Es wird ja heftig diskutiert unter unserem Beitrag „Maskenpflicht: Warum hat Sachsen aus einer Empfehlung des Robert-Koch-Instituts eine Pflicht gemacht?“. Mit Betonung auf „heftig“. Denn natürlich stimmt es: Der Lockdown, die vielen Kontaktsperren, auch die Maskenpflicht in ÖPNV und Geschäften greifen tief in unser Selbstbestimmungsrecht ein. Das ist ein kleiner, aber nicht unwichtiger Unterschied zu den Grundrechten, die dann meistens zitiert werden.

Wenn man all die Kommentare liest, fällt tatsächlich auf: Es wird gar nicht über Grundrechte diskutiert. Das tun ganz andere Leute – wie das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“, das seine für Montag, 20. April, angekündigte Versammlung nach dem Erhalt der „Ausnahmegenehmigung“ abgesagt hat.

Denn der Bescheid kam sehr kurzfristig und stellte schlicht unverschämte Bedingungen. Da haben ein paar sächsische Ordnungshüter die Corona-Einschränkungen schlichtweg dazu missbraucht, etwas zu fordern, was ihnen nicht zusteht: die namentliche Erfassung aller Demonstrationsteilnehmer.

Dieses Recht hat der deutsche Staat nicht. Denn es schränkt eindeutig die nach Artikel 8 des Grundgesetzes gewährte Demonstrationsfreiheit ein.

Irena Rudolph-Kokot vom Aktionsnetzwerk erklärte zu diesem obskuren Vorgang: „Der Bescheid, welcher uns eine ,Ausnahmegenehmigung‘ bescheinigte, beinhaltet eine für das Aktionsnetzwerk nicht tragbare Auflage, welche die Teilnehmenden der Versammlung zur Abgabe von personenbezogenen Daten gezwungen hätte. Dies ist aus unserer Sicht auch mit Blick auf die sonstigen Lockerungen, zum Beispiel bei epidemiologisch vergleichbaren Aktivitäten, wie dem Besuch von Wochen- oder Supermärkten, unverhältnismäßig. Wir prangern dies nicht nur als Ungleichbehandlung, sondern als Abwertung des Grundrechtes der Versammlungsfreiheit an.“

Jürgen Kasek, Rechtsanwalt des Netzwerks, ergänzte: „Wir zweifeln die Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung an und werden Rechtsmittel einlegen. An dieser Stelle appellieren wir an die Landesregierung, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit grundsätzlich wiederherzustellen und dieses Konstrukt der ,Ausnahmegenehmigung‘ abzuschaffen. Die Kommunen können und müssen aus unserer Sicht auf Grundlage des Versammlungsrechts handeln und nicht auf Grundlage der Entscheidungen der Gesundheitsämter.“

Mit der Corona-Schutzverordnung, die ab dem 20. April Gültigkeit erlangte, wurden Versammlungen wieder denkbar. Doch auch hier hat Sachsen eine Ausnahme gemacht: Versammlungen bleiben regulär verboten und können nur ausnahmsweise mit Genehmigung zugelassen werden.

„Das ist nichts anderes als eine autoritäre Anmaßung“, schätzt das Aktionsnetzwerk ein. „Es mutet wie ein schlechter Scherz an, wenn die Landesregierung behauptet, dass Versammlungen wieder möglich seien. Die Landesregierung wird ihrer Verantwortung zur Politikgestaltung nicht gerecht, wenn sie den Kommunen dieses in der aktuellen Form untaugliche Instrument für die Praxis vor Ort an die Hand gibt. Das ist im demokratischen Sinne schlicht verantwortungslos.“ Die komplette Wortmeldung von „Leipzig nimmt Platz“.

Aber der Vorgang macht deutlich, dass auch Regierungen gern notwendige Einschränkungen aufgrund einer Epidemie, wie wir sie gerade erleben, mit Maßnahmen verbinden, in denen der Staat einfach die Muskeln spielen lässt, autoritäre Elemente entwickelt und – statt sich auf das Wesentliche, die Epidemie, zu beschränken – seiner Kontrollwut freien Lauf lässt.

