2011 sorgte der Historiker Thomas Weber für den ersten Paukenschlag, als er mit „Hitlers erster Krieg“ erstmals ausführlich beleuchtete, was Adolf Hitler im Ersten Weltkrieg eigentlich so trieb. Und er entsorgte damit auch gleich mal einen ganzen Stapel von Legenden, die bis heute durch die Hitler-Literatur geistern. Jetzt hat es Weber auch gleich noch für die Jahre getan, in denen aus Hitler tatsächlich erst ein Nazi wurde.

Denn bis 1919 war er gar keiner. Was natürlich verblüfft: Ausgerechnet Adolf Hitler kein Nazi? Auch 1919 nicht? Auch 1919 nicht. Thomas Weber hat sich in seiner Forschung genau jene Jahre in Hitlers Biografie vorgenommen, über die die meisten Hitler-Biografen nur kurz hinweghuschen, weil sie sich fast alle auf Aufstieg, Höhenflug und Untergang konzentrieren. Womit sie Hitler oft genug zum unerklärten Phänomen machen, weil sie auch oft den Legenden in Hitlers eigener Lebensdarstellung auf den Leim gehen.

Und dazu gehören auch seine Legenden über die Zeit zwischen dem Kriegsende und dem Ludendorff-Putsch 1923. Es sind die Jahre seiner Radikalisierung. Weber spricht von „Selbsterfindung“. Denn auch 1919 findet Weber noch immer einen rat- und orientierungslosen Mann vor, der verzweifelt nach einer Heimat sucht und auch deshalb so lange wie möglich in der Armee bleibt. Denn einen Beruf, den er ergreifen könnte, hat er ja nicht. Und auch die Militärzeit hat ihn zu keinem anderen Menschen gemacht. Eine politische Position hat er auch nicht, so dass es ihm auch keine Probleme bereitet, weiter in einer Armee zu dienen, die am Anfang 1919 im Dienst der Münchner Räterepublik steht.

Ein Kapitel in seinem Leben, das Hitler in seiner autobiografisch angelegten Schrift „Mein Kampf“ auffällig überspielt. Ein Buch, das nun Weber wieder systematisch hinterfragt und mit den recherchierbaren Dokumenten abgleicht. Und es wird unübersehbar, wie Adolf Hitler sich nachträglich eine Legende zusammengebastelt hat, in der er alles eliminiert hat, was nicht zur heldenhaften Biografie des ab 1923 landesweit bekannten Agitators und Parteiführers der extremen Rechten passte.

Wie unter der Lupe besichtigt Thomas Weber diese Münchner Jahre im Leben des Adolf H., der auch in die Schulungen der von Karl Mayr geleiteten Propagandaabteilung der Reichswehr eher aus Verlegenheit rutschte, vielleicht auch in dem Versuch, der Entlassung aus der Armee zu entgehen. Dass er dabei erst mit einem Großteil nationalistischer und rassistischer Topoi in Berührung kam, gehört auch zur Tragik des Karl Mayr, der Hitler auch noch in Kontakt brachte mit einer winzigen Hinterzimmerpartei namens DAP, wo man noch nicht so richtig wusste, ob man eigentlich mal bekannt werden wollte oder doch lieber der kleine Anhänger der Thule-Gesellschaft bleiben wollte. Hitler, eigentlich nur als Beobachter geschickt, rastete aus und redete einen bayerischen Separatisten nicht nur in Grund und Boden – er redete ihn regelrecht aus dem Raum.

Logisch, dass man den Mann bei der DAP behalten wollte, nicht ahnend, wie schnell der nicht nur seine Talente als Redner entdecken würde, sondern auch diese Partei übernehmen würde und daraus binnen kurzem die NSDAP machen würde. Und: Wie schnell der Bursche sich radikalisieren würde – und zwar direkt in die Bierhallen, in denen er redete und dabei lernte, sich den Beifall des Publikums regelrecht zu erarbeiten. Sehr bildhaft schildert Weber, wie dieser Hitler lernte, die Themen aufzugreifen und zu den seinen zu machen, mit denen er in den vollen Sälen das Publikum zu Reaktionen und Gegenreaktionen bringen konnte.

Warum aber in München, fragt Weber immer wieder.

