1997 begann der Hamburger Neonazi Christian Worch mit seinen Aufmärschen in Leipzig. Jeweils am 1. Mai und 3. Oktober wollten er und die Neonazis das Völkerschlachtdenkmal erreichen. Dagegen formierte sich in der Leipziger Stadtgesellschaft von Anfang an Widerstand – so auch am 1. Mai 1998. Um 10:00 Uhr gab es in der Thomaskirche ein Friedensgebet, danach folgte die Kundgebung auf dem Marktplatz mit anschließender Demonstration. Eine Woche zuvor hatte bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt die rechtsradikale DVU (finanziert vom Alt-Nazi Gerhard Frey) 12,9 Prozent der Wähler/innenstimmen erhalten.

Im Friedensgebet habe ich die folgende Ansprache gehalten:

Er passt – der Leitspruch für den Monat Mai – ein Wort des Apostel Paulus: Täuscht euch nicht: Gott läßt keinen Spott mit sich treiben; was der Mensch sät, wird er ernten. (Galater 6, 7)

Getäuscht haben wir uns alle. Über Jahre hinweg! Irgendwie wollten wir das einfach nicht wahrhaben mit dem Rechtsradikalismus. Warum sonst haben wir die Zeit zwischen dem 1. Mai 1997 und dem heutigen Tag fast tatenlos verstreichen lassen? Wir haben verdrängt, dass ein Jahrzehnt Massenarbeitslosigkeit mehr ist als ein bedauerlicher ökonomischer Fakt.

Wir haben gedacht und gehofft, dass die Marktwirtschaft auf Dauer Millionen erwerbsloser Menschen verkraften, finanzieren und von dummen Gedanken abhalten kann. Und irgendwie haben die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft tatsächlich geglaubt, dass die Menschen ihnen das abnehmen: Arbeitsplätze versprechen und dennoch die Schlangen vor den Arbeitsämtern wachsen lassen.

Aber nun, spätestens seit dem vergangenen Sonntag, hat sich wieder einmal bewahrheitet: Was der Mensch sät, wird er ernten. Wer Erwerbslosigkeit als angeblich notwendigen Bestandteil des Wirtschaftssystem hinnimmt, wer jahrelang zusieht, wie Tausenden von jungen Menschen Ausbildung verweigert wird, wer es akzeptiert, dass Einfachstarbeitsplätze ersatzlos und en masse gestrichen werden, der erntet nicht nur erwerbslose Menschen.

Er erntet auch Menschen, die innerlich und äußerlich aus dem Gleichgewicht geraten, verwahrlosen. Und er erntet Menschen, die nicht einsehen können, dass diejenigen, die sie für ihre soziale Demütigung verantwortlich machen, von ihnen auch noch verlangen, sich politisch korrekt zu verhalten. Er erntet Menschen, deren Wertesystem sich dramatisch verschiebt. Er erntet genau das, was wir Rechtsradikalismus nennen.

Aber ist das so überraschend? Wundert uns, dass auf dem Nährboden sozialer Deklassierung und im Vakuum ethischer Maßstäbe all das wächst, was den Rechtsradikalismus ausmacht: Gewalt, Fremdenhass, Nationalismus, dumpf-aggressives Deutschtum? … Wer eine Gesellschaft sät, in der Reichtum und Armut gleichermaßen wachsen, der darf sich nicht wundern, dass er eine Gesellschaft erntet, in der wir mit einem erheblichen Teil der Menschen nichts mehr zu tun haben – und die mit uns und dem, was uns wertvoll und heilig ist, auch nichts mehr zu tun haben wollen.

Was der Mensch sät, wird er ernten …

Die hohe Arbeitslosigkeit und die damit verbundene soziale, auch moralische Demütigung, der Verlust des Selbstwertgefühls – das ist ein hervorragender Nährboden für das widerliche Geschäft der Neonazis.

Und nun hilft es uns wenig, darauf zu setzen, dass der Herr Frey und seine Marionetten nichts, aber gar nichts für die Arbeitslosen tun können – es sei denn, die Wählerinnen und Wähler geben – was Gott verhüten möge! – diesen Gruppierungen irgendwann die Chance, Autobahnen und Bunker zu bauen. Nein – die brutalen Plattheiten des Herrn Frey und die Inkompetenz der Rechtsradikalen können eine Erfahrung nicht vertuschen: der Erwerbslose verdankt seine Arbeitslosigkeit nicht dem Herrn Frey.

