LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 84, seit 23. Oktober im HandelObwohl Almedin Civa erst seit dem 1. Juli Trainer des 1. FC Lok ist, hat er der 1. Mannschaft schon eine klare Handschrift gegeben. Die Vorbereitung war mit drei Wochen kurz, die Ausgangslage nach dem verpassten Aufstieg schwer. Dennoch befindet sich Lok im oberen Tabellen-Mittelfeld und Spieler und Verantwortliche sind mit der Verpflichtung Civas sehr zufrieden. Der gebürtige Bosnier spricht im ersten großen Interview in der LZ allerdings nicht nur über Lok, sondern auch über seine Heimat, Krieg und die Scheinheiligkeit der Champions League.

Herr Civa, im nächsten Jahr jährt sich der Jugoslawien-Krieg zum 30. Mal. Spielt das für Sie eine Rolle?

Ja! Ich denke, es sollte auch für Leute, die nicht mit dem Land verbunden sind, eine Rolle spielen. Denn es war mitten in Europa, wo Anfang der 1990er Jahre so ein Krieg zustande kam. Nur einige hundert Kilometer von Deutschland entfernt passierte viel Kriegs-Unheil, Massaker, Genozid. Es war eine absolute Niederlage für die Welt- und Europapolitik. Jeder Krieg ist eine Niederlage der Menschheit. Wir fliegen zum Mond oder zum Mars, können Viren erkennen, die man nicht sieht und wer weiß was noch alles. Aber wir haben es nicht hingekriegt, den Leuten zu helfen. Das war erneut ein schwarzer Fleck in der europäischen Geschichte.

Spielt es für Sie heute irgendeine Rolle, ob Sie einen Serben, einen Kroaten oder Bosnier treffen? Und wie sind Sie damals nach Deutschland gekommen?

Das hat für mich nie eine Rolle gespielt. In bin in Breza geboren, das ist 18 Kilometer von der Hauptstadt Sarajevo entfernt. Damals lag das zentral in Jugoslawien. In Bosnien und in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, war Multi-Kulti. Man nennt Sarajevo auch Klein-Jerusalem, du hörst mittags sowohl den Muezzin rufen als auch die Kirchenglocken läuten. Da merkst du, wie vielfältig das ist. Wir hatten in unserer Familie auch nie einen Unterschied gemacht, ob jemand orthodox war, Katholik oder was auch immer. So bin ich aufgewachsen. Ich bin in Jugoslawien geboren – in der jetzigen Republik Bosnien. Mit sieben Monaten – im November 1972 – bin ich schon nach West-Berlin gekommen und bin – bis auf sechs Jahre – in Deutschland aufgewachsen.

Als es in den 1980er Jahren eine Phase gab, wo die Gastarbeiter wieder zurückwollten, wollten auch meine Eltern zurück nach Jugoslawien, da meine Schwester dort geheiratet hat. Sie meldeten mich also hier in der Schule ab, da war ich in der 5. Klasse. Nach der Hochzeit wollten sie aber doch noch ein paar Jahre in Deutschland bleiben und noch ein bisschen Geld erarbeiten. Meine Schwester hat dann angeboten, dass ich bei ihr in Bosnien wohnen kann, wo ich die 6., 7. und 8. Klasse gemacht habe.

Nach diesen drei Jahren – das war 1987 – haben unsere Eltern gesagt: Mach’ die Schule dort ganz zu Ende. So war ich die nächsten drei Jahre – bis 1990 – im Internat in Sarajevo. Meine Eltern wollten dann doch bis zur Rente in Deutschland bleiben und haben zu mir gesagt: Komm wieder zurück. So bin ich mit 18 Jahren nach Berlin zurückgekehrt und hatte das Glück, dass ich Fußball spielen konnte. So bin ich bei Tennis Borussia gelandet und bin bis heute beim Fußball geblieben. Im April 1992 ist dann in Bosnien der Krieg ausgebrochen.

Civa will Lok dabei helfen, "diese schwere Zeit nach dem verpassten Aufstieg zu überleben". Foto: Jan Kaefer
Civa will Lok dabei helfen, “diese schwere Zeit nach dem verpassten Aufstieg zu überleben”. Foto: Jan Kaefer

Denken Sie manchmal: Was wäre das für eine super Nationalmannschaft, wenn es Jugoslawien noch gäbe?

Ständig. Jugoslawien war immer gut, und die Liga war top. Roter Stern Belgrad hatte 1991 sogar den Europapokal der Landesmeister gewonnen. Zur WM 1990 ist Ivica Osim Trainer geworden, der hat Struktur reingebracht. Da kamen sie bis ins Viertelfinale und haben gegen Argentinien im Elfmeterschießen drei Elfer verschossen. Wenn man sieht, wo die ex-jugoslawischen Spieler jetzt alle so spielen und was für Erfolge die hatten – ob es Kroatien ist oder Slowenien Ende der 1990er Jahre – dann kann man schon sagen, dass das eine geile Mannschaft gewesen ist. Aber das war auch beim Basketball, Volleyball, Wasserball und Handball so. Weltmeister, Olympiasieger – also das war schon eine sportbegeisterte Nation gewesen.

