Nun ist die nächste Katze aus dem Sack, wenn es um sächsische Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden geht. Wie der „Spiegel“ heute berichtet, wurde auch der stellvertretende Ministerpräsident Sachsens, Martin Dulig (SPD), bis mindestens 2018 vom sächsischen Verfassungsschutz überwacht. Für Kenner nur der nächste „Einzelfall“ oder besser, die Spitze des Eisberges. Unter der Wasseroberfläche finden sich längst weitere prominente Fälle, in denen die Schlapphüte anlasslos und offenbar widerrechtlich auch Leipziger Politikerinnen bis hinein ins Privatleben überwacht haben. Nun folgen eine Pressekonferenz und erste Klagen gegen den Freistaat.

Was im Hamburger Magazin wie eine echte Medienbombe wirkt, ist Teil einer längeren Entwicklung. Bereits in den vergangenen Monaten hatten unter anderem der Landtagsabgeordnete Marco Böhme (Linke), Christin Melcher (MdL, Grüne) und die stellv. Stadtvorsitzende der SPD, Irena Rudolph-Kokot im Rahmen ihrer Auskunftsrechte Anfragen beim sächsischen Verfassungsschutz gestartet, um zu erfahren, was die Behörde so alles über sie gesammelt haben mag.Erhofften sich dabei noch einige ein weißes Blatt Papier, ergab sich im Gegenteil dazu ein Bild, was am Beispiel Rudolph-Kokots von Demonstrationsteilnahmen bis zu einem Konzertbesuch im Leipziger Werk 2 reichte. „Widerrechtlich“ nannte dies der Leipziger Grüne und Rechtsanwalt Jürgen Kasek bereits am 8. Mai 2021 bei einer Demo am „Tag der Befreiung“ auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz und kündigte Klagen gegen den Verfassungsschutz an.

Morgen, am 9. Juni 2021, haben nun „Leipzig nimmt Platz“, Jürgen Kasek und weitere eine Pressekonferenz zum Klagevorhaben angekündigt (LZ wird berichten).

Wenn an diesem 8. Mai 2021 noch jene über die Klageankündigung gegen das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) lachten, die sonst jede Klagedrohung aus „Querdenker“-Kreisen unhinterfragt glauben, ist nun die Lage noch einmal deutlich schärfer und der Klagewillen der Betroffenen gestiegen.

„Neben Dulig werden in dem Papier weitere sächsische Parlamentarier genannt, zu denen das LfV illegal Daten sammelte beziehungsweise speicherte, darunter der Fraktionschef der Linken, Rico Gebhardt, sein Fraktionskollege Marco Böhme sowie die Grünenpolitiker Valentin Lippmann und Christin Melcher“, so der „Spiegel“ am heutigen 8. Juni 2021 kurz und klar.

Dies gehe nun aus dem am 7. Juni 2021 bekanntgewordenen „Nachtrag zum ,Abschlussbericht zur Sammlung und Speicherung von Abgeordnetendaten`“ hervor, in welchem auch über kritische Äußerungen von Martin Dulig (SPD-Landesvorsitzender, Minister für Wirtschaft) über die CDU aus dem Jahr 2018 als gespeicherte Informationen berichtet wird.

Brisant ist in jedem Fall der vorgebliche „Grund“ für die Speicherung von Äußerungen aus öffentlich einsehbaren Kanälen (also noch keine verdeckte Überwachung). Es geht um Duligs Haltung zum bereits damaligen Koalitionspartner CDU und dessen Mitschuld durch Verharmlosung am Dauerthema Rechtsextremismus in Sachsen.

Oder anders gesagt: Eine normale politische Meinungsäußerung aus dem Jahr 2018 führt in Sachsen für einen bereits damals im Amt befindlichen Minister der SPD dazu, dass ein offenbar außer Rand und Band geratener Inlandsgeheimdienst eine Akte über ihn anlegt.

