Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat im Blick auf die Coronakrise im Deutschlandfunk bemerkt, dass es „spannend (ist) zu sehen, wie wir mit einer Situation umgehen, die wir nicht kennen.“, um dann die Frage zu stellen „Was kann man denn daraus lernen?“

Jetzt, da der Ausstieg aus dem Shutdown vollzogen wird und viele Bürger/innen hoffen, möglichst schnell zur Normalität zurückkehren zu können, die sich jedoch alles andere als normal erweist, legt es sich nahe, über das nachzudenken, was uns die vergangenen Wochen an Erfahrungen beschert und gelehrt haben. Denn es gilt eines zu vermeiden: da einfach weiterzumachen, wo wir im Februar 2020 aufgehört haben.

Vielmehr müssen wir uns neu darüber verständigen, in welcher Gesellschaft wir zukünftig leben wollen. Darum möchte ich sieben Lehren zur Diskussion stellen – in dem Bewusstsein, dass Lehren immer beides sind: vorläufiges Ergebnis eines Lernprozesses und Ausgangspunkt für einen neuen, offenen Diskurs.

1. In der Coronakrise wurde die wirtschaftliche Entwicklung erstmals einem Grundwert, nämlich dem Gesundheitsschutz (Art. 2 Abs. 2 GG), untergeordnet. Das war nur möglich, weil die staatlichen Organe ihre politische Verantwortung entschlossen in die Hand genommen haben. Die vielen Bürger/innen übermächtig erscheinende und alles bestimmende Wirtschaft konnte das Geschehen nicht mehr diktieren. Für die Zukunft bedeutet dies: In der Demokratie müssen die gewählten Regierungen und Parlamente sehr viel selbstbewusster die politischen, sozialen, ökologischen Rahmenbedingungen auch für die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen, ohne die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft zu verlassen.

2.: Gesellschaften, die starke soziale Gegensätze aufzeigen, bieten einem Virus wie Covid 19 große Angriffsflächen: Armut, Mangelernährung, Übergewichtigkeit, enger Wohnraum. Im Umkehrschluss heißt dies: Der beste Schutz vor Pandemien ist ein Höchstmaß an gleichberechtigter Teilhabe an Arbeit, Einkommen, Bildung, Wohnen aller Bürgerinnen und Bürger eines Landes. Wir brauchen nicht weniger Sozialstaat, sondern mehr. Wer aber mehr für mehr öffentlich-rechtliche Verantwortung plädiert, muss gleichzeitig für demokratische Beteiligung und Delegation von Verantwortung (Subsidiarität) sorgen.

3.: Vergleiche zwischen den USA, England, Italien, Frankreich, Türkei auf der einen und Deutschland, Dänemark, Schweden auf der anderen Seite zeigen: Grundsätzlich sind parlamentarische, repräsentative Demokratien besser mit der Coronakrise fertig geworden als autokratische, präsidiale, zentralistische Systeme. Die Zahlen sprechen für sich. Eine Krise braucht nicht den „starken Mann“, sondern den Konsens in einer Gesellschaft, sich freiwillig und zustimmend auf zeitlich begrenzte Beschränkungen einzulassen. Der bundesdeutsche Föderalismus hat sich gerade in der Coronakrise bewährt.

4.: Auch wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Covid-19-Virus und dem Klimawandel bisher nicht belegt ist – zu den Folgen des Klimawandels gehört, dass wir vermehrt mit Pandemien rechnen müssen. Feinstaub und Klimaerwärmung bilden offensichtlich einen fruchtbaren Nährboden für Viren, deren Zerstörungskräfte weitgehend unbekannt sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Alles, was jetzt politisch, ökonomisch auf den Weg gebracht wird, muss notwendig mit den Erfordernissen des Klimaschutzes verbunden werden. Er hat unbedingte Priorität. Denn die dramatischen Folgen des Klimawandels bedrohen das Leben auf diesem Planeten in ganz anderer Weise als das Coronavirus.

5.: Nicht erst die Skandale in großen Schlacht- und Fleischereibetrieben haben aufgedeckt: Wir müssen die Ernährungsgewohnheiten in unserer Gesellschaft prinzipiell verändern – weniger Fleischkonsum, mehr regionale Produkte, artgerechte Tierhaltung und eine ökologisch ausgerichtete Landwirtschaft. Gesundheitsvorsorge besteht nicht nur aus ausreichend Krankenbetten und Intensivstationen. Ernährung ist eine der wichtigsten Präventionsmaßnahmen, um Gesundheit zu fördern, Immunsysteme zu stärken, Pandemien zu vermeiden. Hier ist die Politik gefordert, neue Rahmenbedingungen für Land- und Ernährungswirtschaft zu entwickeln.

6.: Ohne ethische Grundorientierung kann keine Gesellschaft auskommen – vor allem nicht in Krisenzeiten. Wenn wir nicht wollen, dass in gesellschaftlichen Krisen allein die Angst das Handeln bestimmt und damit die ideologischen Angstmacher das Sagen bekommen, ist es notwendig, dass wir uns immer wieder und neu über Grundwerte verständigen, damit sie jederzeit abrufbar bleiben. Kirchen, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und alle Bildungseinrichtungen sind gefordert, sich im öffentlichen Diskurs an dieser Aufgabe zu beteiligen.

7.: Die Coronakrise hat die Grundbedingungen des biblischen Menschenbildes neu hinterfragt: Alles Leben ist endlich, begrenzt, fehlbar, vergänglich. Gesundheitsschutz ist nicht alles. Es gibt keinen Rechtsanspruch auf Gesundheit, wohl aber den Anspruch, ja die Pflicht, dass in jeder Lebenslage, auch im Sterben, die Würde eines jeden Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) gewahrt wird.

Man darf gespannt sein, welcher Partei es gelingen wird, sich auf einen solchen, durchaus offenen Lernprozess einzulassen, um neue Zielvorstellungen für das gesellschaftspolitische Handeln zu entwickeln.

Natürlich müssen diese dann im politischen Alltagsgeschäft in kleine Schritte heruntergebrochen werden. Aber ohne neue programmatische und visionäre Zielvorstellungen und ohne Menschen, die diese glaubwürdig verkörpern und langfristig kommunizieren, wird es nicht gelingen, aus der Coronakrise die richtigen, nachhaltig wirkenden Konsequenzen zu ziehen. Die Sozialdemokratie ist hier als erste gefordert.

Gastkommentar von Christian Wolff: 71 Jahre Grundgesetz – Demokratie kennt keine Quarantäne

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