Denn eigentlich war doch dieses von Separatismus und Königstreue geprägte Bayern der allerschlechteste Ort in Deutschland, nun ausgerechnet eine rechtsextreme Partei groß zu machen. Und es wäre wohl auch nie dazu gekommen, wenn es die Linken nicht zu doll getrieben hätten und nicht versucht hätten, die Mehrheitsverhältnisse so völlig zu ignorieren. Es wäre auch nicht so weit gekommen, wenn sich die SPD besser mit der konservativen BVP vertragen hätte und am Ende dem Technokraten (den Begriff verwendet Weber) Gustav von Kahr den Weg ins Amt des Ministerpräsidenten eröffnet hätte, der Bayern zur „Ordnungszelle“ des Deutschen Reiches machte und damit zum Zufluchtort für alle möglichen rechtsextremen Bewegungen und gestrandete Putschisten.

Weil aber für 1919 ziemlich sicher ist, dass Adolf Hitler noch längst kein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ hatte, wie heutige Soziologen die Geisteshaltung beschreiben, versucht Thomas Weber natürlich auch herauszubekommen, woher Hitler all die Einflüsse und Ideen hatte, die er dann in „Mein Kampf“ als Programm formulierte. Und er beschäftigt sich mit der Frage, ob Hitler nun das Produkt anderer Akteure war, die ihn erst zu dem machten, als was ihn die Öffentlichkeit ab 1923 kennenlernte. Oder hat er sich selbst zu dieser Führerfigur gemacht? Übrigens auch das ein Topos, der schon 1919 allgegenwärtig war: Gerade konservative Kreise fanden sich mit der oft komplexen und voller Kompromisse steckenden Politik der Weimarer Republik nicht ab, wünschten sich eine Führergestalt, die das Land wieder aus der Malaise führt.

Und da kommt Weber natürlich auch auf den 9. November 1918 zu sprechen.

Den Hitler selbst zu seinem Erweckungserlebnis erklärt hat, was definitiv nicht stimmt. Sein „Damaskus-Erlebnis“ wurde tatsächlich der 9. Juli 1919, der ihn ganz ähnlich wie die meisten Bayern (und wohl auch den Rest der Deutschen) wie ein Schock traf: Da wurden die Ergebnisse der Friedensverhandlungen in Versailles bekannt und zum ersten Mal begriffen die meisten Deutschen, dass sie den Weltkrieg tatsächlich verloren hatten. Bis dahin wiegten sie sich augenscheinlich fast alle noch in dem Glauben, dieser martialische Krieg sei irgendwie unentschieden ausgegangen. Auch das verstärkte den Rechtsruck im Land – und wurde zur eigentlichen Geburtsstunde der „Dolchstoßlegende“. Und zu dem Moment, in dem sich Hitler begann zu radikalisieren.

Wobei Weber beiläufig auch immer wieder anmerkt, dass auch die anhaltende Blockade durch die Siegermächte und die schlechte Versorgung mit Nahrungsmitteln ihren Teil dazu beitrugen, immer mehr Menschen zu radikalisieren und vor allem nach neuen Erklärungen und Lösungen für die miserable Lage zu suchen. Ein Boden, auf dem der in Deutschland schon lange latente  Antisemitismus erst so richtig gedeihen konnte. Wobei Weber sich die Mühe macht, die Spielarten des damals in Deutschland gepflegten Antisemitismus genauer zu untersuchen – denn eigentlich gab es verschiedene Antisemitismen. Und nicht jede Spielart bedeutete zwangsläufig, einmal in eine systematische Vernichtung der Juden auszuarten.

Dass Hitler dabei gerade in dieser Zeit mit der russischen Spielweise des Antisemitismus in Berührung kam, ist bei der Entwicklung des ganz speziellen Hitlerschen Rechtsextremismus natürlich ein ebenso wichtiger Fakt wie Hitlers Beschäftigung mit dem Thema Türkei.

