Das hier ist mal ein Buch, das wir gar nicht bestellt haben. Das habe ich geschenkt bekommen. Wahrscheinlich, weil ich hier schon etliche Titel besprochen habe, die sich mit dem Parteidilemma der Republik beschäftigen. Aber es gibt auch immer wieder kleine Überraschungen. Etwa wenn einer wie Albrecht von Lucke daran erinnert, dass Demokratie ihre Logik hat.

Und dass wir vergesslich sind und uns müde reden lassen von einem Geschwätz, das nicht Hand und Fuß hat, aber Emotionen und Vorurteile schürt. Bis alle eingelullt sind und tatsächlich glauben, dass das, was man hat, alternativlos ist.

Ăśbrigens ein Wort, mit dem auch eine sonst pfiffige Frau wie Angela Merkel schon mal hat durchblicken lassen, dass sie das Wesen der Demokratie nicht wirklich verstanden hat. Das Buch hat es wirklich in sich. Auch mit dem, was der Politikwissenschaftler und Publizist Albrecht von Lucke nicht sagt. Obwohl er eine Menge sagt. Denn ihn treibt die Sorge um, dass unsere Demokratie vor die Hunde geht. Viele Menetekel lodern seit Jahren durch die Medien: etwa die zunehmende WahlmĂĽdigkeit, hinter der sich eben (anders als von manchem Kommentator behauptet) keine Politikverdrossenheit verbirgt, sondern Parteienverdrossenheit.

Manchmal muss man den WahlbĂĽrger einfach so verstehen, wie er ist. Wenn er das zunehmende GefĂĽhl hat, “dass Wahlen ja doch nichts ändern”, wenn es egal ist, wer die Wahlen gewinnt, dann läuft was falsch in unserer Demokratie. Und zwar in ihrem Kern. Dann steht auf den Wahlzetteln kein Angebot mehr, das irgendeine Ă„nderung verspricht. Und wenn sich Dinge und schwer ertragbare Zustände nicht mehr ändern, dann setzt diese lähmende “Ist doch eh egal”-Stimmung ein, die zwar der letzten verbliebenen bĂĽrgerlichen Volkspartei immer wieder den Sieg bei Bundeswahlen verschafft, aber Leerräume entstehen lässt, in denen die Radikalen und Populisten auf einmal erfolgreich zum Stimmenfang blasen. Auf einmal sind die uralten Rezepte der Nationalisten und Chauvinisten wieder marktfähig. Sie profitieren von der Stimmung, der manifest gewordenen Alternativlosigkeit, die in diesem Fall Angela Merkel heiĂźt.

Aber warum ist das so? Liegt das an Angela Merkel, die zu ihrer Dauerkanzlerschaft gekommen ist wie die Jungfrau zum Kinde? War da irgendein Projekt, mit dem sie das ganze Land begeistert hat?

Von Lucke erinnert daran, dass Demokratie nur dann funktioniert, wenn Menschen zwischen unterscheidbaren Angeboten wählen können. Auch das ist ja ein Thema, ĂĽber das diverse Leitartikler der letzten Jahre allerlei wattiges Zeug geschrieben haben. Etwa ĂĽber eine CDU, die sich “sozialdemokratisiert” hätte. Nur kommt man beim heftigsten Nachdenken nicht darauf, wo das gewesen sein soll.

Die schlichte Wahrheit ist: Leute, die so etwas schreiben, haben keine Ahnung und kein Gedächtnis.

Denn dass die großen Parteien heute für viele Wähler fast ununterscheidbar sind, hat eine andere Ursache. Und von Lucke benennt sie mit zwei Namen, die bis zum Jahr 2005 alle Ohren zum Klingeln gebracht hätten. Denn damals war alles noch frisch. Die Herren heißen Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, die beiden Alpha-Männchen der SPD, die es 1998 gemeinsam geschafft haben, die 16 Jahre dauernde Kohl-Ära zu beenden und mit den Grünen zusammen ein Rot-Grünes-Regierungsprojekt zu starten. Nach 16 Jahren Kohl war die Republik reif für einen sozial-ökonomischen Umbau.