Sein sozialer Abstieg hat sich unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie vollzogen. Er macht die für seine Lage verantwortlich, die die demokratischen Parteien repräsentieren. Hören wir also auf, uns zu täuschen: Wer Menschen aus dem gemeinschaftlichen Leben ausgrenzt, auf den rollen die Folgen zu. In dieser Situation sind wir. Doch Vorsicht: So wichtig Erklärungen für die derzeitige Situation sind, so wenig dürfen sie mit Rechtfertigung rechtsradikaler Parolen verwechselt werden. Wer rassistische Slogans, antidemokratische Sprüche verbreitet und diese noch gut findet oder ihnen allzu verständnisvoll begegnet, dem müssen wir entschieden, unmissverständlich entgegentreten: Gott läßt keinen Spott mit sich treiben.

Mit Gott Spott treiben – das bedeutet vor allem:

Die Dinge einfach treiben lassen, sich nicht mehr durch Gottes Gebote zur Ordnung rufen; sich nicht durch seine Gerechtigkeit aufrichten lassen; nicht mehr nach den Folgen fragen, nur noch eigensüchtig auf seinen Vorteil bedacht sein. Mit Gott Spott treiben – das geschieht da, wo Parteien und Gruppierungen sich die Parolen der Rechtsextremisten auf die Fahnen schreiben, weil das angeblich die Stimmung im Volke trifft.

Um Gottes Willen – wer das tut, der wird noch mehr rechts-braune Gesinnung ernten. Als Christen, als Demokraten sind wir verpflichtet, Haltung zu bewahren: an der DVU oder NPD ist nichts Gutes, nichts zu Rechtfertigendes. Darum sollten wir in der politischen Auseinandersetzung auch nicht zu behutsam mit denen umgehen, die auf diese Propaganda hereinfallen: Die Erfahrung der Erwerbslosigkeit rechtfertigt nicht, Asylheime zu überfallen, Ausländer zusammenzuschlagen, die Demokratie in den Dreck zu ziehen und auf Maßstäbe der Liebe und Gerechtigkeit zu verzichten.

So ist von uns allen heute und in Zukunft zweierlei gefordert: Liebe und Festigkeit. Courage und Mitleidenschaft. Liebe – wir geben niemanden auf: den kriminell gewordenen Ausländer nicht und den neonazistischen Gewalttäter nicht. Aber niemals werden wir deren Denken und Tun rechtfertigen. Liebe und Festigkeit – wie Jesus haben wir die Menschen in ihrer Bedürftigkeit anzunehmen, aber genauso müssen wir uns selbst und andere auf den Weg der Gerechtigkeit bringen, diese unermüdlich einklagen und Entscheidungen fordern. Also lasst uns Liebe und Festigkeit, diese guten Gaben Gottes, säen! Lasst uns aber auch Arbeit und Bildung säen! Lasst uns Wertmaßstäbe säen, die den Menschen ermöglichen, in Liebe und Festigkeit einen Lebensgewinn zu sehen und diesen anzunehmen! Amen.

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Es gibt 3 Kommentare

Festigkeit als Standhaftigkeit begriffen. Sich nicht verbiegen lassen, auch wenn die Zeiten schwere sind. In Liebe zu Bedrängten stehen, als Ausdruck der eigenen Zivilcourage.
Dazu muss man kein christliches Weltbild haben, der Glaube an das Gute im Menschen und das Wissen um die Verführungskraft vermeintlich einfacher Lösungen, ist ein vereinender Grundsatz einer Gesellschaft von Menschen für Menschen, lebenswert und einander zugewandt.
Dankeschön, lieber Christian Wolff, für die Erinnerung an die Zeit am Ende des Jahrzehnts nach der Wende. Ihre Gedanken von damals, heute noch genauso aktuell.
Die Stimmen damals waren laut, den Worch, der mit der Ansage nach Leipzig kam, eine national befreite Zone zu schaffen, einfach zu ignorieren und machen zu lassen.
Also in der Konsequenz, ihn und seine gesellschaftszerstörerischen Absichten und Ziele, unwidersprochen hinzunehmen.
Ob die Mehrheit der Dresdner Bürger mit Pegida glücklicher ist, ich weiß es nicht.
Aber, dass Leipzig eine weltzugewandte und lebenswerte Heimat für alle Menschen, die hier wohnen und auch miteinander leben wollen, ist und bleibt, muss immer wieder neu verteidigt werden.
Das Worch und seine verschiedenen Rechtsparteiunternehmungen bis hin zu Legida, mit den dahinterstehenden machtpolitischen und eigenenfinanziellen Absichten, keinen Fuß in Leipzig fassen konnten, ist dem unermüdlichen Einsatz Einzelner und dem gemeinsamen Widerstand aller Widerständigen, in ihren verschiedenen Aktionsformen zu verdanken.