Ist das nun bei der Maskenpflicht in Geschäften und ÖPNV auch der Fall?

Die übrigens nicht nur in Sachsen ausgesprochen wurde, sondern mittlerweile auch in allen Bundesländern. Und das aus einem nachvollziehbaren Grund.

Wir haben die Corona-Epidemie nicht hinter uns gelassen. Auch wenn hunderte Clips skurrilster Experten und Theoretiker in den „social media“ das behaupten oder suggerieren.

Ich verlinke hier einfach noch einmal ein Video, das maiLab am 2. April veröffentlicht hat und in dem Mai Thi Nguyen-Kim sehr übersichtlich erklärt, warum all die Einschränkungen im Lockdown verhängt wurden, was sie erreichen sollen und wann wir mit einem Ende der Pandemie zu rechnen haben.

maiLab: Corona geht gerade erst los

Das war am 2. April. Da galten die meiste Einschränkungen gerade drei Wochen und noch niemand konnte wirklich sagen, ob das Ziel, die Ansteckungsrate unter 1 zu drücken, wirklich schon erreicht worden war. Deswegen gab es ja dann auch die Verlängerungen – erst bis zum Ende der Osterferien, jetzt bis zum 3. Mai.

Wenn man genau zugehört hat, weiß man, dass es auch danach nicht ohne Einschränkungen weitergehen wird. Welche fatale Entwicklungen es gibt, wenn man die Beschränkungen zu spät einführt, hat man in Italien, Spanien, den USA nur zu gut gesehen. Die dortigen Folgen kann man nicht wirklich als „normale“ Grippe bezeichnen.

Wirklich glimpflich sind bis jetzt tatsächlich vor allem die Länder davongekommen, die noch früh genug und sehr drastisch Kontaktbeschränkungen aller Art verhängt haben. Schönes Beispiel ist Griechenland, wozu am 22. April ein Beitrag in der „Zeit“ erschien.

Und auch Länder wie Italien oder Frankreich haben die Auswirkungen der Pandemie erst in den Griff bekommen, als sie sich zu einem rigirosen Shutdown entschlossen. Angeraten natürlich von Epidemologen, die wissen, mit welchen Mitteln man solche Epidemien überhaupt erst einmal in den Griff bekommen kann und gar zurückkommt in die auch von Mai Thi Nguyen-Kim erwähnte Phase 1, in der man wieder die volle Übersicht über alle Infizierten und alle Ansteckungswege hat.

Da sind wir noch lange nicht. Und einen Impfstoff gibt es auch noch auf absehbare Zeit nicht (auch wenn jetzt die erste klinische Prüfung dazu in Deutschland startet), genauso wenig wie die viel beschworene „Herdenimmunität“. Es kann also keine Rede davon sein, dass wir Corona „im Griff“ hätten. Und natürlich warnt das Robert-Koch-Institut nicht ganz grundlos davor, dass die jetzt beschlossenen Lockerungen die Infektionsrate wieder steigen lassen, dass sich also wieder mehr Menschen mit Corona infizieren, weil nun einmal mehr in Geschäften und ÖPNV unterwegs sind.

Da war der Gedanke nur zu logisch, dass man gerade dort Maskenpflicht einführt, um genau das zu verhindern.

Und wer mal ein bisschen unterwegs war in Leipzig in den letzten Tagen, hat etwas beobachtet, was es so noch nie gab: Lange, geduldig wartende Schlangen – vor Stoff- und Handarbeitsläden!

Die Leipziger/-innen basteln sich jetzt Masken. Vielleicht nicht alle.

Aber es sind ganz schön viele, die sich jetzt ihren eigenen bunten Mundschutz nähen wollen.

