Künftige Generationen werden nur noch den Kopf schütteln über das, was Leipzig in den Jahren bis 2020 unter Verkehrspolitik verstanden hat. Sie werden schlicht nicht verstehen, warum das einmalige Zeitfenster nicht genutzt wurde, den so gepriesenen Umweltverbund endgültig zur Priorität zu machen. Nicht mal die Chance, leistungsfähige Radwege anzulegen, wurde genutzt. Ergebnis: Nach den Lockdowns ging es auch mit den Verkehrsunfällen munter so weiter wie zuvor.

Das Problem in den Unfallstatistiken der Polizei ist immer: Sie registrieren Schuldige und schuldhaftes Verhalten, nicht die Fehlstellen in den Verkehrsanlagen, die Verkehrsteilnehmer erst in unübersichtliche Situationen bringen, in denen dann Momente der Unaufmerksamkeit genügen und es kracht. Das Problem ist wesentlich größer als der Versuch der Leipziger Straßenverkehrsbehörde, über die Ermittlung von Unfallschwerpunkten herauszubekommen, wo an welcher Stelle Umbauten im Verkehrsraum notwendig sind.Mit Vernunft hat diese Denkweise nicht viel zu tun. Sie ist eher das Flicken von Problemstellen in einem Straßennetz, in dem gerade schwächere Verkehrsteilnehmer mehr oder weniger nur geduldet sind. Nicht die Schwächsten bestimmen die Prioritäten in der Verkehrsplanung, sondern die Hochmotorisierten.

Das Thema wird in den nächsten Jahren für wirklich noch ernsthafte Debatten im Stadtrat, mit der Verwaltung und der Autolobby führen. Denn so ist weder die Verkehrswende zu schaffen (die wird nämlich von den Prioritäten bestimmt, nicht von netten Zugeständnissen), noch werden Leipzigs Straßen auf diese Weise sicherer.

Denn sicherer werden sie erst, wenn Fußgänger/-innen und Radfahrer/-innen ein sicheres und geschütztes Netz zur Fortbewegung bekommen, nicht nur ein paar Radfahrstreifen, Ampeln und Zebrastreifen.

Und im ersten Lockdown 2020 war die Chance offenkundig. Andere Großstädte wie Berlin, ganz zu schweigen von Madrid oder Paris, ergriffen die Gelegenheit beim Schopf und schafften kurzerhand mehr Platz für Radfahrende. In Leipzig rang sich die Verkehrsverwaltung nicht mal zu vorläufigen Pop-up-Radwegen durch.

Und so ist es kein Wunder, dass gleich nach dem Auslaufen des Lockdowns die Unfallzahlen auf Leipzigs Straßen wieder anzogen und sogar das Vorjahresniveau übertrafen.

Eine eindrucksvolle Grafik im neuen Quartalsbericht macht das sichtbar.

„Die Corona-Pandemie hatte deutliche Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten der Leipzigerinnen und Leipziger. Infolgedessen gab es insbesondere in Lock-down-Monaten weniger Verkehrsunfälle als in den jeweiligen Vorjahresmonaten“, heißt es im erklärenden Text der Autor/-innen. „Im Jahr 2020 ereigneten sich insgesamt 12.237 Straßenverkehrsunfälle.“

Im Zahlenteil führt der Quartalsbericht freilich nur 11.925 registrierte Verkehrsunfälle auf, was dann doch deutlich weniger waren als im Jahr 2019, als es 13.201 waren. Aber auch diese Zahl ist eigentlich zu hoch, wenn man sieht, dass das Verkehrsgeschehen sowohl im Frühjahr als auch im Herbst aufgrund der Lockdowns deutlich zurückging.

„Bei 1.770 Unfällen entstanden Personenschäden, wobei 2.073 Verunglückte gezählt wurden. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht dies 10 Prozent weniger Unfällen auf Leipzigs Straßen und 15 Prozent weniger Verunglückten“, so die Statistiker/-innen.

