Im Mai 2019 verpflichtete der Europäische Gerichtshof mit seinem Urteil die Arbeitgeber, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Seitdem wird vonseiten der Arbeitgeber und mit politischer Unterstützung, besonders der FDP, dagegen Sturm gelaufen. „Nicht umsetzbar“, „zu großer Aufwand“ und ähnliche Argumente werden vorgebracht.
Worum geht es eigentlich und warum unterstützt ausgerechnet Verdi diese Pflicht?

Kurz aus eigenem Erleben: Anfang der 2000er Jahre, ich arbeitete damals in einem ADAC-Straßendienstbetrieb mit weniger als 10 Angestellten in Bremen, hatte der Inhaber es satt. Seiner Meinung nach rechneten die Einsatzfahrer ihre Einsatzstunden, während der Nacht-, Wochenend- und Feiertagsbereitschaft, zu großzügig und zum finanziellen Nachteil des Unternehmens ab.

Die Verfahrensweise war bis dahin, dass am Folgetag ein Zettel mit den Einsatzzeiten abgegeben wurde, aus diesen wurde dann der Lohn für diese Zeiten berechnet. Der Inhaber musste das akzeptieren, konnte es aber nicht nachprüfen.

Er schaffte also ein elektronisches Zeiterfassungssystem mit Chipkarten an, beim Einsatz in der Bereitschaftszeit musste der Fahrer sich, bei Übernahme des Fahrzeuges einstempeln und bei Abgabe ausstempeln. Das wurde dann auch auf das Kommen und Gehen in der Regelarbeitszeit ausgeweitet.

Merke: Wenn es um das Geld des Arbeitgebers geht, ist das möglich und erscheint diesem auch verhältnismäßig.

Intention des Urteils des EuGH

Beim Urteil des EuGH geht es nicht um die Bedenken von Arbeitgebern, dass ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu viele Stunden abrechnen, das wäre ja die Rückkehr zur alten Stechuhr. Diese sagte ja dem Arbeitgeber, ob die Beschäftigten pünktlich da waren und nicht etwa zu zeitig gingen.

Nein, es geht um Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte. Es geht um das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten.
Ganz nebenbei sollen aber auch die Zeiten erfasst werden, die außerhalb der regulären Arbeitszeit liegen und bisher nicht als klassische Überstunden gewertet wurden. Also das dienstliche Telefonat nach Feierabend oder die Beantwortung von dienstlichen Mails am Wochenende.

Es geht formell um die Durchsetzung des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG), welches gerade durch die Digitalisierung, also z. B. digitale Kommunikation außerhalb der regulären Arbeitszeit, ständig unterlaufen wird.

So wird die gesetzliche Ruhezeit, gem. § 5 ArbZG, de jure nicht eingehalten, wenn der Chef während dieser anruft und das Projekt besprechen will.

Ohne ein Zeiterfassungssystem, das die tägliche Arbeitszeit der Beschäftigten misst, können weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden noch Ruhezeiten und die Zahl der Überstunden verlässlich ermittelt werden.

Der Gesetzentwurf

Es gibt einen Gesetzentwurf, allerdings nur für elf Branchen und nur für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Dieser datiert, in der Form eines Regierungsentwurfs, vom 23.02.2022 und wurde nach Argumentation der FDP, das sei „in der Praxis nicht umzusetzen“, nicht weiter im Verfahren behandelt.

Für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse ist nicht einmal ein Entwurf zu finden. Eine gesetzliche Umsetzung des EuGH-Urteils steht also weiter aus.

Urteil Bundesarbeitsgericht

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) urteilte am 13.09.2022 mit Urteil 1 ABR 22/21, zwar nur in einem Einzelfall. Dieser betraf das Initiativrecht eines Betriebsrats zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung, aber im Punkt 19 der Urteilsbegründung stellte das Gericht fest:

„Die Arbeitgeberinnen sind schon kraft Gesetzes verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden in ihrem gemeinsamen Betrieb erfasst werden.“

Die Arbeitszeiterfassung ist also bereits geltendes Recht und das Gericht geht in Punkt 21 auch auf die Ruhezeiten und die Obergrenze der wöchentlichen Arbeitszeit ein:

„Nach Art. 3 und 5 der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit jedem Arbeitnehmer innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden und innerhalb eines Siebentagezeitraums eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich einer täglichen Ruhezeit von elf Stunden gewährt wird. Darüber hinaus verpflichtet Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88/EG die Mitgliedstaaten, für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit eine – die Überstunden einschließende – Obergrenze von 48 Stunden vorzusehen.“

Wir stellen fest, die Arbeitszeiterfassung und ihre Begründung zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist geltendes Recht.

Fazit: Laut geltendem Recht und dem EuGH-Urteil genügt es also nicht, die Überstunden zu erfassen, es muss die gesamte Arbeitszeit erfasst werden.

Ebenso müssen die Unterbrechungen der gesetzlichen Ruhezeiten, die bisher meist nicht einmal als Überstunden zählten, erfasst werden.

Die neue „Stechuhr“ ist ein Instrument der Sicherung der Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte.

Wen wundert es, dass sich diesmal die Arbeitgeber und ihre politischen Vertreter dagegen aussprechen?

Der Beitrag entstand im Rahmen der Workshopreihe „Bürgerjournalismus als Sächsische Beteiligungsoption“ – gefördert durch die FRL Bürgerbeteiligung des Freistaates Sachsen.

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