In Leipzig haben am heutigen Mittwochabend tausende Menschen friedlich demonstriert. Trauriger Anlass für die Veranstaltung war der Ausbruch mehrerer Feuer im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Unter dem Motto „Wir haben Platz – Für die sofortige Aufnahme der Geflüchteten aus Moria und allen Lagern“ zeigten die Teilnehmer/-innen ihre Wut und Bestürzung über die Geschehnisse. Der Aufzug startete am Willy-Brandt-Platz, zog über den Leuschner-Platz zur Abschlusskundgebung auf dem Augustusplatz. Laut Veranstaltern waren geschätzt 4.000 Menschen vor Ort. In ganz Deutschland fanden an diesem Abend Demonstrationen statt.

Die Redebeiträge der Demonstration am 9. September 2020 in Leipzig

Video: L-IZ.de

In den frühen Morgenstunden drangen die Nachrichten aus Griechenland in die Medien. Nach Ausbruch mehrerer Feuer wurde die Evakuierung von Moria angeordnet, viele Menschen flüchteten sich auf die umliegenden Hügel. Tausende sind derzeit obdachlos. Einsatzkräfte der Bereitschaftspolizei hatten sich am frühen Morgen rund um das Lager sowie an einer fünf Kilometer langen Strecke zur Stadt Mytilini auf Lesbos positioniert. In einem Audiobeitrag, der im Rahmen der Demonstration abgespielt wurde, erzählte ein Bewohner, dass Helfer/-innen nicht durchkämen, da die Polizei und Rechtsxtreme die Straße abriegelten.

„Die Stimmung kippt“, Menschen würden unter Einsatz von Tränengas zurückgedrängt. „Schuld an der Situation trägt die EU, aber auch die Bundes- und die sächsische Ebene. Es kann nicht sein, dass das Warten auf eine europäische Lösung auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird“, kritisierte Juliane Nagel, Leipziger Stadträtin und Abgeordnete im Sächsischen Landtag, in einem Redebeitrag auf der Abschlusskundgebung am Augustusplatz.

Die Mehrheit in der Sächsischen Regierung hatte sich gegen die Aufnahme von 500 Geflüchteten ausgesprochen, Leipzig neben vielen anderen deutschen Städten hingegen bereits vor Monaten die Bereitschaft zur Aufnahme erklärt. Ohne Land und Bund kommen die Kommunen jedoch derzeit auch nicht weiter.

Auch in Hinblick auf die Ereignisse in Leipzig am vergangenen Wochenende ergänzt Nagel: „Ich schaue fassungslos auf die Debatte der vergangenen Tage um die Erreichung politischer Ziele. Wenn friedliche Demos, Petitionen und Parlamentsanträge nicht dazu führen Menschen in Not zu retten, was hilft denn dann? “Es brauche jetzt ein Ende der „wohlfeilen Lippenbekenntnisse“, die Hilfe durch sofortige Evakuierung und die „Auflösung aller Hotspots und Lager“.

„Ich frage mich, was kommt nach solidarisch?“ Die schwarze Aktivistin Anna kritisierte scharf: „Die Flüchtlingspolitik und der Umgang mit Geflüchteten basiert auf tiefstem systemischem Rassismus. Was ihr alle lernen müsst: Das tun nicht nur Nazis, Politiker und Rechte; das ist in jedem einzelnen Kopf in diesem Land drin. Weil wir alle so sozialisiert worden sind.“ In ihrem Redebeitrag prangerte sie die „white supremacy“ („Weiße Überlegenheit“, Anm. d. Red.) und auch die Instrumentalisierung der Kämpfe von Unterdrückten an. „Immer geht es um euch, wenn wir über Rassismus sprechen. Doch es geht nicht um euch, es geht um uns! Warum ist es so schwer zuzuhören? Ihr habt die Macht, was macht ihr mit der Macht?“

Ein weiterer Redebeitrag folgte von Aziz, der selbst aus Syrien flüchtete und vor drei Jahren nach Deutschland kam. „Ich möchte, dass wir diese Wut in etwas Kraftvolles umsetzen. Jeder kleine Schritt wird einen Unterschied machen für einen Menschen, der auf der Flucht ist.“ Er selbst erzählte von den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, die Heimat zu verlassen und in einem fremden Land ein neues Leben aufzubauen. „Ich kann in wenigen Worten nicht erklären, wie man sich fühlt, wenn man sich von einem Land ins andere schmuggeln muss. Zuerst müssen wir uns selbst beweisen, dann müssen wir euch beweisen, dass wir eine Chance verdient haben.“

Als letztes erhob eine Sprecherin des Flüchtlingsrats das Wort. „Als Corona sich langsam ausbreitete, wurde das Camp verriegelt. Ärzte ohne Grenzen, Pro Asyl, Landesflüchtlingsräte, die Seebrücke und viele weitere solidarische Initiativen forderten die Evakuierung Morias. Das interessierte auf EU-Ebene niemanden.“ Sie kritisierte das Vorgehen der griechischen Behörden, der Europäischen Union sowie der Bundesregierung als „grobe Fahrlässigkeit“. Die Wut über die Umstände dürfe jedoch nicht in Ohnmacht abstumpfen. „Wir müssen uns weiter auflehnen, wir müssen es immer und immer wieder sagen: ‚Wir haben Platz!‘“

Gegen 21 Uhr wurde die Veranstaltung beendet. Während der Demonstration wurden unter den Teilnehmenden Spenden gesammelt, es kamen mehrere hundert Euro zusammen. Das Geld soll an Hilfsorganisationen und damit direkt an die Menschen in den Lagern gehen.

Bereits seit gut einem Jahr weisen Menschenrechtsorganisationen, Initiativen und zivile Kräfte auf die kritische Situation in dem Lager hin. Immer wieder wurden die Forderungen nach der Aufnahme von Geflüchteten in Europa laut. Auch die Gefahr, dass sich das Corona-Virus in Moria, wo mehr als 12.000 Menschen auf engem Raum seit Monaten zusammenleben, ausbreiten würde, schwebte permanent über dem Lager.

In der vergangenen Woche war es soweit: Der erste Fall von Corona unter den Bewohner/-innen wurde gemeldet, am Dienstag lag die Quote bei 35 Infizierten. Nach Ausbruch des Virus‘ wurde ein Lockdown des Camps angeordnet, woraufhin die ohnehin angespannte Stimmung bei den Bewohner/-innen auf eine weitere Probe gestellt wurde.

Im August hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) Anträge der Thüringer Landesregierung sowie des Berliner Senats abgelehnt, die sich bereit erklärt hatten, geflüchtete Menschen aus Moria aufzunehmen. Die Verantwortung dafür läge beim Bund. Für sein Vorgehen wurde Seehofer vielerorts scharf kritisiert. Bis zum heutigen Abend blieb das Innenministerium bei seiner Entscheidung.

Hinweis der Redaktion: Ein Video mit den Redebeträgen folgt.

Impressionen der Moria-Demo am 09.09.2020 in Leipzig

Video: L-IZ.de

Wie sich sächsische Politiker zu der Brandkatastrophe und Seehofer äußerten, ist hier nachzulesen: Mittwoch, der 9. September 2020 – Reaktionen auf Moria aus Sachsen und Demo am Abend

Mittwoch, der 9. September 2020: Reaktionen auf Moria aus Sachsen und Demo am Abend + Video

Video von der Seebrücke-Demo in Leipzig (2): Die Grenze selbst ist das Problem + Bildergalerie

Video von der Seebrücke-Demo in Leipzig (2): Die Grenze selbst ist das Problem + Bildergalerie

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar