Jürgen Roths Bücher sind immer Zwischenberichte aus einer großen Feldforschung. Die hat er in den 1970er Jahren begonnen. Seine Leitthemen sind auf den ersten Blick Korruption und Organisierte Kriminalität. Doch Buch für Buch taucht ein anderes Schema dahinter auf, werden die Verstrickungen deutlicher, die unsere Gesellschaft aushöhlen und zerstören. Auf einmal steht das Wort Elite ganz im Mittelpunkt. Und Sachsen steht auf einmal mitten im Fokus dieser neuen Untersuchung zum Spinnennetz der Macht. Das ist kein Zufall.

Aber es ist auch nicht die Ausnahme. Es ist nur typisch für das, was in der Bundesrepublik geschieht. Man kann sogar so ziemlich genau benennen, seit wann: seit dem 9. September 1982, als das so genannte Lambsdorff-Papier veröffentlicht wurde, das nicht nur das Ende der sozialliberalen Koalition im Bund einläutete, sondern auch den kompletten Paradigmenwechsel in der FDP – von einer freiheitlich-demokratischen Partei zu einer konsequent neoliberalen Partei, deren reines marktwirtschaftliches Denken seitdem jede Bundesregierung vor sich hergetrieben hat. Was verblüfft auf den ersten Blick. Auf den zweiten nicht mehr, wenn man sich mit den Netzwerken hinter den scheinbar politisch rot, grün, gelb, schwarz bemalten Kulissen beschäftigt, mit den Stiftungen, Think Tanks, Lehrstühlen, Clubs und Verknüpfungen der maßgeblichen Politiker mit den diversen Konzernen des Landes.

Im Bundestag sind es Dauerthemen: Nebenverdienste, Parteispenden, Lobbyismus, Politikerkarrieren neben und nach dem politischen Amt. Und damit natürlich die Frage: Wie nehmen Unternehmen und ihre Interessenvertretungen Einfluss auf Politik? Wie verändern sie Gesetze und sogar Verfassungen? Und mit welchem Ziel? Wo sorgen sie dafür, dass Kontrollen und Normen abgesenkt werden? Wo greifen sie direkt auf den gesellschaftlichen Reichtum zu? Und welche Folgen hat das?

Eine der Folgen, die Jürgen Roth am meisten Angst macht, ist der seit Jahren anhaltenden Abbau all der Schutzmechanismen, die den Bürger davor bewahren sollten, ausgeplündert und rechtlos zu werden. Es ist nicht nur Sachsen, wo den Bürgern erzählt wird, ein obskurer Sparkurs zwinge zum Personalabbau bei den Landesbediensteten. Wovon nicht nur Lehrer und Hochschuldozenten betroffen sind, sondern auch Richter und Polizisten. Das sind Instanzen, die stören – nicht ohne Grund ist es der “Sachsensumpf” alias die “Aktenaffäre”, der im Freistaat seit dem 15. Mai 2007 vor sich hinmüffelt. Insbesondere der Komplex “Abseits III”, dessen Spuren ins Leipziger Immobiliengeschäft führen und der irgendwie auch mit den Vorgängen um das Kinderbordell “Jasmin” und dem Fallkomplex “Herrenlose Häuser” zu tun hat. Und der augenscheinlich – trotz Albrecht Buttolos Brandrede im Landtag, nicht wirklich aufgeklärt werden soll. Zu viele ehrwürdige Herren aus Justiz und Politik scheinen darin verstrickt. Der wichtigste Ermittler aus Leipzig ist seit 2007, seit die Affäre durch die schon zum Schreddern vorbereiteten Akten aus dem Landesamt für Verfassungsschutz wieder öffentlich wurde, wieder vom Dienst suspendiert und zum Schweigen verdonnert.Rein rechtlich war richtig, was der damalige sächsische Datenschutzbeauftragte forderte – die Akten hatten im Landesamt für Verfassungsschutz nichts mehr zu suchen, seit der Landtag in seiner sorgenden Größe dem Verfassungsschutz die Beobachtung der Organisierten Kriminalität in Sachsen untersagte – per Gesetz. Es gab einige Untersuchungen zu dem Aktenmaterial. Die Landesregierung fand es gut, jene Untersuchung zu zitieren, die hier von gesammelten Windbeuteleien fabulierte. Aber ein etwas ernsthafteres Gutachten kam zu dem Schluss, dass das Material genug Indizien für eine fundierte Untersuchung bot.

