Polizei und Rettungskräften bot sich vor Ort ein schreckliches Bild: Nach einem mutmaßlichen Tötungsdelikt in der Eisenbahnstraße vor zehn Monaten steht der Tatverdächtige seit Mittwoch vor dem Landgericht Leipzig. Der damals 41-Jährige soll einen sieben Jahre älteren Mann mit einem Messer so schwer verletzt haben, dass er Monate später an den Folgen verstarb. Die Verteidigung deutete zum Prozessbeginn eine mögliche Notwehrsituation an.

In der Nacht auf den 29. Juni 2024 wurden Polizei und Rettungskräfte in die Leipziger Eisenbahnstraße alarmiert: Etwa 00:58 Uhr, so die Anklageschrift am Mittwoch im Landgericht, soll der jetzt des Totschlags verdächtigte Kemal A. das 48 Jahre alte Opfer auf der Straße in Höhe einer Bar mit einem Messer, Klingenlänge achteinhalb Zentimeter, in den Rücken und Kopf gestochen haben. Dies habe dem Betroffenen erhebliche Verletzungen zugefügt.

Opfer kam nicht mehr zu Bewusstsein und starb Monate später

Der Geschädigte schleppte sich noch in einen Hinterhof, wo er dann zusammensackte. Nach einer Erstversorgung und einer Not-OP musste der Libyer in ein künstliches Koma versetzt werden: Er hatte laut Anklage neben Schwellungen und offenen Wunden auch Schlaganfälle auf beiden Hirnhälften sowie einen Blutungsschock und Sauerstoffschaden erlitten.

Zu sehen sind Polizei und Rettungskräfte am Morgen des 29. Juni 2024 auf der Eisenbahnstraße. Foto: Tom Richter
Polizei und Rettungskräfte am Morgen des 29. Juni 2024 auf der Eisenbahnstraße. Foto: Tom Richter

Nach 49 Tagen in einer Klinik kam der Geschädigte in eine Pflegeeinrichtung. Am 17. Dezember 2024 verstarb er an Infektionen und Entzündungen infolge des Angriffs, ohne vorher noch einmal das Bewusstsein zurückerlangt zu haben. Die Ermittlungen wurden nun nicht mehr wegen versuchten, sondern vollendeten Totschlags geführt.

Der Angeklagte Kemal A. habe genau gewusst, dass seine Messerattacke einen Menschen töten könne und dies zumindest billigend in Kauf genommen, so Staatsanwalt Moritz Diekmann. Ein eventuelles Motiv für die angenommene Bluttat des LKW-Fahrers nannte er in der Anklage nicht.

Vorwürfe der Verteidigung: Wurde etwas vertuscht?

Kemal A. hatte sich einen Tag nach dem Vorfall auf dem Polizeirevier Leipzig-Zentrum gestellt. Ein Umstand, den die Verteidigung am Dienstag so erklärte: Ihrem Mandanten sei daran gelegen gewesen, den Sachverhalt ehrlich aufzuklären. Er habe gegenüber den Kripobeamten eine Notwehrsituation geltend gemacht, sagte Rechtsanwältin Antonia von der Behrens im Namen des Angeklagten. Der heute 42-Jährige habe der Polizei, die zu diesem Zeitpunkt noch keine heiße Spur hatte, womöglich aufwendige Ermittlungen erspart, indem er sich stellte.

Hingegen sei er nach dem Geschehen gerade nicht in sein Heimatland geflüchtet, obwohl er als Staatsbürger der Türkei nicht von dort hätte ausgeliefert werden können. Aus ihrer Sicht spreche viel dafür, dass etwas vertuscht werden sollte, so von der Behrens: Es seien etwa Spuren vor Ort durch Dritte auffallend schnell beseitigt worden und Ermittler hätten es mit einer „Mauer des Schweigens“ zu tun gehabt, obwohl es in der lauen Juninacht, in der noch viel los war, genug potenzielle Zeugen hätte geben müssen.

Bilder zeigen in der Tat eine große Menschenmasse, die sich während des Großeinsatzes auf der Straße versammelte. Die Spurensicherung war bis zum Morgen vor Ort beschäftigt.

Selbst äußern wollte sich der Angeklagte am Mittwoch zunächst noch nicht. Er werde dies aber wohl am nächsten Verhandlungstag tun, so seine Verteidigerin. Die 16. Strafkammer des Landgerichts hat zur Klärung des Geschehens eine Vielzahl von Prozessterminen bis Ende August anberaumt.

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