Am Dienstag, 9. März, stellte Innenminister Roland Wöller die sächsische Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2020 vor, das Corona-Jahr, von dem man eigentlich hätte erwarten dürfen, dass die Zahl der Straftaten deutlich zurückgehen würde. Entsprechend gespannt haben nicht nur die Landtagsfraktionen auf die neue Statistik gewartet.

Aber wer meinte, die Kriminalstatistik für das Jahr 2020 würde in irgendeiner Weise Erhellendes über Sachsen im Corona-Jahr verraten, wurde größtenteils enttäuscht. Auch wenn sich ein Trend leider bestätigte: Die Zahl häuslicher Gewalttaten hat deutlich zugenommen. Oder sollte man besser formulieren: die Zahl der polizeibekannt gewordenen häuslichen Gewaltdelikte? Denn berichten kann die Polizei nur das, was bei ihr auch angezeigt wurde.Das Innenministerium fasste das Thema so zusammen: „Die Anzahl der Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt sind im Jahr 2020 auf 9.235 Fälle angestiegen. Im Jahr zuvor waren es 8.890 Fälle. Dabei bildeten Fälle im Bereich der Körperverletzungen (5.960) und Straftaten gegen die persönliche Freiheit (1.985) den Schwerpunkt. Die meisten Opfer häuslicher Gewalt waren ehemalige Partner (2.882), Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaften (1.924) und Ehepartner (1.393).“

Das war nicht einmal eine direkte Folge der Lockdowns, denn die Entwicklung der Vorjahre zeigte ebenfalls eine permanente Zunahme häuslicher Gewalt. Der Lockdown hat ein Problem lediglich verschärft, das schon vorher sichtbar war und das eng mit sozialen Problemlagen und beengten Wohnverhältnissen zu tun hat.

Entwicklung der häuslichen Gewalt in Sachsen. Grafik: Freistaat Sachsen, SMI
Entwicklung der häuslichen Gewalt in Sachsen. Grafik: Freistaat Sachsen, SMI

„Die jüngste Kriminalstatistik führt deutlich vor Augen, dass es in Sachsen weiter einen großen Handlungsbedarf beim Schutz vor allem von Kindern und Frauen vor häuslicher Gewalt gibt. Seit Jahren steigen die Zahlen kontinuierlich. Und es ist davon auszugehen, dass es darüber hinaus eine große Dunkelziffer gibt. Hinter jedem einzelnen angezeigten Fall stehen menschliche Schicksale, die ein konsequentes Handeln erfordern“, kommentierte das Hanka Kliese, gleichstellungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag.

„Gut, dass häusliche Gewalt in der polizeilichen Kriminalstatistik erstmals derart hervorgehoben behandelt wird. Denn das schafft Aufmerksamkeit für dieses Problem in der Öffentlichkeit. Nichts ist schlimmer als Schweigen und Nichthandeln bei diesem Thema.“

Sie bekräftigte bei der Gelegenheit die Forderung der SPD-Fraktion für einen Rechtsanspruch auf einen Platz im Frauenschutzhaus.

Hanka Kliese, SPD Sachsen. Foto: Götz Schleser
Hanka Kliese, SPD Sachsen. Foto: Götz Schleser

„Hilfe für Betroffene darf nicht von Wahlen und Haushaltsverhandlungen abhängen. Das Land muss diesen Gewaltopfern flächendeckend Schutzmöglichkeiten geben. Zudem sind die Beratungs- und Schutzeinrichtungen bedarfsgerecht und barrierefrei auszubauen. Gerade im ländlichen Raum gibt es großen Nachholbedarf“, sagte Kliese am Dienstag.

„Der Koalitionsvertrag, der zahlreiche Verbesserungsmaßnahmen vorsieht, ist konsequent umzusetzen. Dafür setzen wir uns in den laufenden Haushaltsberatungen mit Nachdruck ein. Denn die Herausforderungen beim Schutz von Kindern und Frauen bleiben unabhängig von der Pandemie, weil diese besonders oft Opfer häuslicher Gewalt sind. Dieser Schutz ist ein Menschenrecht – auch festgeschrieben in der Istanbul-Konvention, die seit 2018 in Deutschland geltendes Recht ist.“

Und damit verknüpft sie ein anderes Thema aus der Kriminalitätsstatistik, das der Innenminister davon getrennt erwähnte: die Hasskriminalität im Internet, die sich oft eben auch gegen Frauen richtet.

„Besonders aufmerksam müssen wir auch gegenüber neu aufkommenden Formen von Hass gegen Frauen sein, die sich vor allem auf Internetseiten spiegeln“, so Hanka Kliese. „Denn aus Worten werden Taten, so die traurige Erfahrung vieler Opfer von Gewalt.“

Es braucht eine andere Statistik

Denn offenkundig wurde bei der Vorstellung der Kriminalstatistik am Dienstag auch wieder, wie stark sie davon geprägt ist, was die Polizei ermittelt und wie gut die Kriminalabteilungen personell ausgestattet sind.