Die aber unterließ man dann, entfachte lieber eine regelrechte Kampagne gegen die verantwortliche Abteilungsleiterin im LfA und erfand gleich noch die so genannte “Teebeutelthese”, die bedeutete, die Aussagen des vom Dienst suspendierten Leipziger Kriminalkommissars W. allein wären mehrfach in den Akten als verschiedene Quellen aufgenommen worden. Aber richtig ist wohl, dass der Verfassungsschutz auf mindestens sechs bis sieben originäre Quellen zurückgreifen konnte.

Aber der “Sachsensumpf” ist natürlich nur ein Thema aus der ganzen leidigen Geschichte der sächsischen Politik, in der die Grenzen zwischen Politik, Exekutive und Justiz immer wieder verschwimmen – es wird politisch auf Gerichte und Staatsanwälte Einfluss genommen, die Polizei wird instrumentalisiert, um gleich das ganze Spektrum politischer Opposition zu diskreditieren – wie im Februar 2011, als die Dresdner Polizei massiv gegen die Gegendemonstranten vorging, die den bis dahin üblichen Neonazi-Aufmarsch blockieren wollten. Die allumfassende Funkzellenabfrage war genauso wenig verfassungskonform wie die Ermittlungsverfahren gegen hunderte friedliche Demonstrationsteilnehmer. Der Jenaer Pfarrer König ist ja mittlerweile zur Symbolfigur für diesen massiven juristischen Vorgang gegen friedliche Demonstranten in Dresden geworden.

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Was Roth in Sachsen findet – diese enge Verquickung von politischen Interessen mit dem Zugriff auf Justiz und Polizei, die in einem Rechtsstaat eigentlich unabhängig von politischen Weisungen arbeiten sollten, fand er so auch in anderen Bundesländern. Womöglich genau jenen, die der sächsische Innenminister immer meint, wenn er von vergleichbaren westlichen Flächenländern spricht. Denn auch dort werden seit Jahren die Polizeistrukturen ausgedünnt, werden zu wenige Polizisten eingestellt, wird vor allem an der Ausstattung der Kriminalpolizei gespart. Und Justiz und Polizeiapparat werden politisch auf Linie getrimmt.

Und Roth lässt anklingen, dass das einen guten Grund hat, denn es wären die Kriminalpolizisten, die eigentlich ermitteln müssten gegen die dubiosen Netzwerke in der Bundesrepublik, gegen Geldwäsche, Bandenkriminalität, Bestechung, Korruption und Amtsmissbrauch. In vielen Fällen in enger Zusammenarbeit mit denen, die beim Geld eigentlich die Fachleute wären: den Finanzämtern. Doch auch da wurde der Rotstift angesetzt.

Und wo zu ernsthaft nachgefragt wird, da wird dafür gesorgt, dass auf einmal auch die Medienfreiheit vor Gericht landet. Der Prozess gegen die beiden Journalisten Datt und Ginzel ist ja noch frisch in Erinnerung. Und es waren eben nicht die beiden Leipziger Kriminalpolizisten, die sich durch die deutliche öffentliche Fragestellung der Journalisten in ihrer Ehre verletzt fühlten – es war der damalige Leipziger Polizeipräsident, der die Anzeige erstattete.

