Wenn man mit Henry A. über ihn selbst spricht, betont der 33-Jährige, dass er als junger Mann nicht immer alles richtig gemacht hat. Doch „seit fünf Jahren bin ich doch aus allem raus“, so A. im Gespräch mit der LZ über die Zeit seit 2016. Schon 2017 übermannt ihn das Gefühl, dass sein Leben nie wieder auf die Reihe kommt. Trotz jahrelanger, fester Arbeitsstelle und einem großen Freundeskreis unternimmt der Verwaltungsfachangestellte drei Suizidversuche.

Der ehemals fröhliche Fußballfan will sich 2018 das Leben nehmen, es ist nicht der erste Versuch seit 2017. Er fühlt sich verfolgt, niedergeschlagen und lebensmüde angesichts der massiven Eingriffe in sein Leben und der Ungewissheit, ob das je wieder aufhört. Danach begibt er sich in psychotherapeutische Behandlung, 2019 lernt er seine heutige Lebensgefährtin kennen. Eine starke Frau, die gegenüber der LZ betont, dass sie ruhig bleiben konnte, während die Beamten am 28. April 2021 14 Stunden lang ihre Wohnung auf den Kopf stellten.Da Henry A.s Mobiltelefon an diesem Tag zur Beweissicherung mitgenommen wird, gibt sie ihre Mobilnummer als Kontakt für Nachfragen seitens der an der Durchsuchung beteiligten Ermittler an. Am Tag darauf, den 29. April, folgen mehrfache anonyme Anrufversuche, bis sie einen Anruf annimmt. Die anonyme Botschaft einer Männerstimme lautet nur: „Henry soll mal bei ‚Compact’ Online schauen“; danach wird aufgelegt. Weitere Anrufe gleicher Art folgen nicht mehr.

Der Beitrag der rechtsextremen Seite „Compact Magazin“ handelt ausschließlich von der Razzia bei Henry A. (es gab mindestens vier weitere an diesem Tag), der Adresse seiner aktuellen Arbeitsstelle, der Dauer der Durchsuchung in seiner Wohnung unter Angabe von Adressen. Wissen, welches selbst der LZ zu diesem Zeitpunkt trotz jahrzehntelangem Lokaljournalismus nicht vorlag. Mindestens zwei Tage lang ist auch den lokalen Medien unbekannt, bei wem genau sich die „Razzia in Connewitz“ abgespielt haben soll.

Nur die BILD soll vorab einen Hinweis aus Polizeikreisen bekommen haben.

Auch der Autor des Textes bei „Compact“ ist eher ein Rätsel. Bis auf diesen Artikel, welcher in dieser Detaildichte keine 24 Stunden nach der Polizeimaßnahme erscheint, hat der angeblich „bekannte Compact-Gastautor“ „Sascha Neuschäfer“ vorher und nachher keine auffindbaren Beiträge im Netz veröffentlicht. Dass er ein Journalist, geschweige ein bekannter Kollege ist, ist damit nahezu ausgeschlossen. Auch die Netz-Suche nach seinem Namen ergibt keine relevanten Treffer, der gewählte Autorenname ist ein „Geist“.

Der Bericht selbst ist so geschrieben, dass man Henry A. mit wenig Mühe identifizieren kann, er wird „Gewalttäter“ genannt und der Verweis auf seine Arbeitsstelle soll ihm bewusst schaden. Teile des Beitrages musste „Compact“ bereits löschen, die entsprechende Abmahnung unterschrieb das Blatt ohne weitere Gegenwehr.

Auf LZ-Nachfrage, wie detaillierte Informationen aus der Razzia, über den Beschuldigten selbst und die Zeitabläufe vom 28. April 2021 so schnell in ein sonst eher rechercheschwaches Netz-Magazin gelangen konnten, erklärt Tom Bernhardt, es lägen seitens des LKA Sachsen keine Erkenntnisse vor, „dass diese durch LKA-Mitarbeiter an Journalisten weitergegeben wurden.“

Dennoch sei der Vorgang „unmittelbar nach Kenntniserlangung durch die Soko LinX angezeigt und der Staatsanwaltschaft Leipzig mit der Bitte um Prüfung, ob ein Anfangsverdacht für einen Verstoß gegen § 353b StGB vorliegt, übersandt!“ worden, so Bernhardt.