Kerstin Köditz (Linke). Foto: DiG/trialon
Kerstin Köditz (Linke). Foto: DiG/trialon

Ein Punkt, den Kerstin Köditz, in der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag zuständig für Innenpolitik, in ihrer Kritik aufgreift: „Die heute vorgelegte Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt auf den ersten Blick eine erfreuliche Entwicklung: 2020 wurden sachsenweit 272.588 Taten registriert – das sind nur wenige mehr als im Jahr zuvor. Doch der zweite Blick macht sofort klar, dass das überhaupt kein Grund zur Beruhigung ist und kein Erfolg, den sich der entlassungsreife Pannen-Innenminister Wöller anheften kann. Die besonderen Corona-Umstände führten wider Erwarten auch nicht zu einem Einbruch der Fallzahlen. Einen Grund, sich zurückzulehnen, gibt es nicht.“

„Einzelne Sektoren sind in dieser Phase sogar gewachsen, das Kriminalitätsgeschehen hat sich also verlagert. Besorgniserregend ist unter anderem die Zunahme von Gewaltfällen im häuslichen Umfeld, hier haben sich frühzeitig geäußerte Befürchtungen leider bewahrheitet. Deutlich zugenommen hat zudem die Zahl der bekanntgewordenen Sexualstraftaten. In diesem Bereich setzt sich ein unrühmlicher Trend fort, der schon in den Vorjahren zu erkennen gewesen ist – vom großen Dunkelfeld ganz zu schweigen. Hier muss künftig ein Schwerpunkt auf die Prävention gelegt werden sowie auf einen effektiven Opferschutz, der es Betroffenen erleichtert, sich der Polizei anzuvertrauen.“

Entwicklung von der Polizei registrierter Rauschgiftdelikte. Grafik: Freistaat Sachsen, SMI
Entwicklung von der Polizei registrierter Rauschgiftdelikte. Grafik: Freistaat Sachsen, SMI

„Leider haben sich auch die Befürchtungen bestätigt, dass der Lockdown u. a. zu einem Anstieg von Straftaten der häuslichen Gewalt beigetragen hat“, kommentiert auch Valentin Lippmann, innenpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Sächsischen Landtag, die Zahlen.

„Generell muss der Bekämpfung der sexualisierten und häuslichen Gewalt mit Blick auf die neuesten Zahlen eine hohe Priorität eingeräumt werden. Es ist leider zu befürchten, dass auch die jüngsten Zahlen lediglich ein Teil des Problems offenbaren, da gerade bei häuslicher Gewalt viele Straftaten nicht angezeigt werden. Die vom Landtag im September auf Antrag der Koalitionsfraktionen in Auftrag gegebene Dunkelfeldstudie ist daher wichtiger Schritt zu mehr Klarheit. Gleichzeit müssen die Hilfestrukturen für Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt, wie vom Landtag gefordert, flächendeckend und zügig ausgebaut werden. Bei zukünftigen Entscheidungen über Einschränkungen aufgrund der COVID19-Pandemie gilt es einmal mehr, Präventions- und Schutzangebote offenzuhalten.“

Valentin Lippmann (MdL, B90/Die Grünen). Foto: Michael Freitag
Valentin Lippmann (MdL, B90 /Die Grünen). Foto: Michael Freitag

Die Statistik gibt nun einmal nur wieder, was die Polizei sieht. Oder was sie sich durch verstärkte Kontrollen selber holt an „festgestellten Delikten“, so wie bei den Rauschgiftdelikten, zu denen das Innenministerium schreibt: „Die Anzahl der Rauschgiftdelikte stieg 2020 um knapp neun Prozent gegenüber dem Vorjahr. 2020 wurden 14.149 Delikte registriert (2019: 13.012). Während die Zahlen bei Crystal, welche zuvor seit 2014 stetig rückgängig waren, erstmals wieder stark um 15 Prozent anstiegen, setzte sich die Entwicklung bei Delikten im Zusammenhang mit Cannabisprodukten, wie Marihuana oder Haschisch fort und stieg weiterhin leicht um fünf Prozent an. Die Zunahme der Fallzahlen resultieren aus verstärkten Kontrollen der Polizei Sachsen auch im Zusammenhang mit den Corona-Schutzmaßnahmen sowie aus mehr Feststellungen der Zollbehörden am Leipziger Flughafen.“

Was ja dann auch die gemeldeten Fallzahlen infrage stellt, die ja eigentlich nur anstiegen, weil die Polizei im Corona-Jahr mehr Zeit für Kontrollen zum Beispiel im Leipziger „Bahnhofsviertel“ hatte. Ob sich die Polizeiarbeit verbessert hat, verrät das ganze Zahlenwerk nicht. Dazu braucht es eine völlig andere Berichterstattung, betont Lippmann: „Noch nicht erarbeitet ist der Periodische Sicherheitsbericht, der im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Er sollte künftig mit der PKS veröffentlicht werden und dabei helfen, die Zahlen der PKS als reine ,Eingangsstatistik‘ der Polizei besser einzuordnen und bestimmte Phänomenbereiche der Kriminalität besser einzuordnen. Ich erwarte, dass dieser Sicherheitsbericht im kommenden Jahr endlich vorliegt. “

Und auch Köditz kritisiert das Zahlenwerk: „Wie üblich gibt die Kriminalstatistik nur Aufschluss darüber, wie viele Straftaten der Polizei auch bekannt werden, nicht aber darüber, wie viele Straftaten tatsächlich begangen werden. Um die Entwicklung der Kriminalität insgesamt zu bewerten, wäre zusätzlich auch ein Blick darauf notwendig, wie viele Menschen am Ende aus welchen Gründen tatsächlich bestraft und welche Ermittlungsverfahren aus welchen Gründen eingestellt werden. Das leistet die Kriminalstatistik nicht.“

Keine Entwarnung gibt es auch angesichts der anhaltend hohen Fallzahlen im Bereich rechtsmotivierter Straftaten. Mit 2.117 Fällen bewegt sich das Aufkommen ganz nah am extremen Niveau der Vorjahre, eine Trendwende ist nicht in Sicht. Unverändert ist die Koalition am Zug, für alle Kriminalitätsbereiche ausreichende Ermittlungskapazitäten zu schaffen und so die Aufklärungsquoten nachhaltig zu steigern. Das gelingt nicht durch den schlichten Ruf nach mehr Polizei und immer weiterreichende Befugnisse, sondern durch genügend Kriminalistinnen und Kriminalisten, die Straftaten aufklären können.

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