"Bleiben Sie uns treu", sagte Oberbürgermeister Burkhard Jung am Dienstag, 2. Februar, in seiner nonchalanten Art Richtung Berthold Goerdeler. Der ist Vorsitzender des Kuratoriums der Carl und Anneliese Goerdeler Stiftung und Enkel des einstigen Leipziger OBM Carl Friedrich Goerdeler. Und hätte gleich zurückrufen können: "Dann lesen Sie aber auch!" Denn um Lesestoff geht es jedes Jahr beim Goerdeler-Preis.

Eigentlich sogar um gesuchten Lesestoff. Denn als sich die Goerdeler-Familie und die Stadt Leipzig vor 14 Jahren auf diesen besonderen Preis verständigten, stand eindeutig ein Thema im Mittelpunkt, über das nicht einmal Kommunalpolitiker allzu oft nachdenken: Kommunalpolitik.

Zu Carl Friedrich Goerdeler passt das Ganze natürlich auch, weil der Mann – schon bevor er 1930 Oberbürgermeister in Leipzig wurde – als einer der besten Verwaltungsfachleute der Weimarer Republik bekannt war. Mehrmals war er als Reichskanzler im Gespräch, aber die Konservativen hatten wohl ganz ähnliche Probleme wie heute die Konservativen in Amerika: Die nüchternen, aber kompetenten Kandidaten haben kaum Chancen gegen die Marktschreier. Also wurde Goerdeler OBM in Leipzig, was er bis zu dem Tag blieb, als die Leipziger Nazis ihm zeigten, dass sie auch vor seinen kulturellen Werten keinen Respekt haben und in seiner Abwesenheit das Mendelssohn-Denkmal vernichteten. Goerdeler trat zurück, wurde Teil des Netzwerkes um den 20. Juli 1944, war wieder als Reichskanzler im Gespräch und wurde im Februar 1945 von den Nazis in Berlin-Plötzensee ermordet.

Heute erinnert das Goerdeler-Denkmal an den markanten Leipziger Oberbürgermeister. Und der Goerdeler-Preis der Carl und Anneliese Goerdeler-Stiftung wird verliehen. Immer am 2. Februar, dem Tag, an dem Goerdeler ermordet wurde. Und das Besondere am 2. Februar 2016 im Ratsplenarsaal des Neuen Rathauses war: Diesmal gab es zwei Preise. Die Stiftung will nicht mehr nur gute Arbeiten zur Kommunal-Wissenschaft auszeichnen (von denen niemand weiß, ob die in den Rathäusern der Republik überhaupt gelesen werden), sondern auch echtes, vorbildliches Engagement in der Kommunalpolitik.

Für Letzteres gab es diesmal zum ersten Mal den Preis für Kommunalpolitik und Völkerverständigung der Carl und Anneliese Goerdeler Stiftung 2016. Und der ging an das Programm “Deutsch-griechischer kommunaler Wissenstransfer”. Nie gehört? Dann passt das wohl in die Zeit. Ganz ähnlich wie Burkhard Jungs kurze Beschreibung der deutschen Wahrnehmung Griechenlands: “2014 war Griechenland in aller Munde. Alle redeten über Griechenland. 2015 war das Thema wie weggeblasen.”

Es wurde von der Flüchtlingsdebatte überlagert und erst in den letzten Tagen bekommen auch die sonst so vorlauten Kommentatoren der Zeitungen mit, dass tatsächlich die ganze Zeit wieder Griechenland im Fokus steht und für die EU die Kastanien aus dem Feuer holen soll. “EU-Außengrenze sichern” heißt der bürokratische Unfug, den das auf Diät gesetzte Griechenland schlicht nicht absichern kann: Geld fehlt, Material fehlt, Leute fehlen.

Doch anstatt Griechenland erst einmal wieder finanziell auf die Beine zu helfen, prasseln wieder lauter nackensteife Forderungen auf das Land ein. Selten war die Kluft zwischen dem Empfinden der meisten Europäer und dem Furor der politisch-konservativen Eliten so groß.