Damit ist es also nun an der Staatsanwaltschaft Leipzig zu prüfen, ob hier Polizeibeamte des LKA Sachsen oder Polizisten der mit der Koordination der Razzia beauftragten Polizeidirektion Leipzig mit einem Medium zusammenarbeiten, welches vom Verfassungsschutz überwacht wird. Oder gar für dieses schreiben, wenn es ihrer Überzeugung dient, einem Beschuldigten das Handwerk zu legen. Wenn schon nicht vor Gericht, so wenigstens auf diesem Wege.

Wacklige Beweise, ein fehlendes Gutachten

Denn jedem, der den Durchsuchungsbeschluss des Landgerichtes Leipzig für den 28. April 2021 liest, wird schnell klar, wie dünn die Vorwürfe gegen Henry A. begründet sind. DNA-Spuren? Fehlanzeige. Zeugenaussagen? Keine. Umfeldermittlungen rings um die Tatzeit 10:30 Uhr am 1. September 2019? Null.

Die Unverletzbarkeit der gemeinsamen Wohnung von Henry A., seiner Partnerin und seines Kindes wurde laut Beschluss vom 16. März 2021 „aufgrund eines Abgleiches der Augenpartie eines der Täter mit dem Beschuldigten und des Umstandes, dass der Beschuldigte dem Verein der BSG Chemie Leipzig zugehörig ist“ aufgehoben. Dazu hatten die Ermittler ein Foto von Henry A. mit einem Video vom 1. September 2019 abgeglichen. Woher das Video stammt, ist unbekannt, doch offenbar sind darauf vermummte Männer bei Begehung der Taten am Bahnhof Neukieritzsch zu sehen.

Auf LZ-Nachfrage zur schwachen Ausgangslage für eine Beschuldigung und die 14-stündige Wohnungsdurchsuchung bei Henry A. erklärt Pressesprecherin Katrin Seidel, Richterin am Landgericht: „Der Kammer lag die Ermittlungsakte, einschließlich des Videos, Lichtbilder des Beschuldigten und Einschätzungen/Identifizierungen der Polizei zugrunde, die den ausreichenden Verdacht ergeben haben, dass der Beschuldigte die auf dem Video erkennbare Person ist. Die ‚Feststellung einer Schuld‘ ist von einem Tatverdacht zu trennen und nicht für einen Durchsuchungsbeschluss erforderlich.“

Entgegen der sprachlichen Raffinesse, im Durchsuchungsbeschluss von einem „Beschuldigten“, also „Schuld“ zu sprechen und nun auf einen Tatverdacht zurückzudrehen, konnten die drei „begutachtenden“ Richterinnen am Landgericht auf eines nicht zurückgreifen: ein wissenschaftliches Gutachten zur verglichenen Augenpartie, die angeblich die von Henry A. sein soll.

Ein solches und weitere Indizien gegen Henry A. habe die Strafkammer des Landgerichtes nicht, räumt Richterin Seidel ein. „Unabhängig davon, dass wohl auch kein Anspruch der Presse bestehen dürfte, über einzelne Ermittlungen oder Akteninhalte in laufenden Verfahren informiert zu werden, hat die Kammer über die in dem Beschluss genannten Beweismittel hinaus keine ‚geheimen‘ oder ‚relevante aber verschwiegene‘ Aktenbestandteile wie z. B. Gutachten gehabt“, so Seidel.

