Denken wir uns Schule einmal „zurück“, nur einmal und ganz kurz. Ich weiß, die Zeiten sind hart. Aber was waren das für Zeiten noch vor einigen Wochen. Leicht grummelndes Gefühl in der Magengegend, gepaart mit dem Selbstvorwurf, am Morgen doch nur ein trockenes Brötchen hinuntergewürgt und nicht „ordentlich“ gefrühstückt“ zu haben. Zu schauen, ob die Schultasche auch vollständig gepackt und die Zigaretten (das ist mein „Outing“ als zur „Risikogruppe“ gehörend) eingesteckt zu haben.

Beim Verlassen der Wohnung und zügigen Hinuntergehen zu schauen, ob das Fahrrad noch einsatzbereit und angeschlossen dasteht. Nicht geklaut. Dabei sich selbstkritisch überprüfend, ob man den Schützlingen in Klasse 9 den „Prometheus“ von Goethe auch tatsächlich auswendig-demonstrierend vortragen könne.

„Habe nun, ach ..:“ Ach nein, das war ja der „Faust“, Klasse 10. „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst …“. Stimmt beides mit Blick nach oben. So ist’s richtig. Jetzt nur noch den Schülern klarmachen, dass es ein Hymnus an die aufgeklärte Seele „Mensch“ ist, ein Unterdrückter, ein Gefesselter trägt ihn vor, dessen Stolz und Selbstbewusstsein durch keine Autorität zu brechen ist.

Musst mir meine Erde
Doch lassen stehen
Und meine Hütte die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.

DAS will man als Lehrer in der Schule zuallererst erreichen. Mit Leidenschaft werde ich die Zeilen vortragen, dass meine Schülerinnen und Schüler merken, dass ich genauso brenne wie der antike Titan Prometheus. „Vorausdenkend“ wie er will ich den Unterricht schon vorher in meinem Kopf ablaufen lassen. Wie wird mich Sophie dabei anschauen, oder Oscar? Etwas irritiert, weil sich der Lehrer da vorn so abschwitzt, aber dennoch anerkennen sie, dass er es FÜR SIE tut in dem Moment.

Er ist ein Prometheus en minature, im „Kreisklasse-Format“, ein Vor-Bild, ein voran-gestelltes Bild, welches entworfen wird, das sich der lernende Schüler dann vor-stellen kann. Das muss ich vermitteln: Aufbegehren gegenüber Autoritäten, aus demselben Geschlecht stammend, mit ähnlichen Wurzeln wie sie (nicht beste Schüler/-innen werden später gute Lehrer/-innen) und einem authentischen und wenn möglich mutigen Charakterbild im Kopf.

Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?

„Durchs Herz zum Kopf“ hätte es Schiller formuliert. Paradigmatisch als Aufforderung, humanistisch-selbstbewusste Menschen hervorzubringen, zu bilden. Mit Herz. Bilden – das heißt: Etwas wächst, etwas entsteht und gedeiht. „Das Wort ist Fleisch geworden“ würde es theologisch formuliert wohl ausgedrückt werden. Zu schwierig vielleicht, das als 14-jährige Schülerin und Schüler zu verstehen. Aber den „Auftrag“ an sich selbst, die Weitergabe des aufgeklärt-selbstbestimmten Handelns zum Wohle aller Menschen, der muss noch einmal eine hymnisch überhöhte Emphase erfahren:

Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!

„Niemand hat das Recht zu gehorchen“, so hat es die deutsch-jüdische Philosophie Hannah Arendt als Konsequenz fürchterlichen Untertanengeistes nach dem Holocaustverbrechen des 20. Jahrhunderts formuliert.

Und jetzt? Kein(e) Schüler/-innen, nirgends. Natürlich, in der Videokonferenz. Schnell in der App „Literature Online“ abrufbar. Man scrollt zu „Prometheus“, findet ein Bildchen, ach halt falsch, das war „Der Denker“ von Rodin – in der falschen App „Art Online“ gelandet – wieder zurück. Und dann rauf aufs „Youtube-Video“. Vorher noch schnell den Werbespot ausgehalten – „2 und 2 – das Frühlingsei – jetzt auch noch bis 10. Mai“ – „Überspringen“ – dann endlich erklärt mir der coole Student Roman hinter seiner Webcam, was beim Prometheus eigentlich wichtig ist. Goethe – Sturm und Drang – griechische Mythologie – Hymne – Definition Hymne – Erscheinungsjahr – Daumen hoch.

Und das nächste Mal dann „Die Leiden des jungen Werther“ als Lückentext, wenn Werther Lotte zum ersten Mal sieht oder sich wahlweise erschießt – zu gewinnen ist ein Vorstellungsgespräch für „Germanys craziest Poet“.

Es wird Zeit, dass wir wieder zurückkommen

Ich möchte wieder „richtiger“ Lehrer sein. Zuletzt habe ich gelesen: „Nach meiner festen Überzeugung sind es primär zwei Merkmale, die ein Lehrer mitbringen muss: Er muss einen Draht zu den Schülern haben und er muss sein Fach lieben. Wenn er dann noch Ideen zur Unterrichtsgestaltung mitbringt, kann eigentlich nichts schiefgehen.“

Geschrieben hat es ein „alter“ Pädagoge, Gottfried Böhme (*1951), ehemals Lehrer am Evangelischen Schulzentrum in Leipzig, er „erfand“ dort das Fach „Geist und Materie“ für seine Schüler/-innen. Formuliert seine Kritik am „Digitalisierungswahn“ in seinem neuesten Werk „Der gesteuerte Mensch – Digitalpakt Bildung eine Kritik“ (vorgestellt in der L-IZ am 22.03.2020) und wird nicht müde zu betonen, dass Bildung und Entwicklung von Persönlichkeit zuallererst off- und nicht online erfolgt. Erfolgen muss.

Das ist kein Aufstand „aus dem Altersheim“, welchen man unter Quarantäne stellen muss, das ist der Blick auf unsere heranwachsende Generation mit Herz und Weitblick. Ohne Angst haben zu müssen, keine „schöne Videokonferenz“ auf die Beine gestellt oder die Hausaufgabe auf der „Lernplattform“ vergessen zu haben. Die schnell geklickt, erledigt und abgehakt wird. Einsam – und offline oft verlassen. Bitte nicht mehr lange! Dann lieber wieder Grummeln in der Magengegend jeden Morgen. Mit „Draht“ zu den Schülern. Muss kein Breitband sein. „Bedecke deinen Himmel, Zeus …“

Eine zweckdienliche Verbindung: Corona trifft Biedermeier

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