Schon 2010 war das spürbar, erzählte am Dienstag Hans-Joachim Fuchtel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Beauftragter der Bundeskanzlerin für die Deutsch-Griechische Versammlung. Während sich die griechische Haushaltskrise immer mehr verschärfte, entstanden die ersten Initiativen insbesondere auf kommunaler Ebene, um der zunehmend schrillen Diskussion etwas entgegenzusetzen: nämlich echte Kontakte, Solidarität und Zusammenarbeit.

Richtig los ging es 2012, da wurde das Transfer-Projekt in aller Geräuschlosigkeit aus der Taufe gehoben. Getragen wird es von der Deutsch-Griechischen Versammlung, dem Gemeindetag Baden-Württemberg, dem Deutschen Städte- und Gemeindebund sowie dem griechischen Städte- und Gemeindebund KEDE.

Auf dessen Seite nehmen mittlerweile 325 griechische Gemeinden teil. Mit den häufig wechselnden Regierungen in Griechenland war es nicht immer ganz einfach, erinnert sich Roger Kehle, Präsident des Gemeindetages Baden-Württemberg und Vizepräsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Aber für ihn ging das Projekt gleich mit einem Erfolg los: Als er in Baden-Württemberg Bürgermeister suchte, die freiwillig mitmachen wollten bei diesem Projekt, “das schrecklich viel Arbeit macht”, aber ansonsten nicht honoriert wird (zumindest nicht mit Geld), meldeten sich binnen einer Woche 100 Freiwillige, die bereit waren, mit griechischen Kommunen in direkten Erfahrungs- und Praxisaustausch zu treten.

Das, so erklärte Christodoulos Mamsakos am Dienstag, sei genau das, was Europa stark mache: gelebte Solidarität.

Er ist Bürgermeister der Stadt Drama und Vertreter des griechischen Städte-und Gemeindebundes KEDE. Und er konnte von den ersten Beispielen erzählen, wie solche Projekte der inter-kommunalen Kommunikation schon Früchte tragen. In gewisser Weise steckt der ganze Wissenstransfer gerade in seiner entscheidenden Phase. Die vergangenen vier Jahre waren vor allem ein Aufbau von Beziehungen, Herstellung von Vertrauen (Mamsakos) und das Formulieren echter Praxisbeispiele, wie man sich gegenseitig dabei helfen kann, aus der latenten Haushaltsklemme und den Problemen der kommunalen Verwaltung herauszukommen. Wobei sicher die meiste Hilfe Richtung Griechenland fließt. Aber es sei trotzdem ein Projekt auf Gegenseitigkeit und Augenhöhe, betonte Roger Kehle.

Und europaweit einzigartig, wie Hans-Joachim Fuchtel erklärte. Auch in der Dimension Geld: Die Bundeskanzlerin steht zwar hinter dem Projekt und hat Fuchtel einfach mal zum Beauftragten gemacht. Aber auch er bekommt das nicht extra vergütet.

Und trotzdem sind Hunderte Bürgermeister und Verwaltungsmitarbeiter bei der Stange geblieben. Auch Burkhard Jung wurde gelobt, denn Leipzig unterhält ähnlich intensive Kontakte zur griechischen Partnerstadt Thessaloniki. 2016 aber sei trotzdem ein entscheidendes Jahr, so Kehle: “In diesem Jahr müssen wir viele der angeschobenen Projekte zur Umsetzung bringen.”