Was natürlich auch wieder ein gewisser Akt der Selbstbestimmung ist. Denn die aus China gelieferten Masken sind natürlich steril und ganz und gar nicht individuell. Und da bin ich jetzt beim Selbstbestimmungsrecht, das sich nur teilweise mit den Persönlichkeitsrechten aus dem Grundgesetz oder der Menschenreche-Charta deckt.

Denn darin spricht sich etwas aus, was über die elementaren Menschenrechte hinausgeht, auch über Artikel 2 des Grundgesetzes. Hier geht es um Dinge wie Souveränität, Individualität, das Gefühl, sein Leben wirklich selbstbestimmt zu leben und sich darin sonst keine Vorschriften von anderen machen zu lassen.

Was in einer bürgerlichen Gesellschaften alles nie ohne Einschränkungen geht. Darüber habe ich hier geschrieben.

Eine friedliebende Gesellschaft funktioniert nicht, wenn ihre Mitglieder aufeinander keine Rücksicht nehmen. Was wir übrigens für gewöhnlich ganz ohne Murren machen. Wir sind höflich zueinander, nehmen Rücksicht auf Schwächere, unterstützen einander, wenn wir Hilfe brauchen, spenden für gemeinnützige Initiativen usw. Der Mensch an sich ist ein solidarisches Wesen. Bis er verzogen wird und ihm eingeredet wird, er hätte anderen gegenüber irgendwelche Vorrechte, sei etwas Besseres, gar ein besonders toller „Leistungsträger“.

Da kann man ja nicht übersehen, wie der radikalisierte Wettbewerb auch diesen Egoismus befeuert und damit die versteckte und offene Rücksichtslosigkeit gegen andere. Dass es meist auch genau diese Leute sind, die sich ungerecht behandelt oder gar bevormundet fühlen, wenn man ihre Rücksichtslosigkeit auch nur verbal einzuschränken droht (Flugreisen, Tempolimit, Leerverkäufe von Aktien usw.), erzählt natürlich von einer massiven Entsolidarisierung durch Erziehung und Auslese. Dass solidarisches Verhalten gar als „Gutmenschentum“ schlechtgemacht wird, gehört auch hierher.

Corona legt also auch offen, wie solidarisch wir noch sind. Und ich habe so die starke Vermutung, dass nur jene menschlichen Gesellschaften überleben werden, die noch solidarisch sind. Denn solche Epidemien wie diese Coronawelle werden immer häufiger passieren. Genauso wie all die anderen Krisen im Gefolge von Artensterben, Überbevölkerung und Klimaerhitzung. Alles Krisen, die wir nur gemeinsam lösen können. Der „Markt“ richtet hier gar nichts mehr.

Aber sind nun die Maskenpflichten tatsächlich so radikale Eingriffe in wichtige Grundrechte? Oder zeigt sich nicht gerade hier die notwendige und stets gefährdete Balance in unseren Grundrechten?

Denn tatsächlich stehen hier ja die beiden Sätze aus Artikel 2 des Grundgesetzes in Konflikt. Während der erste Satz die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ garantiert, heißt es im zweiten Satz: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“.

Aber wie schützt man dieses Recht, wenn man weiß, dass 99 Prozent der Bevölkerung noch nicht gegen ein neues Virus, das zu schwersten Lungenentzündungen führen kann, immun ist? Hätten wir alle auf die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts gehört, jetzt einfach aus freier persönlicher Entscheidung Masken anzulegen, um jene Mitmenschen zu schützen, die bei einer Coronainfektion wirklich eine leidvolle Krankheit erfahren?

Und ich denke da auch an all die Verkäuferinnen und Verkäufer, die nun schon seit Wochen nicht nur hinter Plexiglaswänden sitzen, sondern auch noch Mundschutz und Handschuhe tragen müssen und darunter garantiert elend schwitzen. Die also die ganze Zeit uns als Einkäufer geschützt haben.

Wir alle werden uns natürlich wünschen, dass die Corona-Epidemie möglichst bald wirklich bewältigt wird. Aber das schafft man nicht, indem nun jeder seine eigene Interpretation von aus dem Zusammenhang gerissenen Zahlen vornimmt und dann so tut, als könne man das nun nur so diskutieren. Kann man nicht. Auch in Epidemien zählen Zahlen.