Aber da Roth eben nicht im sächsischen Tümpel bleibt, sondern auch mit Ermittlern, Juristen, Politikern in den anderen Bundesländern spricht, öffnet er auch den Blick auf die Strukturen in den anderen Bundesländern. Die “Sächsische Demokratie” ist ja kein Eigengewächs, auch wenn sie so aussieht – mitsamt der selbstherrlichen Konstruktion der Sächsischen Landesbank mit ihren Milliarden-Folgekosten für die Sachsen. Die Art und Weise, derart selbstherrlich mit dem Staat, der Justiz, dem Geld der Bürger umzugehen, wurde importiert aus jenen Bundesländern, wo es die Netzwerke dieser Art schon vor 1990 gab. Und wo bis heute weiter gemauschelt wird. Hinter einer mittlerweile fast fugenlosen Blendwand aus Phrasen, die den Wandel im Denken der politischen Elite kaschieren.Es war zuvor auch in Deutschland Usus, die Gewaltenteilung als ein kostbares Gut zu achten und die Politik als die Kunst des Ausgleichs. Denn gelernt hatte man ja aus der Geschichte der Weimarer Republik, dass soziale Schieflagen und ein von den Extremen dominierter politischer Prozess in die Katastrophe führen. Doch mit der von Milton Friedman begründeten Chicagoer Schule bekam das, was einige Leute heute “freie Marktwirtschaft” nennen, einen mit Thesen gespickten Inhalt mit Handlungsrezepten, mit denen seit ziemlich genau 1973 ein Land um das andere den wilden neoliberalen Handlungsanweisungen unterworfen wird. Die Hauptstichpunkte dieser Theorie: Deregulierung und Privatisierung.

Dass es dabei eher um das Schwächen der Staaten geht und damit auch um neue Freiräume, Gesetze und Normen zu umgehen, auszuhöhlen oder gleich ganz abzuschaffen, ist genau die unsichtbare Kehrseite dessen, was mittlerweile auch die Europäer als Ausplünderung ihrer Gesellschaft erleben. Es sind die Handlungsanweisungen der Chicagoer Schule, mit denen Länder wie Griechenland, Spanien, Italien, Zypern … in die Zahlungs- und Handlungsunfähigkeit getrieben werden. Und dass genau diese Entmachtung der Staaten, von Polizei, Justiz, Finanzbehörden geradezu eine Einladung für die großen Clans des Organisierten Verbrechens ist, das wissen die Ermittler und die wirklich engagierten Anwälte und Richter im Land. Sie bekommen damit immer wieder zu tun. Doch in der Regel wird ihnen dann, wenn sie diesen Strukturen zu Leibe rücken wollen, das Verfahren entzogen, werden sie gleich mal versetzt oder gleich öffentlich diskreditiert.

Wenn aber die Phraseologie der Chicagoer Schule erst einmal das Denken bestimmt, dann braucht man sich über die Windschnittigkeit der meisten heutigen Politiker nicht mehr zu wundern. Wer aus dem Raster fällt, wird selbst in der eigenen Herde zum Außenseiter.

Roths Buch führt den Leser auch nach Hessen, Baden-Württemberg und ins benachbarte Sachsen-Anhalt. Er erzählt, wie die enge Verquickung von Banken und Politik unbescholtene Bürger im Land die Existenz kostete. Er erzählt den Fall Mollath, der gerade wieder aktuell wird, und in dem es ursprünglich um den Versuch ging, die Geldschiebereien einer Bank anzuzeigen. Doch nicht die Bank landete vor dem Kadi (obwohl mittlerweile klar ist, wie viele deutsche Steuersparer ihr Geld schwarz über die Grenze in die Schweiz gebracht haben), sondern der Anzeigeerstatter wurde in die Psychiatrie eingewiesen.

Roth erzählt auch beispielhaft von einem jener Strukturvertriebe, mit denen sich ein paar skrupellose Leute in Deutschland goldene Nasen verdient haben – während jene, die gegen die dubiosen Methoden protestierten, in den Ruin getrieben wurden.

Man bekommt beim Lesen des Buches so ein Gefühl dafür, was passiert, wenn das Funktionieren eines ganzen Staates “marktkonform” gestaltet wird – wenn alles dafür getan wird, die Geldelite des Landes nicht nur zu schonen, sondern ihr den ungehinderten Zugriff auf den Wohlstand der Nation zu ermöglichen – und gleichzeitig alles zu verhindern, was die teils schwerkriminellen Zugriffe verhindern könnte. Dass an allen Enden “gespart werden muss”, weil man sich so viel Staat oder gar Sozialstaat gar nicht leisten könne (hört man doch von einigen Politikern fast jeden Tag), hat System. Es ist ein dummes System. Aber wer sagt denn, dass Eliten klug sein müssen?

Jürgen Roth “Spinnennetz der Macht”, Econ Verlag 2013, 19,99 Euro

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