Zu den Buchmessen der vergangenen Jahre gehörte auch immer eine BuWision: Die angehenden Buchwissenschaftler/-innen der Uni Leipzig gestalteten dutzende Schaufenster in der Leipziger Innenstadt mit den eindrucksvollen Produktionen legendärer ost- und westdeutscher Verlage. Auch 2023 gibt es die BuWision – eigentlich sogar zwei: eine als Online-Karte und eine kleine analoge in den Schaufenstern des „Pilot“. Aber die hat es in sich.

Denn sie widmet sich einer Buchreihe aus dem S. Fischer Verlag, die beim Abschied der (alten) Bundesrepublik von der Verklärung des Nazireiches eine immense Bedeutung gespielt hat. Da war selbst Siegfried Lokatis erschrocken, der so rührige Professor am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig, der jetzt so langsam Abschied nimmt von dieser durchaus spannenden Aufgabe.

Und dennoch der Buchgeschichte verbunden bleibt.

Aktuell, so verrät er, arbeitet er an einer großen Verlagsgeschichte für den S. Fischer Verlag. Einem jener großen jüdischen Verlage, die in der Weimarer Republik den Buchmarkt in Deutschland prägten. Und der nach dem Krieg und dem Ende der Emigration von Gottfried Bermann Fischer wieder zu einem der prägenden Verlage in der (alten) Bundesrepublik wurde.

Höchste Zeit, das Schweigen zu beenden

Nur eines war 1977 fast aus dem riesigen Verlagsprogramm verschwunden: Literatur, die sich mit der Aufarbeitung des deutschen Faschismus beschäftigte. Deutsche Medien waren einer gewissen Hitler-Manie verfallen und überall waberte eine Art Verklärung des „charismatischen Führers“, von der sich einige Medien bis heute nicht befreit haben.

Und ein guter Teil der deutschen Elite diskutierte lieber darüber, endlich einen Schlussstrich unter die tiefbraune Vergangenheit zu ziehen, nachdem schon die späten 1960er Jahre von der Verjährungsdebatte geprägt waren.

Schaufenster mit den Büchern von Ernst Klee zu den Verbrechen des NS-Regimes an der Gottschedstraße. Foto: Ralf Julke
Das Schaufenster mit den Büchern von Ernst Klee zu den Verbrechen des NS-Regimes an der Gottschedstraße. Foto: Ralf Julke

Und das in einer Situation, in der nur die allerwenigsten Verbrechen der NS-Zeit gesühnt waren. Im Gegenteil: Überzeugte Nazi-Täter hatten wieder in ihren alten Berufen Karriere gemacht, deckten einander und prägten in manchen Behörden den rechten Geist. Statt ihre gerechte Strafe anzutreten, machten sie in den Parteien der Bundesrepublik Karriere, verhalfen alten Gesinnungsgenossen beim Weiterkommen und behinderten auch die Erforschung der Verbrechen im Nazireich.

Daran hatten auch die sogenannten 68er nichts ändern können.

Die Serie „Holocaust“

Dass aber viele Menschen in der Bundesrepublik ganz und gar nicht bereit waren, das alles einfach zu vergessen, das wurde 1978 deutlich, als auch das deutsche Fernsehen die amerikanische Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ ausstrahlte. Jetzt endlich kam auch öffentlich endlich so etwas wie eine Debatte über das „Dritte Reich“, Täter und Opfer in Gang.

Ein Jahr zuvor hatte der Historiker Walter H. Pehle bei S. Fischer eine Reihe gestartet, die erst viel später den Reihennamen „Schwarze Reihe“ erhalten sollte. Nicht wegen ihres Inhalts, sondern der Reihengestaltung wegen. So wie eine Auswahl dieser Reihe seit Freitag, dem 21. April, in den Schaufenstern des „Pilot“ in der Gottschedstraße und der Bosestraße besichtigt werden kann.

