Wortgewaltig, wie man ihn kennt, meldete sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Freitag, 8. Mai, zum 75. Jahrestag der Befreiung zu Wort. Man könne dieses Land, also Deutschland, nur mit gebrochenem Herzen lieben, sagte er. Und auch: „Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte“. Das ist alles so lieb gemeint, dass man gar nicht merkt, was für ein gesalbter Unfug das ist. Nicht ohne Grund. Denn damit geht er auf die Frames derjenigen ein, die Verbrechen gern verharmlosen und vernebeln.

Denen, die immer wieder mit verbissener Miene so etwas wie ein „Ende des Schuldkults“ fordern, sich nur zu gern als Vertreter aller Deutschen verkaufen oder wie der greise Ehrenhäuptling der blauen Rechtsaußenpartei, Alexander Gauland, der den 8. Mai partout nicht als Befreiung begreifen will, weil es seinerzeit etliche Deutsche auch nicht so empfunden hätten.

„Für die KZ-Insassen ist er ein Tag der Befreiung gewesen. Aber es war auch ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit“, hat er gesagt und damit eine Polarisation aufgemacht, von der die Rechtsradikalen in Deutschland schon immer profitiert haben – die Dichotomie der Befreiten und die der Besiegten.

Womit er gleichzeitig behauptet, die Mehrheit der Deutschen hätte sich nicht befreit gefühlt.

Geht’s noch?

Ganze Bibliotheken könnte man füllen mit Büchern von Autor/-innen, die vor allem den Einmarsch der Amerikaner als Befreiung empfanden. Das mit dem Einmarsch der Sowjetunion war ein bisschen anders – auch weil die Nazi-Propaganda gerade in den letzten Kriegsmonaten die Angst vor den Russen richtig schürte. Und dass noch einmal Millionen Deutsche litten unter den Folgen des Kriegsendes und auch den Übergriffen der Besatzerarmee – keine Frage.

Aber hinter diesem Zerrbild verschwindet die tatsächliche Finsternis der Täter, die Drohkulisse der NS-Funktionäre, die noch Stunden vor ihrer Niederlage Hinrichtungskommandos befehligten und Todesurteile verhängten. Und dann – wie durch ein Wunder – verschwanden. Als hätte es sie nie gegeben. Deutschland auf einmal nazifrei und nur die großen Tiere in Nürnberg sollten Schuld an allem gehabt haben.

Wo blieben alle die, die zutiefst verstrickt waren in dieses Hitlerregime und die ihren verbrecherischsten Gelüsten freien Lauf gelassen hatten, völlig enthemmt, weil sie meinten, ihr Gewissen und ihre Verantwortung einfach mal delegieren zu können? Motto: Wir waren ja nur Befehlsempfänger?

Bei den meisten weiß man sehr wohl, wo sie blieben, wie sie sich gegenseitig Persilscheine ausstellten und in hochbezahlten Positionen nun den Biedermann gaben.

Leute, die 30 Jahre lange verhinderten, dass ihre Verbrechen und die ganz persönliche Verantwortung der Täter tatsächlich aufgearbeitet wurden.

Das kam erst in den späten 1960erJahren wirklich in Gang, damals, als junge Leute skandierten „Unter den Talaren – der Muff von 1.000 Jahren“. Und jeder wusste, was mit diesen 1.000 Jahren gemeint war.

Wo war eigentlich Gauland 1945? Er war ein vierjähriger Junge in Chemnitz, Sohn des 1936 in den Ruhestand versetzten Oberstleutnants der Schutzpolizei Alexander Gauland.

Was natürlich die Frage aufwirft: Wie wird ein Mensch so geprägt, dass er sich noch 75 Jahre danach mit den Tätern identifiziert, egal, ob er damit eher an NS-Beamte, NSDAP-Mitglieder oder Soldaten der Wehrmacht denkt? Das ist völlig egal. Er hatte 75 Jahre Zeit, es besser zu lernen und auch aufzuhören, das „deutsche Volk“ als so homogenen und gleichgeschalteten Klops zu verstehen, wie ihn unsere Ewiggestrigen heute immer noch (oder wieder) verstehen wollen, wenn sie von „Volk“ und „Volksgemeinschaft“ schwadronieren.

Er hätte auch Heinrich Böll und Alfred Andersch lesen können. Dann hätte er von klugen Autoren erfahren, dass 1945 nicht wenige Deutsche heilfroh waren, dass der verbrecherische Unfug vorbei war und sie den Brandstiftern nicht mehr gehorchen mussten. Und nicht mehr Angst haben mussten, vom Blockwart denunziert zu werden.

