Jetzt nerven mich schon meine Kollegen. Wollen wissen: Was sagst denn du dazu? Du kannst doch bestimmt deinen scharfen Senf dazu geben. Kann ich natürlich. Wollte ich eigentlich nicht. Aber irgendwie gehöre ich wohl zu der aussterbenden Spezies von Männern, die bei ihrer Mutter noch eine anständige Erziehung genossen haben. Dinge unter dem Label „Sowas macht man nicht“.

Als Knirps war ich natürlich furchtbar beleidigt, wenn ich mal wieder so eine Strafpredigt bekam. Aber was ist, wenn sich ältere Herren noch genauso benehmen und dann noch beleidigt sind, wenn man sie dabei ertappt?

Das ist so eine Frage, die mir im Kopf herumgeht. Denn hinter dem ganzen Mühen meiner Mutter steckte – das habe ich spät erst begriffen – auch eine Sorge. Nicht mal um mich. Ich war immer robust in dieser Beziehung. Aber um unsere Mitwelt. Um die Nachbarn, die Kollegen, die Lehrer, die Mitschüler. Und so weiter. Man lernt das als Kind irgendwann. Vielleicht gibt es auch andere Methoden. Aber irgendwer muss es einem sagen. Und sagen. Und sagen. Bis man es kapiert.

Manche kümmert das nicht. Die protzen los, wie ihnen die dummen Einfälle nur so in den Kopf kommen. Man merkt das schnell, dass sie eigentlich gar nicht wahrgenommen haben, wo sie gerade reden. Und mit wem. Hauptsache, das Geplapper geht raus. Gern öffentlich, für alle Welt nachlesbar, wie das ja heute in den a-sozialen Netzen üblich geworden ist.

Da sind Tobewiesen für Leute entstanden, die nie gelernt haben, sich anständig zu benehmen. Wozu auch Respekt gehört, Rücksichtnahme, der unbedingte Wille, niemanden zu beleidigen.

Ein gewisser Knigge

Oder um den Mann zu zitieren, der uns das schon vor über 200 Jahren gepredigt hat – Adolph Freiherr von Knigge: „Lerne Widerspruch zu ertragen. Sei nicht aus schwacher Eitelkeit und törichtem Dünkel eingenommen von Deinen Meinungen.“ So zu finden in seinem Standardwerk „Über den Umgang mit Menschen“. Die meisten Leute wissen nicht mal, dass sein berühmtes, 1788 erschienenes Buch so heißt. Und selbst wenn sie es wissen, merken sie nicht, worum es dabei geht.

Eben nicht um irgendwelche steifen Benimmregeln. Sondern um Regeln, die uns den Umgang miteinander erst möglich und friedlich machen. Oder um Knigge selbst zu zitieren: „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.“

Pflichten, „die wir allen Arten von Menschen schuldig sind“. Steht da. Genau so. Ausnahmslos.

Alles vergessen, nicht wahr Leute? Nie gehört? Nie drüber nachgedacht. Kam ja auch nicht in der Schule vor. War übrigens 1788, als Knigge seine Sammlung veröffentlicht hat, revolutionär. Aufklärerisch sowieso. Denn in der Gesellschaft, in der Knigge in seinen verschiedene subalternen Stellungen versuchte zu überleben, war „der gute Benimm“ keineswegs die Regel. Es gab die höfischen Manieren. Es gab aber auch den gelebten Standesdünkel, in dem die Amtsinhaber keine Probleme hatten, die ihnen Untergebenen zu schikanieren, zu beleidigen, verächtlich zu behandeln und zu beschimpfen. Ungefähr so wie heute die Bürgergeldempfänger.

Oder um meine Mutter zu zitieren: „Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf andere Leute.“

Manchmal ist man viel zu spät dankbar für solche Lehren.

Wenn privat nicht privat ist

Sie sehen schon: Ich nähere mich dem Thema. Denn heute ist es ja auch zu einem Sport geworden, über die Aufklärung herzuziehen und gute Erziehung für ein Laster zu halten. Und Männer zu bejubeln, die sich wie die Elefanten im Porzellanladen benehmen. Die öffentlich pöbeln und andere erniedrigen und sich dafür auch noch feiern, als wären es immer noch die Lümmel von der Straße, die gerade den kleinen blassen Kerl aus dem Hinterhof verprügelt haben. Regelrecht stolz darauf, dass sie auf einen Schwächeren eingedroschen haben.

Und dabei wissen wir seit Knigge, dass eine Gesellschaft so nicht funktioniert. Dass der gute Umgang miteinander erst dadurch entsteht, dass wir unsere Lust am Verächtlichmachen zügeln und uns lieber auf die Zunge beißen, weil das sonst der direkte Weg ist, eine Gesellschaft in ein Tollhaus zu verwandeln.

Originaltext Knigge: „Der, welchen nicht die Natur schon mit dieser glücklichen Anlage hat geboren werden lassen, erwerbe sich Studium der Menschen, eine gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt über heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüths …“

Klingt ein bisschen brav und bieder, trifft aber den Kern: Eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn wir uns nicht zähmen und allesamt respektvoll miteinander umgehen. Und besonders mit den Schwächsten um uns respektvoll umgehen. Das muss einfach immer wieder gesagt werden. Das interessiert zwar die Herren im Silicon Valley nicht die Bohne, weil sie mit Verhöhnung und Beleidigung Milliarden verdienen.

