Es stimmt einfach nicht, wenn gerade Fraktionen aus dem konservativen Spektrum des Stadtrates immer wieder beklagen, es würde im Stadtrat zu viel diskutiert, die Tagesordnungen seien zu aufgebläht und die Tagungen würden ausufern. Manchmal muss man auch in so einem Gremium erkennen, dass mit der Stadt auch die Aufgaben gewachsen sind. Und wenn man nicht rechtzeitig diskutiert, kommt ein langer und quälender Prozess wie in der Jugendhilfeplanung dabei heraus. Die stand am Donnerstag, 22. Juli 2021, auf der Tagesordnung.

Denn das Dezernat Jugend, Schule und Demokratie hatte endlich das 300 Seiten dicke Paket zur „Integrierten Kinder- und Jugendhilfeplanung der Stadt Leipzig“ vorgelegt, ein Papier, das sich der Stadtrat schon 2017 bestellt hatte und auf dessen Fertigstellung alle schon 2020 erwartet hatten.Eigentlich kochte die Sache seit 2011. Damals sorgte eine Kürzung im Landeshaushalt dafür, dass den Trägern der freien Jugendhilfe auf einmal riesige Löcher in ihren Etats entstanden. Die Stadt sprang zwar ein und der Stadtrat sorgte für einen finanziellen Ausgleich, wohl wissend, dass die Sache damit nicht gelöst war. Denn das Land ließ die Kommunen bei diesem wichtigen Thema auch auf anderer Ebene allein.

Christina März (SPD). Screen Livestream

Christina März, die am Donnerstag für die SPD-Fraktion sprach, benutzte dabei einen sehr treffenden Begriff – und damit sind nicht die grauen Haare gemeint, mit denen sie Heiterkeit in den Tagungssaal brachte, sonderen das durchaus treffende Wort „herkunftsbedingte Benachteiligung“.

Denn spätestens, als innerhalb der Jugendhilfe das Budget für die „Hilfen zur Erziehung“ völlig entfesselt aus dem Ruder lief, wurde auch noch dem letzen Mitglied im Jugendhilfeausschuss des Stadtrates klar, dass es letztlich immer wieder die selben gesellschaftlichen Gruppen sind, in denen sich die persönliche und finanzielle Überforderung der Eltern auch in komplexen Problemlagen der Kinder manifestierte.

Nicht nur über die Spitze des Eisbergs reden

Die „Hilfen zur Erziehung“ und der teuerste Teil dabei, die stationäre Unterbringung der Kinder außerhalb der Familien, sind nur die Spitze des Eisbergs. Jahrelang setzte gerade der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) darauf, betroffene Kinder möglichst aus ihren Familien zu nehmen, sie damit gewissermaßen „in Sicherheit“ zu bringen.

Was auch wieder eine sehr logische Entwicklung war, wenn man sich daran erinnert, wie empört ganze Milieus vor Jahren immer wieder reagierten, wenn Kinder in Familien mit Gewalt- und / oder Suchtproblemen ums Leben kamen. Warum hat das Jugendamt da nicht rechtzeitig reagiert, hieß es dann meistens. Und Boulevardblätter inszenierten eine regelrecht Jagd auf die „saumseligen“ Jugendamtsmitarbeiter/-innen.

Michael Schmidt erzählt als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses die lange Vorgeschichte der integrierten Jugendhilfeplanung. Foto: Livestream, Screenhot LZ

Manchmal übersieht man solche simplen Logiken, die unsere Gesellschaft am Ende so unlogisch machen.

Richtig teuer wurde es für Leipzig, als das Jugendamt immer mehr Kinder in Wohnungen außerhalb Leipzigs unterbringen musste. Der Prozess hatte sich gewissermaßen verselbstständigt, ohne dass die zugrunde liegenden Probleme gelöst wurden. Denn wenn Budgets jedes Jahr um Millionenbeträge wachsen, ohne dass die Zahlen der Betroffenen sinken, dann hat sich ein Prozess verselbstständigt.

Und im Jugendhilfeausschuss war schon 2017 klar, dass man das allein mit der Stellschraube „Hilfen zur Erziehung“ nicht lösen konnte. Gerade in der Diskussion über die Strukturen im Jugendamt wurde bald klar, dass viele Ämter ziemlich kommunikationslos nebeneinanderher arbeiteten.