Das, was mess- und auswertbar ist – mit allen Einschränkungen durch die verfügbare Breite der Messungen. Vielleicht ist es das, was viele stört: Dass sie sich jetzt auf einmal von Wissenschaftlern erklären lassen müssen, was passiert und welche Folgen das hat und was man daraus für unser Verhalten ableiten kann.

Das klingt doch bei all den Leuten, die jetzt ihre eigenen Theorien in den Netzkanälen verbreiten, viel logischer oder? Tut es das?

Nein. Tut es nicht, wenn man einfach ein paar kritische Denkweisen anwendet, die Mai Thi Nguyen-Kim schon 2018 mal in einem Clip erklärt hat. Denn all diese Bullshit-Theorien haben in der Regel mehrere Probleme. Sie sind nicht nachprüfbar, sie legen keine belastbaren Quellen offen, ignorieren die Faktenlage und sie verstoßen sämtlich gegen das, was Wissenschaftler Ockhams Rasiermesser nennen.

mayLab: Die Kunst, Bullshit zu erkennen

Denn Wilhelm von Ockham hat ein sehr kluges Prinzip entwickelt, mit dem man unsinnige Hypothesen relativ schnell von solchen unterscheiden kann, die einer tatsächlichen Erklärung für ein untersuchtes Phänomen wahrscheinlich am nächsten kommen. Es geht um das lex parsimoniae oder Sparsamkeitsprinzip, das schlicht besagt, dass eine Hypothese, die ein untersuchtes Phänomen mit möglichst wenigen Variablen erklärt, auch diejenige ist, die der Wahrheit wohl am nächsten kommt.

Wer lauter Elemente einführt, die er weder belegen noch beweisen kann, überfrachtet die Hypothese nicht nur, er produziert Bullshit.

Wenn die Gefährlichkeit eines neu auftauchenden Virus die drastischen Maßnahmen in hunderten Ländern der Welt erklärt, braucht man keine Verschwörung obendrauf, irgendeine Absprache zwischen irgendwelchen geheimnisvollen Leuten, die dann auch noch keiner kennt, weil das ja so schrecklich geheim ist.

Natürlich sehen wir das verflixte Virus nicht. Und wie es wirkt, können nur die sagen, die sich damit infiziert haben oder die die schwer erkrankten Patient/-innen behandeln oder dann die Totenscheine ausstellen. Und die vielen Zahlen des Robert-Koch-Instituts zeigen zwar, dass die Kurve seit Anfang April tatsächlich abgeflacht ist. Dennoch werden auch in Deutschland jeden Tag noch über 2.000 Menschen neu auf Corona positiv getestet. Und 5.141 deutsche Patient/-innen sind mit Stand 22. April daran gestorben.

Was eben bedeutet, dass das Virus nach wie vor unterwegs ist und immer neue Personen infiziert. Andererseits natürlich auch, dass die Einschränkungen der vergangenen fünf Wochen die Ausbreitung deutlich gebremst haben. Die Einschränkungen haben also gewirkt. Wenn man sie aufhebt, verlieren sie ihre Wirkung. Dann braucht man andere Mittel, diese Ausbreitung zu bremsen.

Masken sind dabei das naheliegende Mittel, wenn nicht dauerhaft Millionen Menschen zu Hause bleiben sollen, Schulen und Kitas geschlossen bleiben und auch die Produktion nicht wieder anlaufen darf. Das ist ein Spagat. Aber es sieht alles so aus, dass uns Masken mindestens noch auf Monate im Alltag begleiten werden.

Vielleicht gibt es ja mal schönere und gefälligere. Wenn man schon sein halbes Gesicht verbirgt, dann soll es ja nicht ganz so schrecklich aussehen.

Die Serie „Nachdenken über …

Wie frei sind wir Menschen wirklich?

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