PS: ..und nicht denen, die Hass, Gewalt und Ohnmachtsgefühle für ihre eigenen Interessen anheizen wollen (und das leider egal, welcher Partei sie offiziell zugehören). Veränderung der Gesellschaft hin zu einem lebenswerten Leben ist das Ziel. Nicht die Menschen müssen geändert werden, sondern die Bedingungen unter denen sie leben müssen, gemeinsam konstruktiv und dem Einzelnen gegenüber respektvoll. Und dazu gehört das Erinnern, um die Stärke und Kraft des Erlebten immer wieder neu zu wissen und weitergeben zu können.

“Die Erfahrung der Erwerbslosigkeit …” – Was verabreichen die Sozen diesem zugereisten Pfaffen, dass dieser sich so gegen das einheimische, sich alternativlos in spätrömischer Dekadenz suhlende, aber auch hartnäckig nach Anschlussverwendung suchende, alte Humankapital öffentlich entpfaffelt?

Mein zugereister “Hirte” im Schafspelz, auch Du wirst hoffentlich noch in diesem Deinem Dasein, wie die “Hartzer” jetzt schon, erkennen werden müssen, “dass es Tage gibt, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht (Vers eins, Prediger fünnef – Hannes Hegen – Mosaik – Im wilden Westen)”.

Apropos: “Liebe und Festigkeit”- mit zunehmendem Alter haperts öfter an der Festigkeit …

Und so lobet den neuen Tag und meinen Nachbarn Herrn Schulze: letzterer hat versprochen, endlich die Treppe zu machen …

Mit ähnlichen Gedanken im Hinterkopf und treibende Kraft habe ich 1992 eine Betriebsversammlung organisiert. Ich wurde kritisiert, daß es nicht reiche, “die Backen aufzublasen”. Man müsse dann auch pusten.
Haben wir. Naja, zumindest versucht. Mit neuen Ideen, mit Teilhabe, mit Ãœbernahme von Verantwortung. Gescheitert an fehlender Unterstützung von “Politik” (spezialdemokratischer Wirtschaftsminister und rechter SPD-Klüngel um Weißgerber & Co.) und Ideologie (Arbeitnehmer können kein Unternehmen inne haben und führen). Und “natürlich” am Geld. Also am System.

“Sein sozialer Abstieg hat sich unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie vollzogen. Er macht die für seine Lage verantwortlich, die die demokratischen Parteien repräsentieren. Hören wir also auf, uns zu täuschen: Wer Menschen aus dem gemeinschaftlichen Leben ausgrenzt, auf den rollen die Folgen zu. In dieser Situation sind wir.”
Auch heute noch.
Doch wo bleibt die Formulierung der Alternative in der Predigt? “Liebe und Festigkeit”? Genau: Fordern und Fördern.
Herr Pfarrer, es war ihre Partei, die die Situation nicht nur nicht entschärft sondern noch verschärft und zugespitzt hat. Mit Hartz I bis IV.
Scheinbar sind den damaligen (zum Zeitpunkt, zu dem die Predigt gehalten wurde) Gedanken keine neuen hinzugekommen.
Menschen waren schon immer so: sie suchen sich ein Ventil. Wenn man schon auf die Schnauze bekommen hat, hält man diese nicht nochmal hin sondern sucht sich ein “Erfolgserlebnis”. Das findet man dann bei denen, die schwächer sind als man selbst. Das kann man (zu recht) brandmarken. Besser wäre es, Alternativen zu suchen und zu benennen.
Daran, die Menschen zu ändern ist auch Marx gescheitert. Insofern scheint die Religion längere Erfahrung gesammelt zu haben haben, weshalb sie Verhaltensvorschriften aufstellt. Denn der Mensch ändert sich eh nicht. Doch ist es damit getan?
Wo ist die Formulierung der Alternative? Wenn Menschen sich nicht ändern, müssen sich die Bedingungen ändern, in denen sie sich bewegen. “Fordern und Fördern” ist ein zynischer Auswuchs dieser und der Versuch diese zu zementieren. Unter Inkaufnahme der Folgen.
Der formulierte Wunsch nach “Liebe und Festigkeit” ist nicht nur hilflos sondern mit ihm wird der Wunsch formuliert, es möge sich grundsätzlich nichts ändern und die Menschen mögen hinnehmen. In Ergebenheit. Und lieben. In Festigkeit. Amen.

Deshalb ergeht die Forderung auch an die Betroffenen. Die Verantwortlichen sollten nach dem Willen des Predigers in eine neue “Groko” gehen. Ja keine Veränderung….

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