Und sichtbar wurde auch schon früh, dass auch die Betreuung der betroffenen Kinder und ihrer Familien losgelöst nebeneinanderher liefen. Die Kinder wurden separiert, die Eltern aber bekamen trotzdem keine abgestimmten Hilfsangebote. Die Forderung, die Betreuung in einer Hand zu koordinieren, wurde immer lauter.

Die Hilfsangebote müssen im Ortsteil entstehen

Aber es stellte sich auch bald heraus, dass gleich vier Rahmenpläne aus der Jugendarbeit endlich zusammengeführt werden mussten. Karsten Albrecht, der für die CDU-Fraktion sprach, benannte vor allem, die Jugendfreizeitzentren, die viel stärker ihre Vermittlerrolle im Ortsteil wahrnehmen müssen. Denn wenn man verhindern will, dass Kinder als letzte Notlösung aus ihren Familien genommen werden müssen, braucht es frühzeitig Kontakt zu niedrigschwellingen Unterstützungsangeboten.

Und die Hilfe brauchen nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern. Denn wenn die Kinder so massive soziale Probleme bekommen, dass der Allgemeine Soziale Dienst tätig werden muss, dann erzählt das auch davon, dass die Eltern zuvor oft jahrelang ziemlich allein mit ihren Problemen kämpfen mussten, egal, ob das finanzielle Probleme waren, die Überforderung, sich im Amt die nötige Unterstützung zu beantragen, persönliche Probleme, Suchtprobleme oder fehlende Erfahrungen mit friedlichen Konfliktlösungen.

Auch Eltern brauchen oft Hilfe

Es hilft nichts, sich nur um die Kinder zu kümmern. Ohne echte Unterstützungsangebote für die Eltern wird Leipzig die Sache nicht meistern. Und so bekommt Leipzig jetzt mit diesem Paket ein wohl für Bundesverhältnisse absolutes Novum, wie es Michael Schmidt, jugendpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion und Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses, benannte. Vier Einzelpläne gebündelt in einer integrierten Jugendhilfeplanung.

Und die soll möglichst früh und möglichst niedrigschwellig und barrierefrei ansetzen – nicht nur in den Ortsteilen – von denen einige bisher völlig „unter dem Radar liefen“, wie Christina März es ausdrückte, Mockau zum Beispiel. Aber da geht es eben nicht nur um Jugendfreizeittreffs. Die können zwar den Kontakt zu den Jugendlichen knüpfen.

Aber die Eltern erreicht man damit eher nicht. Die erreicht man eher über Kindertagesstätten, von denen ja einige inzwischen zu solchen Anlaufpunkten in bestimmten Ortsteilen ausgebaut wurden. Denn natürlich gehen ja gerade Eltern, die wirklich einen Berg von Problemen wälzen müssen, eher nicht in ein Amt. Dafür ist allein die psychologische Schwelle meist zu hoch.

Es braucht also deutlich mehr wirklich niedrigschwellige Kontaktmöglichkeiten, vielleicht auch in den Schulen (die sich teilweise ja auch schon zu Stadtteilzentren mausern) oder in Stadtteilbegegnungsstätten, wo entsprechende Hilfsangebote einfach selbstverständlich angeboten werden. Was eher eine Aufgabe für freie Träger der Jugendhilfe oder der Familienhilfe wäre.

Hier trifft wieder das viel zu oft missbrauchte Wort von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu, das unsere neoliberalen Reformkünstler ja meist interpretieren in der Variante „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner.“

Persönlichkeiten stärken, eine echte Aufgabe

Die Vorlage beschreibt das Ziel des Pakets eigentlich recht schön: „Mit der vorliegenden Integrierten Kinder- und Jugendhilfeplanung wird das Ziel verfolgt, die Lebensqualität für jungen Menschen und deren Familien in Leipzig nachhaltig zu verbessern. Mit einem sinnstiftenden, wertevermittelnden und persönlichkeitsfördernden Freizeit-, Kultur- und Sportangebot, welches den Lebenswelten junger Menschen entspricht sowie spezifischen individuellen Hilfsangeboten soll jungen Menschen in Leipzig Teilhabe ermöglicht und Chancengerechtigkeit gewahrt werden.“

Da betonte Karsten Albrecht zwar nur zu gern die Formel von der Wertevermittlung und Persönlichkeitsförderung, in Wahlprogrammen ja beliebte Formeln bei der CDU.