Da wundert es kaum noch, dass den Geheimdienstlern egal war, dass sie mindestens in den Fällen Lippmann, Gebhardt und Böhme mal eben damalige und heutige Mitglieder des Landesparlamentes Sachsen überwachten. Wenn der Spiegel heute andeutet, dass eben diese Überwachungen zum Rauswurf des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Gordian Meyer-Plath beigetragen haben sollen, darf man nun auf die Erklärungen des damals und heute amtierenden Innenministers Roland Wöller (CDU) gespannt sein.

Erneut muss der CDU-Politiker also einen Skandal erklären, den er nicht offen angegangen und kommuniziert hat. Sollte er auch diesen Vorgang im Amt überstehen, stehen als Nächstes die Umstände des Vorgehens des LKA Sachsen gegen Henry A. in Leipzig an.

Die Vorwürfe letztlich gegen das LKA Sachsen und die Leipziger Staatsanwaltschaft wegen Geheimnisverrats, Datenhehlerei und Datenausspähung liegen mittlerweile bei der Generalstaatsanwaltschaft Sachsens, während Wöller vor einigen Tagen in Koalitionskreisen wenig ambitioniert eine interne Untersuchung beim LKA ankündigen musste. Öffentlich geäußert hat er sich auch dazu bis heute nicht, einer Anfrage der Linken-Abgeordneten Juliane Nagel entgegnete sein Ministerium mit Floskeln.

Auch dieser neue Fall von behördlicher Regelübertretungen, Rechtsbruch und tiefsitzender Misstrauenskultur einer Sachsen-CDU samt der von ihr seit Jahrzehnten dominierten Behörden gegenüber allem, was vermeintlich „links“ und in Wirklichkeit schlicht kritisch ist, verstärkt einmal mehr einen fatalen Eindruck: Dass das Demokratieproblem im Freistaat bis nach ganz oben reicht und ein Strukturproblem ist.

Da sammeln sich Massenüberwachungen wie 2011 in Dresden, über die Ausspähung der BSG Chemie und Geheimnisträgern wie Journalistinnen und Rechtsanwälten nun bis zur Datensammlung von missliebigen politischen Gegnern aus SPD, Grünen und Linken.

Ein „Einzelfall“ jedenfalls ist nach all den Jahren ausgeschlossen. Und wie es um die „Analysefähigkeit“ eines Dienstes bestellt ist, der offenbar nichts Wichtiges zu tun hat, kann man hier nachlesen.

Die morgige Leipziger Pressekonferenz der Betroffenen der widerrechtlichen Verfassungsschutzüberwachung und den anstehenden Klagen wird die LZ live übertragen.

Die Klageankündigung vom 8. Mai 2021 in Leipzig

Video: LZ

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Michael Freitag über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Es gibt 2 Kommentare

Durchhalten ist natürlich immer eine Option. Mir tun die Kinder in den Schulklassen leid, die an die falschen Lehrer*nenn geraten. So etwas kann (unbewusst ) ein ganzes Leben beeinträchtigen und im krassesten Fall zerstören. Mich hat der Sadist? Bannier damals übrigens vor der versammelten Klasse aufgefordert aus dem Simpliccissimus vorzulesen. Es war für alle mehr als schrecklich..
“Christoph – du hier und nicht in Hollywood ” Kann man so etwas als Deutschgrundkurs- und Englischleistungskursleiter nicht auch positiver und motivierender, fördernder.. formulieren?
Übrigens: seine Freundin schmetterte den Prometheus, ich versagte mit dem Zauberlehrling.
Immerhin waren mindestens 2 von fast 20 als Au-pair in den USA, ein anderer war mit Promotion da hängen geblieben, während die größte USA-Freundin nie wirklich eine Chance bekam..

Das Problem ist die gefühlte Unsicherheit (bei Machtmissbrauch).

Was waren die Konzequenzen aus der Abhörung der Bundesregierung durch die USA mit Hilfe Dänemarks?
Eben, und das weiß auch Wöller.
Er muss nur noch bis September durchhalten, dann wir er Bundesinnenminister.

Schreiben Sie einen Kommentar