Gerhard Schröder am 24. August 2004 beim Wahlforum der SPD in Leipzig. Foto: Ralf Julke
Gerhard Schröder am 24. August 2004 beim Wahlforum der SPD in Leipzig. Foto: Ralf Julke

Doch was ist passiert? Die beiden Alphamännchen gerieten in einen heftigen Kampf hinter den Kulissen, den insbesondere Gerhard Schröder und seine wirtschaftsgetreuen Freunde Clement, Hombach und wie sie alle hieĂźen, nicht in offener Diskussion auslebten, sondern in heftigem Mobbing – hinterrĂĽcks, aber auch medial. Oskar Lafontaine, damals Finanzminister, hatte nicht nur in Deutschland einige Bosse erschreckt, als er öffentlich ĂĽber die Regulierung des Bankensektors sprach. Das Kesseltreiben war heftig. Und trotzdem waren auch die treuesten Wähler von Rot-GrĂĽn ĂĽberrascht, als Lafontaine 1999 ĂĽber Nacht von allen Ă„mtern zurĂĽcktrat, nicht nur den Ministerposten, auch den Parteivorsitz und sein Bundestagsmandat niederlegte und in der Versenkung verschwand.

Was das tatsächlich bedeutete, ahnte damals kaum jemand. Doch in der Rückschau wird es zur ersten wichtigen Weichenstellung, die die Republik in eine Situation manövrierte, in der es praktisch zu einer Dauerregentschaft der CDU keine Alternative mehr gibt.

Und dazu trug die zweite groĂźe Weichenstellung bei, die dafĂĽr sorgte, dass die SPD genau dahin rĂĽckte, wo Gerhard Schröder, der “Genosse der Bosse”, sie haben wollte: weiter in die (bĂĽrgerliche) Mitte. Nicht die CDU hat ihre Position verändert, sondern die SPD ist weiter nach rechts gerĂĽckt und steht den etwas irritierten Christdemokraten seitdem praktisch auf den FĂĽĂźen.

Dass Schröder da hin wollte, hatte er schon in seiner Zeit als wirtschaftsfreundlicher Ministerpräsident Niedersachsens deutlich gemacht. Er redete von einer “Neuen Mitte”, was immer das aus seiner Sicht heiĂźen wollte. Praktisch bedeutete es von Anfang an eine extrem marktkonforme Politik mit Steuersenkungen fĂĽr die ganz Reichen (es war die Schröder-Regierung, die den Spitzensteuersatz gesenkt hat, nicht die Kohl-Regierung), wattigen Eiertänzen zu Vermögens- und Erbschaftssteuer und einem wilden Deregulierungsprogramm fĂĽr den Finanzmarkt. Das war alles Schröder. Und mit seiner Agenda 2010 setze er dann noch eins drauf und verriet endlich ganz und gar das, was Albrecht von Lucke als Wesenskern und größte Gemeinsamkeit aller Linken ausgemacht hat: die auch bei den Sozialdemokraten zur Kernprogrammatik gehörende Solidarität.

Ein einfaches Wort, das aber die einzige wirklich belastbare Begründung dafür sein kann, dass Menschen linke Parteien wählen.

Oskar Lafontaine bein Montagsprotest am 30. August 2004 in Leipzig. Foto: Ralf Julke
Oskar Lafontaine beim Montagsprotest am 30. August 2004 in Leipzig. Foto: Ralf Julke

Was ĂĽbrigens auch sämtliche Wahlen seit 2005 gezeigt haben: Wer wirtschaftsfreundliche Parteien wählen möchte, wählt nun einmal das Original und nicht eine im Pelz gewaschene SPD. Die SPD stĂĽrzte von ihren vorher typischen 35-Prozent-Wahlergebnissen auf 25 Prozent ab und kam seitdem nicht wieder hoch. Was sich 1999 mit dem Abgang von Oskar Lafontaine erst angedeutet hatte, wurde 2004 mit der EinfĂĽhrung von “Hartz IV” zum Fanal fĂĽr die SPD: Sie verlor fast ihren kompletten linken FlĂĽgel. Die enttäuschten Genossen, die bis dahin fĂĽr eine markante solidarische Position in der SPD gestanden hatten, traten reihenweise aus. Viele wechselten zur neu gegrĂĽndeten (Wahl-)Alternative soziale Gerechtigkeit (ASG bzw. WASG). Und dort tauchte dann 2004 auch Oskar Lafontaine wieder auf.

Da muss man schon ins Bilderarchiv gucken, um zu sehen, dass die damaligen Montagsproteste (die Veranstalter vermieden tunlichst, sich als wiederauferstandene Montagsdemo zu bezeichnen) deutlich mehr Zulauf hatten als all der treudeutsche Quatsch von Legida & Co.

Aber es hat miteinander zu tun. NatĂĽrlich. Dazu mehr in Teil 2 auf L-IZ.de.

Albrecht von Lucke Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken, Droemer Verlag, MĂĽnchen 2015, 18 Euro.

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