Aber unsere rechten Spezis tun ja gern so, als müssten wir uns heute alle mit der Hitler-Diktatur identifizieren, die 1945 an allen Fronten gegen die Alliierten verlor. Oder „mit unseren Großvätern“, die damals an den Fronten standen oder schon in Gefangenschaft waren. Und dann hinterher so frenetisch schwiegen über das, was sie erlebt haben.

Ich habe meine Großväter gemocht. Es waren warmherzige Menschen. Ich weiß aber nicht, was sie im Krieg wirklich erlebt und getan haben. Darüber haben sie nie erzählt. Und wollten sie auch nicht erzählen. Das ist meine ostdeutsche Erfahrung. Und das hat weniger mit meinen Großvätern zu tun, als mit der falschen Sieger-Doktrin im Osten. Denn da man sich kurzerhand zu den „Siegern der Geschichte“, der „ruhmreichen Sowjetunion“, schlug und der Sozialismus im Osten in keinster Weise verantwortlich sein wollte für die Taten der Nazis, standen nun einmal Millionen Ostdeutsche da mit ihrem Sack an Erinnerung.

Manche machten daraus den bekannten Landser-Klamauk unter Kumpels in der Kneipe. Die meisten aber schwiegen. Schluckten das (so wie der Vater von Hartmut Zwahr) lieber runter und blieben ziemlich einsam in einem Land, in dem sich eine neue Funktionärselite breitmachte, der die persönlichen Leiden oder gar die Traumata der aus Krieg und Gefangenschaft Zurückgekehrten herzlich egal waren.

Die im Gegenteil wieder jeden persönlichen Mut diskriminierten. Was passiert mit Generationen, die über ihr Leiden nicht sprechen dürfen?

Auf diesem Trauma tanzen die heutigen Scharfmacher ihre gestiefelten Tänze.

Aber: Empfanden die (Ost-)Deutschen deshalb die Kapitulation der letzten NS-Regierung nicht als Befreiung? War das auch nur anbefohlen?

Der „Spiegel“ zu Steinmeiers Rede: „Zur Befreiung von außen sei nach 1945 die ,innere Befreiung‘ durch die schmerzhafte Aufarbeitung des Geschehenen gekommen, sagte Steinmeier. ,Diese Jahrzehnte des Ringens mit unserer Geschichte waren Jahrzehnte, in denen die Demokratie in Deutschland reifen konnte.‘ Einen Schlussstrich unter diesen Prozess lehnte Steinmeier strikt ab: ,Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte.‘ Wer einen Schlussstrich fordere, ,entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie‘.“

Das halte ich teilweise für romantisches Gerede. Mit der Geschichte ringt man nicht. Entweder stellt man sich ihr mit wissenschaftlicher Nüchternheit und lernt was draus oder man ist blind wie ein Huhn im Kreidekreis.

Wer hier von einem „Ringen“ fabuliert, verfälscht schon wieder Geschichte. Der lässt sich schon auf die Schwurbelbilder unserer Rechtsradikalen ein, die eben nicht nur den Holocaust leugnen. Sie leugnen auch alles andere, was zu Deutschland gehörte: die Republik und ihre Demokraten, die sie 1933 systematisch zerstörten, die Kultur, die sie in BluBo verwandelten und alles, was hell und klar war, zum Schweigen zwangen, ins innere und ins äußere Exil. Sie wischen den kompletten inneren Widerstand von Tisch, von Weißer Rose bis Dietrich Bonhoeffer.

Das „Ringen“, von dem Steinmeier redet, war in Wirklichkeit ein zäher Kampf gegen Vertuschung, falsche Heldengeschichten und Vergesslichkeit. Niemand musste ringen, der wirklich wissen wollte, was die Nazis und ihre Mitläufer angerichtet hatten. Dazu brauchte es nicht erst die legendäre „Wehrmachtsausstellung“ ab 2011, die von unseren Rechtsradikalen so vehement genutzt wurde für ihren verlogenen Protest.

Wer wissen wollte, konnte selbst im Westen die einschlägigen Bücher lesen. Von Theodor Plieviers schon 1945 veröffentlichtem Roman „Stalingrad“ bis zu William Shirers nüchterner Analyse „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“, in der er sehr klar jede einzelne Weichenstellung benennt, an der der Aufstieg der Nazis hätte gestoppt werden können – und nicht gestoppt wurde, meist aus Opportunismus nicht, aus Feigheit oder der Unfähigkeit zu echter Solidarität.

Akribisch zeigt Shirer, der damals Korrespondent in Berlin war, wie der Aufstieg der Hitlerpartei hätte gestoppt werden können. Je eher das passiert wäre, um so leichter wäre es gewesen. Denn Nazis profitieren von der Überwältigung. Sie singen immer dasselbe Lied und sorgen mit immer neuen Grenzübertretungen dafür, dass immer mehr Menschen auf ihren Kurs umschwenken, das für normal halten oder sich wegducken, weil es immer mit Hass, Drohgebärde und Gewalt einhergeht.