Heute ist es schwierig. Bosnien hatte zwar eine „goldene Generation“, die sich 2014 zur WM qualifiziert hatte, aber viele Bosnier sind geflüchtet und vertrieben worden. Viele sind dann nicht mehr zurückgekommen, deshalb gibt es in der ganzen Welt verteilt viele bosnische Fußballer. Es gibt in Bosnien auch wenig finanzielle Mittel, das heißt, du hast zum Beispiel keine Scouting-Abteilungen. Die Liga hat mit allem zu kämpfen, das ist schon schwierig.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 84, Ausgabe Oktober 2020. Foto: Screen LZ
Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 84, Ausgabe Oktober 2020. Foto: Screen LZ

Damals spielten die starken jugoslawischen Teams beziehungsweise Mannschaften vom Balkan international noch eine gute Rolle. Das ist heute leider nicht mehr so, jetzt dominiert Westeuropa komplett. Dinamo Zagreb oder Roter Stern Belgrad fliegen mittlerweile ja unter dem Radar …

Die Champions League, wie sie jetzt ist, ist für mich keine Champions League mehr. Da müsste man das „Champions“ raus nehmen, denn das ist es ja nicht. Man steuert in die Richtung, dass nur die großen Vereine die Vorteile haben. Wenn du vier oder acht Spiele hast, hast du mehr Vorteile, da kannst du auch einmal ausrutschen. Aber der Reiz des Fußball geht dabei verloren. Denn viele Vereine können nicht mehr dabei sein, da sie sich erst dafür qualifizieren müssen.

In Bosnien ist zum Beispiel Željezničar Sarajevo Meister geworden. Die müssen eine, zwei, drei Qualifikationsrunden spielen. Aber da sind in der nächsten Saison schon drei gute Spieler weg, weil sie es als ihre letzte Chance ansehen, Geld zu verdienen. So gehen sie in die Türkei, nach Belgien oder manchmal auch in die 2. Liga nach Deutschland oder so. Das heißt also, Sarajevo hat in der Quali überhaupt gar keine Chance mehr. Ich war letzten Sommer beim Spiel FK Sarajevo gegen Celtic Glasgow. Die hatten keine Chance.

Was ich sagen will ist: Wenn man ihnen die Möglichkeit gäbe, mal in der Champions League zu spielen, dann kämen auch die Einnahmen. Das würde helfen, Struktur in die Liga zu bringen. Aber sie bekommen diese Chance nicht. In England kann jemand Vierter werden und es trotzdem bis zum Finale schaffen. Aber woanders arbeitet einer das ganze Jahr dafür, Meister zu werden, und muss trotzdem drei Qualis machen – die er dann nicht schaffen kann. Es wird immer gesagt, wir helfen. Aber wo ist die Hilfe? Das ist meiner Meinung nach scheinheilig.

Sie sind seit diesem Sommer Trainer beim 1. FC Lok Leipzig. Hat es für Ihre Entscheidung eine Rolle gespielt, dass in dem Verein ruhig gearbeitet wird und der Trainer nicht gleich wieder verabschiedet wird, wenn es mal ein paar Spiele lang nicht so gut läuft – oder haben Sie über so etwas gar nicht nachgedacht?

Ich kenne den Fußball ja schon eine ganze Weile und bin in dieser Hinsicht sehr realistisch. Ich war sehr lange in Babelsberg und habe mich dort als Spieler und später als Funktionär sehr wohlgefühlt. Aber irgendwann war es für mich an der Zeit zu sagen: Der Verein braucht etwas Neues, und ich muss mich davon lösen. Ich habe dann ein Jahr Pause gemacht. Vieles, was heute im Fußball und unserer Gesellschaft passiert, gefällt mir nicht. Und ich habe mich gefragt, warum ich mir das antue. Als dann im März Corona kam, ist es mir noch mehr aufgestoßen, wie sich der eine oder andere im Hinblick auf gegenseitige Solidarität benommen hat. Ich fand, dass sich da viele sehr blamiert haben.

Und dann kam die Sache mit Lok. Ich habe mir das angehört und gemerkt, dass die das wirklich ernst meinen und dass alles passt. Deswegen habe ich gesagt: Mach’ ich! Und dann schauen wir uns an, wie es im Laufe des Jahres aussieht. Deshalb war es mir auch wichtig, dass der Vertrag nur über ein Jahr geht. Denn die Leute kannten mich nicht persönlich und ich kannte sie nicht – und für mich ist es wichtig, dass man etwas abschließt, und dann sagt: Ich mache weiter oder nicht. Hat man aber einen Zwei- oder Drei-Jahresvertrag und merkt, es passt nicht, fangen die Streitereien an und wir schauen uns nie wieder in die Augen. Das mag ich nicht.