Sorgte Pehle anfangs in dieser Reihe für die Wiederauflage längst vergriffener Titel zum Nationalsozialismus, so sorgte er in der Folge immer mehr dafür, dass wichtige deutsche Historiker hier ihre Arbeiten zur Geschichte des Faschismus veröffentlichten: Götz Aly, Raul Hilberg, Ernst Klee, Frank Bajohr usw.

Aber hier erschienen auch endlich viele Augenzeugenberichte, wurden nach und nach all die Funktionsteile des NS-Reiches sichtbar gemacht, die den zwölf Jahren Hitler-Diktatur ihren Nimbus nahmen und zeigten, wie systematisch Verbrechen begangen wurden, wie Schreibtischtäter, Unternehmer und viele sehr freiwillige Helfer mit dabei waren, als es an das Vertreiben, Ausplündern und Ermorden von Millionen Menschen ging.

Eine Reihe, die auch Siegfried Lokatis schon in seiner Studienzeit begleitete, denn bei Hanns Mommsen studierte er Geschichtswissenschaft und promovierte mit der Dissertation „Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im ‚Dritten Reich‘“. Das Thema war ihm also nicht fremd.

Ausstellungseröffnung mit Siegfried Lokatis. Foto: Ralf Julke
Bei der Ausstellungseröffnung mit Siegfried Lokatis. Foto: Ralf Julke

Und die Reihe war keine Nischenserie für Spezialisten. Die einzelnen Titel erreichten Auflagen von 10.000, 20.000, sogar 60.000 oder 100.000. Sie standen und stehen also in vielen deutschen Bibliotheken und Studierzimmern.

Das darf nicht vergessen werden

Und das hat natürlich mit Walter Pehle zu tun, der diese Reihe ins Leben rief und konzipierte. Wie viele Titel darin am Ende erschienen, kann auch Lokatis nicht sagen. Nicht mal im Verlagsarchiv von S. Fischer sind sie alle noch zu finden. Siegfried Lokatis geht davon aus, dass mindestens 210 Titel in der Reihe erschienen. Es könnten auch 240 gewesen sein. Manches konnte in Antiquariaten und bei ebay noch aufgestöbert werden.

Natürlich ist die Reihe selbst wieder ein Forschungsobjekt. Denn sie spiegelt auch die Diskussionen der Historiker in dieser Zeit, arbeitet die Judenverfolgung auf und ist seitdem eine Bibliothek geworden, an der auch all jene nicht mehr vorbeikommen, die so gern den Mantel des Vergessens über die zwölf Jahre NS-Diktatur und ihre Verbrechen breiten würden.

Bis 2011 betreute Walter Pehle die Reihe.

Zur Eröffnung der Ausstellung am 21. April war auch Dr. Annegret Schüle vom Erinnerungsort Topf & Söhne aus Erfurt nach Leipzig gekommen. Ein Erinnerungsort, der vielen Erfurtern wie ein Stachel im Fleisch sitzt. Denn Topf & Söhne waren es, welche die großen Verbrennungsöfen und Belüftungssysteme für die Vernichtungslager der Nazis bauten.

Daran möchte man eigentlich nicht so gern erinnert werden. Aber gerade daran muss erinnert werden. Der Erinnerungsort ist heute ein Lernort, sagt Schüle.

Aber es sieht so aus, als würde er auch zum Studienort werden. Denn Walter Pehles Bibliothek hat nach dessen Tod 2021 dort ein neues Zuhause gefunden.

Im Angesicht des Erinnerungsortes

Wie umfangreich die von ihm herausgegebene „Schwarze Reihe“ wurde, zeigen seit Freitag, dem 21. April, die 13 Schaufenster des „Pilot“. Etwas anders angeordnet, als es sich Siegfried Lokatis anfangs dachte. „Dass wir hier direkt auf das Erinnerungsmal für die Synagoge schauen, war mir vorher gar nicht so bewusst“, sagt er.