Aber bei was können Kommunen aus zwei europäischen Ländern sich eigentlich gegenseitig helfen? – Vor allem auf den Gebieten Abfallwirtschaft, regenerative Energiequellen, Elektromobilität, Straßenbeleuchtung, Jugendaustausch, Modernisierung des Tourismus, Mobilisierung von Investitionen, Feuerwehr, Verwaltungsstruktur und bürgerschaftliches Engagement ist das Interesse an den Erfahrungen vor allem der deutschen Experten groß. Und auf dieser Arbeitsebene von Kommune zu Kommune werde noch etwas anderes erlebbar, so Christodoulos Mamsakos: was nämlich wirklich die Stärke Europas ausmacht, seine Fähigkeit zu direkter Solidarität. Und auf dieser Ebene werde auch für die Bürger politische Teilhabe erlebbar.

Denn Politik, so Burkhard Jung, werde für Bürger nun einmal zuallererst in ihrer Kommune erlebbar. Und das gelte für Griechenland genauso wie für deutsche Verhältnisse: “Nur wenn es der Polis gut geht, kann ein Gemeinwesen gedeihen.”

Und irgendwie gilt das dann auch für den anderen, den nun schon zum 15. Mal verliehenen kommunalwissenschaftlichen Preis.

Mit dem wurde diesmal Andrea Walter ausgezeichnet. Sie überzeugte die Jury mit ihrer Dissertation „Administrative Governance: Chancen und Herausforderungen für Kommunalverwaltung in lokaler Politikgestaltung mit Zivilgesellschaft“.

“Der Zusatz ist wichtig”, mahnte Berthold Goerdeler. Und in der Reihe der mittlerweile verliehenen Goerdeler-Preise sei der Zusatz auch recht neu. Denn bislang haben sich die Preisträger meist nur mit den Kümmernissen der Verwaltung beschäftigt, aber nicht mit dem Bürger.

In ihrer Arbeit untersuchte Andrea Walter “am Beispiel einer Fallkommune Chancen und Herausforderungen für Kommunalverwaltung in lokaler Politikgestaltung mit Vereinen und Verbänden. Auf der Basis des Rollenverständnisses der Verwaltung sowie der Bedeutung von Interaktionsregeln und dem lokalen Kontext entwickelte sie u. a. ein Modell administrativer Governance”, formuliert es Leipzigs Pressestelle. Die Fallkommune ist Münster, wo Andrea Walter an der Graduate School of Politics der WWU Münster promovierte. Sie ist seit 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutsche und Europäische Sozialpolitik am Institut für Politikwissenschaft der WWU. Seit 2015 koordiniert sie dort ein BMFSFJ-gefördertes Forschungsprojekt, zuvor war sie als Projektmitarbeiterin im EU-Projekt
WILCO zu sozialen Innovationen auf lokaler Ebene sowie im EU-Projekt EFESEIIS zur Situation von Sozialunternehmerinnen in Europa tätig.

Und über die Sache mit der recht komplizierten Kommunikation der Kommunen mit Vereinen, Verbänden und Initiativen stolperte sie bei ihrer sechsjährigen Arbeit für die Lokalpresse. Da stößt man zwangsläufig über die Frage, warum sich Verwaltungen so schwer tun, mit der Zivilgesellschaft auf Augenhöhe zu kommunizieren und zum Teil höchst kompetente Verbände nicht mit einzubeziehen in die politische Willensbildung. Münster sei vielleicht nicht mit Leipzig vergleichbar, so Andrea Walter.

Natürlich ist Münster mit Leipzig vergleichbar. Verwaltungen neigen überall dazu, das Engagement von Bürgern eher als Störfaktor für ihre Arbeit zu betrachen. Und es wird ein langer Lernprozess, bis sie die Zivilgesellschaft tatsächlich in transparenten Prozessen direkt einbinden in alle Projekte, die die Bürger direkt betreffen. Berthold Goerdeler erinnerte beiläufig daran, dass das alles auch für Leipzigs Behördenchef nicht ganz neu ist. Immerhin steht der Name der Stadt ja auf der 2007 unterzeichneten “Leipzig Charta”, in der auch wichtige Ideen für die moderne europäische Bürgerstadt formuliert sind.

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