Ich habe meine eigene Einstellung zum Fußball und zum Leben, und ich bringe mein Leben auch in den Fußball ein. Viele Sachen in der Regionalliga sind schon etwas scheinheilig, das gefällt mir nicht. Und wenn meine Mannschaft gegen Altglienicke schlecht gespielt hat, dann haben wir eben Fehler gemacht. Aber ich vergesse auch nicht, was wir vorher gemacht haben. Da hieß es nach dem Cottbus-Spiel: Super und toll! Ich vergesse auch die Entwicklung nicht und wie es im Sommer war. Ich bin heilfroh darüber, dass das auch die Verantwortlichen hier im Verein nicht vergessen haben, denn sonst, glaube ich, hätten wir ein Problem. Ich habe meinen Spielern gesagt: Jungs, ich mache das, weil ich Fußball liebe – und weil ich der Meinung bin, ich kann vielleicht helfen und etwas bewegen.

Almedin Civa absolvierte als Fußballer 71 Spiele in der 2. Bundesliga. Foto: Jan Kaefer
Almedin Civa absolvierte als Fußballer 71 Spiele in der 2. Bundesliga. Foto: Jan Kaefer

Die erfahreneren Spieler wie Djamal Ziane oder Paul Schinke sagen: „Unter Civa wird anders trainiert. Es ist faszinierend, da machen wir Spielformen, die wir vorher noch nie gemacht hatten“. Können Sie sich vorstellen, was die damit meinen? Inwieweit unterscheiden Sie sich von anderen Trainern?

Man muss erst mal jeden Trainer respektieren, wie er spielt, was er spielt, wie er trainiert. Denn das ist des Trainers Aufgabe. Mich haben sie geholt für einen Neuaufbau mit kleinerem Etat, mit jüngeren Spielern, gepaart mit den älteren Spielern. Sie kennen meine Spielphilosophie. Und ich versuche mich weiterzuentwickeln, das ist für mich sehr wichtig. Aber die Art, wie wir spielen, wird bei mir beibehalten. Ich werde nicht plötzlich sagen, wir spielen jetzt etwas ganz anderes, denn jetzt ist Panik. Für so etwas darf mich der Verein nicht verpflichten. Das ist Fakt, dann müssen sie einen anderen holen.

Das, was ich spielen lassen will, muss ich auch trainieren. Das heißt beispielsweise viel mit dem Ball und so weiter. Aber du musst auch abwechslungsreich trainieren. Darüber mache ich mir viele Gedanken. Passspiel zum Beispiel, ist immer Passspiel. Aber du hast dazu tausende verschiedene Übungen. Die Techniken sind immer dieselben, aber die Formen nicht. Für mich ist es sehr wichtig, dass die Spieler in jeder Einheit eine gewisse Stresssituation haben. Im Ausdauerbereich lasse ich die Spieler nicht 14 Kilometer laufen, es reichen auch zehn – und ich trainiere meine Spielweise, also schnelle, kurze Bewegungen. Durch die kurze Vorbereitungszeit von drei Wochen fehlt für meine Spielweise aber noch einiges. Das ist keine Ausrede. Es fehlt Schnellkraft, es fehlt Ausdauer. Ich konnte ganz viele Sachen nicht machen.

Meine Spieler wissen: Der erste Morgen nach einem freien Tag ist immer Athletiktraining. Aber sie wissen nicht, was ich mache. Das kann mit Ball sein oder ohne Ball, mit Koordination, ohne Koordination. Diese Abwechslung ist für mich wichtig. Konstant ist bei mir nur das Abschlusstraining, das ist ein bisschen wie ein Ritual.

Ist Fußball-Lehrer für Sie noch ein Ziel oder reicht Ihnen die A-Lizenz?

Ich will mich immer weiterentwickeln, aber ich bin auch sehr realistisch. Es gab vor Jahren eine Phase, da wollte ich den Fußball-Lehrer machen. Ich war da aber Sportlicher Leiter und hatte nicht die Zeit dafür, ein Jahr weg zu sein. Danach war ich Trainer – da war erst recht keine Zeit. Ich habe es nicht über das Herz gebracht, den Verein im Stich zu lassen, um den Fußball-Lehrer zu machen. Mittlerweile bin ich 48 – und was nützt mir der Fußball-Lehrer? Ich bin überzeugt, dass ich in diesem Jahr eine Menge lernen würde, aber es gibt inzwischen 700 Fußball-Lehrer in Deutschland. Wer davon kriegt denn einen Job? Es ist für mich nicht das Ziel.

Ich mache das bei Lok, weil hier sehr nette Menschen sind, denen der Verein sehr am Herzen liegt. Ich versuche den Menschen, die mich verpflichtet haben, zu helfen, diese schwere Zeit nach dem verpassten Aufstieg – mit gekürztem Etat und neuer Mannschaft – zu überleben.

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