Also wurde noch beim Aufbau umdisponiert und die Buchtitel, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, kamen in die Schaufenster zur Gottschedstraße. Da sieht man die Augenzeugenberichte der Überlebenden, die Zeugnis ablegen von dem, was ihnen geschehen ist. Man sieht die wissenschaftlichen Titel, in denen die Vernichtungsmaschinerie des NS-Reichs systematisch erhellt wurde. Man findet auch ein relativ buntes Schaufenster mit den Titeln des Historikers Götz Aly.

Aber auch der Koffer fällt auf, um den sich vor allem die Titel jener jüdischen Menschen gruppieren, die aus dem Nazireich flohen – oft nur mit dem bisschen Habe, das in einen Koffer passt. Und mit den Büchern von Ernst Klee wird hier auch die bitter nötige Aufarbeitung sichtbar, die zeigte, wie Nazi-Täter in der alten Bundesrepublik wieder Karriere machten und ihre Verwicklung in die Verbrechen des NS-Reiches so gut wie möglich vertuschten oder verklärten.

Natürlich hat auch der Historiker Walter Pehle ein eigenes Fenster, denn er nutzte die Reihe natürlich auch, um eigene Arbeiten zu veröffentlichen.

Die verschonten Täter

Und so wie Siegfried Lokatis wird es vielen gehen, die sich die Titel aus dieser Reihe womöglich antiquarisch beschaffen oder in einer großen Bibliothek bestellen: Sie werden erschüttert sein.

Erst recht, wenn ihnen bislang gar nicht bewusst war, wie sehr gerade die Gesellschaft der alten Bundesrepublik die Aufklärung der Nazi-Verbrechen verweigerte, wie viele Täter ungeschoren davon kamen und wie stark noch Anfang der 1970er Jahre das Bemühen der etablierten konservativen Elite war, den Nationalsozialismus mit Schweigen zuzudecken, also – wie das auch noch in den 1990er Jahren oft noch formuliert wurde – „einen Schlussstrich darunter zu ziehen“.

Was auch mit der etablierten Allein-Schuld-Theorie zu tun hatte, die konservative Akteure geradezu pflegten. Denn danach war ganz allein Adolf Hitler schuld an allem und alle anderen waren nur Befehlserfüller, bestenfalls Mittäter, ins Verderben gezogen, aber ganz bestimmt nicht voll schuldig. Eine Märchenerzählung, die heute wieder in rechtsextremen Kreisen kursiert und mit der jüngere Generationen verblödet werden sollen nach dem Motto: „Mein Opa war kein Täter …“

Das wird sicher auf viele Großväter zutreffen, aber es dient vor allem der Verschleierung, dass eine ganze Reihe höchst verantwortlicher Großväter eben doch Täter und Verbrecher waren. Und die meisten von ihnen ohne Strafe davongekommen sind und ihre Gesinnung nach 1945 wieder emsig unter die Leute bringen konnten.

Analog im „Pilot“ und online

Genau das macht die „Schwarze Reihe“ sichtbar. Es lohnt sich durchaus, dieser Tage im Freisitz vor dem „Pilot“ zu sitzen und die Texte in den Schaufenstern zu studieren und die Buchtitel zu lesen.

Und wer eine Übersicht finden möchte, die zeigt, was die Leipziger Buchwissenschaft seit 2007 alles auf die Beine gestellt hat, findet sie auf der interaktiven Google-Karte.

Da sieht man auch die großen Linien, welche die Arbeit von Siegfried Lokatis in Leipzig prägten – die Erforschung der Verlagsgeschichte der namhaften ostdeutschen Verlage, deren Bestände heute im Bibliotop ein Zuhause gefunden haben.

Nicht zu vergessen die intensive Beschäftigung mit der Zensurpraxis in der DDR, die so vielen Autorinnen und Autoren das Leben und Arbeiten erschwert hat.

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