„Dennoch gab es 2020 ein Todesopfer mehr zu beklagen als 2019 (15 vs. 14 im Vorjahr). Bemerkenswert ist zudem, dass nach vorsichtiger ‚Öffnung‘ während der Pandemiezeit die Verkehrsunfälle sogar das Vorjahresniveau überschritten. In den Monaten September und Oktober gab es jeweils 11 Prozent bzw. 14 Prozent mehr Straßenverkehrsunfälle als im Vorjahreszeitraum.“

Wobei im Zahlenteil auch bei den Todesopfern ein Gleichstand mit 14 getöteten Personen zu finden ist. Tatsächlich gab es wesentlich weniger Unfälle mit Personenschaden – wurden 2018 2.375 Personen im Leipziger Straßenverkehr verletzt, so waren es 2020 nach nur 2.011 (ebenfalls weniger, als oben genannt).

Die erhöhten Unfallzahlen im September und Oktober deuten wohl eher darauf hin, dass viele Leipziger/-innen nach dem Frühjahrslockdown und dem Sommerurlaub erstmals wieder ins tägliche Verkehrsgewühl zurückkehrten und bis zur alten Gewöhnung wieder Probleme hatten, unbeschadet durchzukommen. An geänderten Verkehrsführungen lagen die erhöhten Zahlen jedenfalls nicht. Ab November mit dem zweiten Lockdown gingen die Unfallzahlen dann wieder deutlich zurück.

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Es gibt 4 Kommentare

Naja, ganz so schlimm wird es schon nicht werden 😉
Aber die Tendenz geht ja aktuell genau dahin, dass erstens mehr auf den Gehwegen an Gastronomie genehmigt wird, sicher auch weil es die Gastrobetreibendinnen hart getroffen hat in der Krise, und dass zweitens aktuell nicht so genau hingesehen wird, was die Ausweitung der genehmigten Flächen angeht. Was wiederum zur Verdrängung auf Straßen führt, wo Leute inzwischen gehen oder ihren jogg-Sport betreiben, oder ihr Rad schieben.
Mit der weiteren Ausweitung der Gastro auf die Parkplätze ist der nächste Schritt gegangen, und da fehlt in meiner Phantasie jetzt nicht viel, bis es zum Autoverbot kommt und der Tisch in der Mitte der Straße steht. Ist das überhaupt noch Phantasie, oder bereits konkreter Wunsch mancher Leute?

Genau. Ab nächstes Jahr ist die ganze Karli dicht mit Freisitzen, und die Radfahrer müssen ihre Maschinen auf den separierten Straßenbahngleisen schieben – zwischen den Fußgängern, die auch dorthin verdrängt wurden.

Richtig, und deshalb laufen *Fußgänger immer öfter mitten auf der Straße. Es macht schlicht keinen “Spaß” sich mit Kellnern und Gästen zu nerven, wenn man mal sein Rad da durch schiebt. Dienstag erst am Puschkin erlebt, die Tische standen bis an die Kreuzungsecke ran.
Die Folge im Zeitgeist wird nicht etwa sein, dass man die Freisitzflächen nach einem Sommer entschädigend für die Lockdownzeit wieder auf ein normales Maß zurückgenehmigt, sondern dass die Straßen zugemacht werden. Cafés und Freisitze an jeder Hauptstraße – auch im Winter!

In Leipzig stehen Fußgänger in der Rangfolge noch hinter den Radfahrern und die haben schon keinen guten Stand (auch wenn die Stadt gern öffentlichkeitswirksam das Gegenteil kundtun möchte).
Da sind zum Beispiel zusätzliche kostenfreie Räume für privatwirtschaftliche Geschäftsinteressen (Freisitze!) wichtiger, als geschützte Aufenthalts- und Bewegungsräume.

Der Fußweg in der Gottschedstraße ist ja jetzt schon vor lauter Freisitzen unbenutzbar. Nun dehnen die sich auch noch auf die Parkbuchten aus, was den Verkehr trotzdem nicht wesentlich beruhigen wird. Die Fußgänger müssen sich mit Radfahrern und Autos die Straße teilen oder werden zumindest wie Aussätzige an den unattraktiven Straßenrand auf der anderen Straßenseite verbannt.

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