert, quasi der Prototyp des national entflammten Kleinbürgers und Untertanen. Jedem zeigt er ein anderes Gesicht, jedem macht er andere Versprechungen. Außer Buck. Der ist noch vom alten Schlag und steht für einen Politikertyp, der noch Haltungen hat.

Hat Diederich eine Haltung? Kann nicht sein, so krumm und sich windend, wie wir ihn erleben. Alles an ihm ist große Show. Sogar die erste Debatte über den Bau einer Kanalisation in der Gäbbelchenstraße. Eine Stelle, an der es mal wieder olfaktorisch wird. Man merkt schon, wie anrüchig Heinrich Mann dieser Held ist, dem er mit gelindem Entsetzen und zwiespältiger Faszination beim Karrieremachen zuschaut.

In den Magistrat haben es Diederich Heßling und Napoleon Fischer problemlos geschafft. Nun hat Diederich seinen grimmigen Maschinenmeister auch im Stadtrat vor der Nase. Und er weiß genau, wie erpressbar er ist. „Wir haben schon mehr Dreck zusammen verscharrt“, hatte ihm Fischer ins Gesicht gesagt.

Tja, was tun?

Na ja, erst mal für eine Kanalisierung in der Gäbbelchenstraße kämpfen mit markigen Kaiserworten: „Deutschtum heißt Kultur! Meine Herren! Das hat kein Geringerer gesagt als seine Majestät der Kaiser. Und bei anderer Gelegenheit hat seine Majestät das Wort gesprochen: Die Schweinerei muß ein Ende nehmen.“

Die Freisinnigen wundern sich zwar über diese wunderliche Bezugnahme. Aber in den nationalen Blättern wird die Rede gefeiert. Es ist – wie heute. Für den größten Vogelschiss gibt es den größten Applaus, wenn es nur markig genug vorgetragen wird. Politik wird zum Theater, die Schauspieler mit den deftigsten Reden bekommen Applaus und Aufmerksamkeit.

Und diese Art des politischen Klamauks gewinnt an Schwungmasse, wenn sie auch durch die Medien nicht mehr korrigiert wird. Im Gegenteil: Des Kaisers Lieblingsblatt würdigt den nationalen Mann da in Netzig, der selbst im Zusammenhang mit überschwemmenden Ausdünstungen die „deutsche Kultur“ zitiert.

Und dass sich Diederich dann auch noch mit den beiden Sozis Rille und Fischer beim Wirt Klappsch heimlich trifft, um ein heimliches Dokument zu unterschreiben, bekommt ja erst einmal nur der Leser mit.

Vielleicht sind solche Geheimtreffen zwischen Parteien nicht mehr so üblich. Vielleicht läuft das heute anders. Aber man merkt das nicht unbedingt geringe Misstrauen des Autors Heinrich Mann in diese Art Klüngelpolitik, in der es überhaupt nicht mehr um Haltungen und Charakter geht, sondern um undurchschaubare Absprachen hinter den Kulissen. Nur dass es damals ganz sichtlich nicht die Nationalen waren, die so getan haben, als würden sie die „Eliten“ herausfordern. Auch wenn sich in Diederichs Gerede gegen die „erschlaffte Politik“ so etwas schon angekündigt hat.

Und nun macht er schon seinen zweiten zwielichtigen Deal mit den Sozialdemokraten, die er eigentlich verabscheut. Und auch jetzt ist alles wieder Show, wenn er mitten in dem Gefeilsche aufspringt und bereit scheint, wegzugehen. „Dazu werde er als nationaler Mann niemals die Hand bieten.“

Irgendwie haben wir nun eine sehr seltsame Vorstellung vom „nationalen Mann“. Natürlich bietet er die Hand und unterschreibt. Politik ist für ihn augenscheinlich Deal-Making. Egal, mit wem. Und die nächste Szene wird noch drei Stufen peinlicher. Und ja: olfaktorisch. Es gibt Helden, die der Romanautor Heinrich Mann wirklich nicht mag.

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