Vielleicht wäre das besser gewesen, so bleibt die Faktenlage bedenklich dünn. Allgemein bekannt ist, dass es gerade notorisch überlasteten Ermittlungsrichtern selten möglich ist, Vorwürfe der Ermittler von Polizei und Staatsanwaltschaft genauestens zu prüfen. Im Gegenteil, nicht selten ist im Justizapparat mangels ausreichender Richterzahl gerade in diesem Bereich von „Unterschriftenautomaten“ die Rede.

Und explizites Expertenwissen bezüglich der Ähnlichkeiten und Unterschiede von Augenpartien, zumal in Abhängigkeit der Qualität des Videomaterials, dürften auch Landgerichtsrichter nicht haben.

Die Angst des Henry A.

Am 1. September 2019 schreiben sich Henry A. und seine damals neue Freundin und heutige Lebensgefährtin rings um den Zeitpunkt, an dem sich A. angeblich in Neukieritzsch befinden und Pyrotechnik in einen Zug werfen soll, gegenseitig Nachrichten über einen Mobil-Messenger. Am Morgen hat der damals 31-Jährige für seine neue Freundin am Rechner noch Blumen bestellt. Man wohnt noch nicht zusammen, es ist Honeymoon-Zeit in der Beziehung, die Handy-Nachrichten sind entsprechend intimer Natur.

Wenn die Ermittler also wollen, können sie durch einen Funkzellenabgleich feststellen, wo sich eben das Mobiltelefon, welches sie am 28. April 2021 mitnahmen, am 1. September 2019 befand. Und sich fragen, ob der Chat auch von einem Dritten, dem A. dazu hätte sein Mobiltelefon überlassen müssen, so gestaltet hätte werden können. Und wie realistisch dies ist. Ob sie es tun, da ist sich Henry A. nicht mehr so sicher. Und damit ist er nicht mehr allein.

Angesichts des seit Jahren gegen ihn laufenden Verfolgungseifers im LKA Sachsen und dem jüngst vom Stadtmagazin „Kreuzer“ aufgebrachten Vorwurfs, dass LKA-Sachsen-Ermittler Rechtsextremisten wie den Leipziger Enrico Böhm (Ex-NPD) und seine Lebensgefährtin als belastbare Quellen für Ermittlungen nutzen könnten, leider nicht mehr ausgeschlossen.

Sein Anwalt Christian Avenarius jedenfalls scheint diese Bedenken längst zu teilen und hat die Ermittler in einem der LZ vorliegenden Schreiben bereits explizit auf diese entlastenden Details hingewiesen. Die Angst, dass einige Polizisten eigene Überzeugungen vor eine sachliche Aufklärung stellen und entlastende Beweise unter den Tisch fallen lassen, steht im Raum.

Und sich somit der Verfolgung Unschuldiger strafbar machen.

„Sofern der Verdacht auf Verfolgung Unschuldiger bestehen sollte, kann dies auf der Grundlage des § 344 StGB erfolgen“, teilt Pressesprecher Tom Bernhardt für das LKA-Sachsen in einer Anmerkung auf die LZ-Presseanfrage zur strafrechtlichen Bewertung mit. Diese Art des Amtsmissbrauches wird bei Nachweis mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft.

Ob die Beamten, die schon die anderen erfolglosen Strafverfolgungen gegen Henry A. einleiteten und vorantrieben, auch im aktuellen Fall um den Ãœberfall in Neukieritzsch beteiligt oder irgendwie involviert sind, wollte Bernhardt nicht beantworten.

Der Teil 3 rings um die aktuellen Ermittlungen gegen Henry A. unter „Unschuldig verfolgt (3): Anonyme Beschuldigungen und eine Ermittlungsakte als Katastrophenbericht” auf L-IZ.de.

Der Teil 1 zur Vorgeschichte zu den Ermittlungen gegen Henry s. unter „Unschuldig verfolgt (1): Seit acht Jahren im Fadenkreuz des LKA Sachsen“ auf L-IZ.de

„Unschuldig verfolgt“ (Teil 1 und 2) erschien erstmals am 28. Mai 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 91 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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