Erich Kästner in seinem Zitat, das das Theater der Jungen Welt am 8. Mai groß plakatiert hat, nennt das Jahr 1928 als das Jahr, ab dem die Nazis wirklich hätten bekämpft werden müssen. Man muss die stabilen Zeiten nutzen, um den Gewalttätigen den Weg zur Macht zu versperren. 1928 hatte sich die Weimarer Republik wirtschaftlich stabilisiert. Noch konnte niemand ahnen, was 1929 passieren würde.

Aber in Berlin waren die meisten Parteien mit nichts anderem beschäftigt, als die letzte SPD-Regierung mit aller Macht zu destabilisieren. Die sogenannten bürgerlichen Parteien genauso wie die KPD. Mit dem Ergebnis, dass es ab 1930 keine Regierungen mehr mit einer demokratisch legitimierten Mehrheit gab, sondern nur noch Präsidialkabinette, in denen schon weit vor dem Februar 1933 mit Notverordnungen regiert wurde und die Unfähigkeit zu einer echten Koalition die radikalen Kräfte im Land befeuerte und am Ende Hitlers Partei genau an den Punkt brachte, an dem sie nach der Macht greifen konnte.

Und dann genau jenes Regime des zum Gesetz gemachten Verbrechens installierte, das 1945 von den Alliierten besiegt wurde. Die Deutschen selbst haben das leider nicht geschafft.

Aber dürfen wir deshalb den 8. Mai nicht als Tag der Befreiung feiern? Oder ihn so empfinden?

Doch. Das ist das, was Herren wie Gauland gern wegreden wollen: Dass eine Menge Menschen die Befreiung von einer rücksichtslosen Nazi-Clique als Befreiung empfinden kann. Bis heute. Menschen, die sehr wohl empfinden können, was es heißt, wenn diese arroganten Stiefelknechte wieder an die Macht kommen, Menschen, die mit Worten wie SS, Gestapo, KZ, Volksgerichtshof sehr wohl sehr finstere Bilder und Erinnerungen verbinden. Die mit jedem klugen und gütigen Menschen, den die Nazis ermordeten, mitfühlen. Bis heute – von Anne Frank bis zu Walter Cramer, von Erich Ohser bis Henri Hinrichsen.

An denen, die sich nicht wehren konnten, haben sich unsere aufgeblasenen Nationalhelden immer am liebsten vergriffen. Und ihre Ideologie der Überlegenheit pflegen sie bis heute. Sie arbeiten sehr wohl daran, die Gesellschaft wieder zu zerstören und zu knebeln, die Freiheit, Respekt und Menschlichkeit ins Grundgesetz geschrieben hat. Eine Freiheit, die sie nur zu gern missbrauchen, um so zu tun, als würden sie nur eine beliebige Meinung kundtun.

Sie wollen sich wieder als Betondeckel über unser Land legen und alles zertrampeln, was nicht in ihren schmalen Horizont passt, alles gleichschalten und in eine „Volksgemeinschaft“ pressen, die alles Lebendige und Menschliche erstickt.

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung – nämlich von diesen gestiefelten und unerbittlichen Gleichschaltern, Niedertretern und Herzlosen, diesen Mördern und Schlächtern, die einmal zu viel die Chance erhalten haben, das Land unter ihre Fuchtel zu nehmen.

Befreiung meint eben nicht nur „Befreiung durch wen“, sondern vor allem „Befreiung von wem“. Das wollen diese Herrschaften nämlich mit ihrem Geschwurbel wegreden: Dass die Deutschen 1945 von einer erbärmlichen und blutigen Diktatur befreit wurden.

Daran sollte tatsächlich jedes Jahr erinnert werden, weil die Engstirnigen noch immer machtgeil sind bis heute und ohne ein klares Kontra nie aufhören werden, ihre bornierte Weltsicht als Allheilmittel zu verkaufen. Vielleicht kriegen wir es ja tatsächlich mal fertig, diesen 8. Mai zu einem Feiertag zu machen.

Die Petition jedenfalls liegt jetzt vor.

Am Freitag, 8. Mai, wurden die 98.672 Unterschriften der Petition „8. Mai zum Feiertag machen!“ der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) auf Change.org zusammen mit den 11.475 Unterschriften der Petition Der Vielen e.V. an die Vizepräsident/-innen des Deutschen Bundestages Thomas Oppermann (SPD), Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) und Petra Pau (Die Linke), sowie an die Bundestagsabgeordneten Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen) und Cansel Kiziltepe (SPD) übergeben.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

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