Aber tatsächlich umreißt es ein völlig anderes Arbeitsfeld, geht es eben darum, die „herkunftsbedingt benachteiligten“ Familien zu stärken, den Menschen darin – den Eltern und den Kindern – mehr (Selbst-)Vertrauen und Zuversicht zu geben und ihnen wirklich zu helfen, über die gewaltigen Barrieren zu kommen, die eine elitäre und auf Ausgrenzung bedachte Gesellschaft erst errichtet hat.

Was man eben nicht erst im ASD merkt oder in den Frauenhäusern, sondern auch schon bei der Einschulung der Kinder, wo die einen schon alle Power mitbringen, um bis zu Studium durchzusausen. Und die Kinder aus den benachteiligen Familien kommen mit Lernrückständen bei Sprache, Sozialverhalten, Kompetenzen in die erste Klasse, so extrem, dass die Lehrer/-innen da schon wissen, dass diese Kinder ohne echte Hilfe nie im Leben auf ein Gymnasium kommen und möglicherweise auch die zehnte Klasse nicht schaffen.

Wenn eine Stadt die Baufehler der Gesellschaft reparieren muss

In ziemlich weitreichendem Ausmaß ist die Jugendhilfe in einer Stadt wie Leipzig dafür zuständig (gemacht worden), irgendwie die ganzen Defizite zu lindern, die eine auf soziale Auslese bedachte Gesellschaft erst angerichtet hat.

Und dieses Ziel betont die Vorlage auch extra: „Die Integrierte Kinder- und Jugendhilfeplanung zielt direkt auf Chancengerechtigkeit und gemeinschaftliche Quartiersentwicklung in Leipzig ab. Mit unseren Partnerinnen und Partnern der Stadtentwicklung und -planung werden Zukunftskonzepte der sozialen Infrastruktur entwickelt, die sowohl in den konkreten Sozialraum als auch stadtweit von Bedeutung sind und den Menschen soziale Stabilität und Wohlbefinden ermöglichen. In diesem Zusammenhang steht die Integrierte Kinder- und Jugendhilfeplanung auch direkt in Abstimmung mit der Schulentwicklungsplanung und der langfristigen Infrastrukturplanung im Bereich der Kindertageseinrichtungen.“

Das hätte man sich im Amt für Stadtsanierung und Wohnungsbauförderung (ASW) auch nicht träumen lassen, dass man auch mal bei der Jugendhilfe mitmachen muss. Aber die Logik ist eindeutig: Es braucht genau diese Angebote auf Ortsteilebene – und zwar nicht nur in Grünau, Paunsdorf oder in der Eisenbahnstraße. Christina März nannte nicht ganz grundlos auch Gohlis, denn in manchen Ortsteilen sind die Problemlagen nicht so offen sichtbar. Aber die Lehrer/-innen in den Grundschulen und die freien Träger der Jugendhilfe wissen trotzdem, dass sie da sind. Und dass sie noch viel mehr barrierefreie Zuhänge für die Betroffenen brauchen.

Überarbeitete Fassung schon 2026

Im Grunde hat der Stadtrat am Donnerstag nicht nur diese erste wirklich integrierte Jugendhilfeplanung für Leipzig beschlossen, sondern auch gleich noch deren Evaluierung (durch die HTWK) und eine Novellierung in fünf Jahren, die – so Michael Schmidt – sich durchaus unterscheiden kann vom jetzt vorgelegten Paket. Denn natürlich ist das ein Lernprozess, bei dem sich auch erst herausstellen muss, welcher Teil besonders gut funktioniert – und welcher nicht.

Irgendwie versteht man sogar, warum die Stadtverwaltung 2020 auf einmal das große Fracksausen bekam und den Prozess völlig unerklärt einfach abbrach, sodass auch der Jugendhilfeausschuss praktisch ein Jahr lang zur Tatenlosigkeit verdammt war. Erst die neue Jugendbürgermeisterin Vicky Felthaus, die zuvor schon in der AG Wohlfahrtspflege in den Prozess eingebunden war, brachte die Sache wieder in Gang und ermöglichte auch dem Jugendausschuss, seine Erfahrungen in das Papier einzubringen, so dass es am Donnerstag fast klang, als würde eigentlich das Arbeitsergebnis des Jugendhilfeausschusses beschlossen.

Und es war – wie auch bei anderen wichtigen Entscheidungen an diesem Tag: Es gab keine Widerrede, keine Nörgelei und Schmoll-Wortmeldung. Das Paket wurde ohne Gegenstimmen einmütig vom Stadtrat angenommen.

Die Debatte vom 22. Juli 2021 im Stadtrat

Video: LZ

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