Sollte uns aber hier im kleinen Deutschland interessieren, wenn sich unser Land nicht in ein Tollhaus verwandeln soll. Ein Tollhaus, das es in den a-sozialen Netzen schon lange ist. Und weil das da so ist, glauben selbst Leute in honorigen Positionen, sie könnten dort ihrer Unerzogenheit freien Lauf lassen.

Jede Menge Leute in verantwortungsvollen Positionen darunter, die dann so tun, als habe das nichts mit der Stellung zu tun, die sie in der Gesellschaft einnehmen, als wäre der Kerl, der da herumpöbelt, ein völlig anderer als der offizielle Herr Richter, Pfarrer, Amtsleiter, Professor, Abgeordnete, gern auch Moderator oder Museumsdirektor.

Als hätten sie eine kleine Mauer im Kopf, über die sie hin und her hüpfen: hier ein öffentlicher Amtsinhaber, der vom Steuerzahler honoriert wird und für eine hochwohllöbliche Institution spricht. Und da der Privatmensch, der auf seinem kleinen Blog im Internet Dinge von sich gibt, für die sich der öffentliche Mensch nicht nur schämen würde.

Das Ding mit der Amtswürde

Aber das öffentliche Amt bedeutet ja nicht nur, dass da einer von der Allgemeinheit honoriert wird. Es bedeutet auch, dass sich dieser Mensch in diesem Amt respektvoll und würdevoll zu betragen hat. Respektvoll nicht nur dem eigenen Amt und seiner Institution gegenüber, sondern auch den ganz normalen Leuten da draußen. Der Bursche in seinem Amt sollte in seinem ganzen Verhalten die Würde seines Amtes verkörpern. Stichwort: Amtswürde. Selbst die Bundeszentrale für politische Bildung hat sich darüber Gedanken gemacht.

Und das bedeutet nun einmal: auch im Privaten. Oder dem, was der Herr in seinem Amt als privat verstehen könnte. Denn die Trennung täuscht. Auch das, was ein Amtsträger „privat“ über öffentliche Kanäle äußert, ist öffentlich. Auch wenn wir ständig diversen Herren begegnen, die alles abstreiten und es ganz anders gemeint haben wollen.

Ach so, frag’ ich dann. Hast du nicht nachgedacht, bevor du das Zeug geschrieben hast? Ist dein ganzes Amt eigentlich eine Lüge, weil du da „privat“ deine wirkliche Meinung über andere Menschen herausschmetterst? Wie verträgt sich das? Oder hat dir deine Mutter immer gesagt: Fein gemacht, Jungchen. Mach ruhig den Bully. So kommst du am besten durchs Leben.

Dafür bekommst du jede Menge Beifall von Jungs, die genauso sind wie du. Die Welt ist so. Nur die echten Bullys kriegen den Pott. Benimm dich nur richtig rücksichtslos und lass dir nicht einreden, dass es Regeln für den Umgang mit Leuten gibt.

Na gut, kann sein, dass es Mütter gibt, die ihren Söhnen so etwas mitgeben auf den Weg in ein gut gepolstertes Leben. Dann muss man sich freilich auch nicht wundern darüber, wenn Amtsträger sich wie die fiesen Jungs vom Schulhof benehmen. Und hinterher beleidigt sind, weil man sie beim Mobben erwischt hat.

Der Geist der Zeit

Und ja: Es geht auch um Demokratie und Republik und darum, dass die Herren, die in dieser Demokratie in Ämter gehoben wurden, verdammt noch mal verpflichtet sind, die ethischen Prinzipien der Demokratie und der Menschenwürde (siehe Grundgesetz) zu achten und zu repräsentieren. Immer und jederzeit. Denn sie können ihren Amtstitel nicht einfach ablegen und so tun, als wären sie privat ein anderer Mensch. Wer ein öffentliches Amt annimmt, ist verpflichtet dazu, dieses Amt mit Würde und Respekt zu verwalten. Nichts anderes. Ohne Ausnahmen.

Sie sehen schon, ich rede mich in Rage. Aber diese Unverantwortlichkeit, die da einige Leute in Ämtern an den Tag legen, geht für mich ans Eingemachte. Auch wenn es augenscheinlich zum „Geist der Zeit“ passt, privat seine gepflegte Homophobie in all ihren Spielarten auszuleben.

Vielleicht glaubt er sogar, dass das meinungsstark ist, so wie der polternde Onkel, der jede Familienparty crasht. Und nicht mal merkt, wie viel Porzellan er gerade zerdeppert, nur weil er bewundert werden will für seine Großschnäuzigkeit. Ist es aber nicht. Es ist würdelos und respektlos. Erst recht, wenn dann die faule Ausrede nachgeschoben wird: Ich hab das doch nicht so gemeint!

Ach ja?

Da kann ich wirklich nur sagen: Lies endlich deinen Knigge und versuch zu verstehen, was der Mann da so ausführlich erklärt hat.

Aber die Leute lesen ja nicht mehr. Sie posten nur noch. Und glauben auch noch, dass sie dafür Beifall bekommen. Aber nicht von mir.

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