Deutlich wird, wie gerade Hitlers Bedürfnis, die DAP bekannter und massenwirksamer zu machen, dazu führte, sie im Lauf weniger Monate zur radikalsten unter den rechtsextremen Splittergruppen in München zu machen. Und dabei schuf er sich quasi selbst seine neue Rolle nicht nur als Agitator, der mühelos in der Lage war, ganze Bierhallen zu unterhalten, sondern auch als diktatorischer Parteiführer, der das Spiel um die Macht auch deshalb zu beherrschen lernte, weil er in entscheidenden Momenten alles in die Waagschale warf und Entscheidungen geradezu provozierte. Nichts hasste er so wie Kompromisse. Aber an Webers Arbeit verblüfft natürlich auch, wie akribisch er herausarbeitet, wie in diesem frühen Hitler schon all das steckt, was ihn später als Diktator so lange erfolgreich machte, bis auch der letzte Gegenspieler begriffen hatte, dass sich dieser Mann an keine Regeln hielt.

Womit Weber diesen Mann, der sich selbst gern zum Retter stilisierte, gerade auf jenen Feldern entdämonisiert, wo er selbst in den kritischsten Biografien bislang unhinterfragt geblieben ist. Auf einmal ähnelt dieser suchende, brotlose Hitler auf erstaunliche Weise seinen Nachahmern in der Gegenwart, den ganz rechten genauso wie den halbrechten, die sich ihr Weltbild künstlich zusammenschustern und eine ernsthafte politische Auseinandersetzung vermeiden, indem sie die politische Konkurrenz entweder verteufeln, lächerlich machen oder gleich gar zum Teil einer Verschwörung erklären. Alles Spielmuster, die man bei Hitler und seinen frühen radikalen Wegbegleitern wiederfindet.

Was die Sache nicht weniger gefährlich macht.

Denn gerade das Beispiel dieses Hitler zeigt ja, wie anfällig gerade Menschen in solch unentschiedener Lebenssituation sind für simple Welterklärungen und eklektizistisch zusammengebastelte Welterklärungen. Der hitlersche Faschismus, so Weber, ist in seiner speziellen Ausformung in „Mein Kampf“ dann ganz speziell Hitler. Mitsamt seinem Versuch, ein Deutschland zu denken, das in künftigen Kriegen nicht mehr besiegt werden kann. Was auch sichtbar macht, wie latent das alte imperiale Denken damals in Deutschland noch immer war – aus dieser Denkfalle sind das Land und vor allem seine konservativen Eliten bis zum Ende der Weimarer Republik und des Hitler-Reiches nicht herausgekommen.

Und da Thomas Weber viele Zeitgenossen zitieren kann, die diesen frühen Hitler persönlich erlebten, wird die Metamorphose vom braven (aber ratlosen) Untergebenen zum Politiker, der durchaus weiß, wie charismatisch er wirken kann, sehr deutlich. Als hätte dieser Hitler in München tatsächlich erst entdeckt, über welche Talente er verfügte. Und die Überlieferungen sprechen dafür, dass es genau so war. Aber auch seine Defizite müssen benannt werden, um zu begreifen, warum er so verheerende Wirkungen hatte. Denn die Fähigkeit, anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ging diesem skrupulösen Adolf Hitler augenscheinlich völlig ab. Dafür konnte er sich regelrecht in den Rausch steigern, wenn er vor Massen von Menschen sprach. Das war seine Sucht, stellt Weber fest. Eine Sucht, wie man weiß, die am Ende ein ganzes Land in die Finsternis stürzte. Und trotzdem wurde dieser sich selbst gestaltende Hitler zur stärksten Ikone der deutschen Geschichte, umwallt von lauter Mythen und Legenden.

Ein paar dieser Legenden hat Weber in diesem Buch systematisch auseinandergenommen. Kann man eigentlich nur sagen: Weiter so.

Thomas Weber Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde, Propyläen Verlag, Berlin 2016, 26 Euro.

In eigener Sache

Jetzt bis 9. Juni (23:59 Uhr) für 49,50 Euro im Jahr die L-IZ.de & die LEIPZIGER ZEITUNG zusammen abonnieren, Prämien, wie zB. T-Shirts von den „Hooligans Gegen Satzbau“, Schwarwels neues Karikaturenbuch & den Film „Leipzig von oben“ oder den Krimi „Trauma“ aus dem fhl Verlag abstauben. Einige Argumente, um Unterstützer von lokalem Journalismus zu werden, gibt es hier.

Überzeugt? Dann hier lang zu einem Abo …

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar