Wenn man älter wird und die Beanspruchungen des Berufslebens aufhören, dann sollte man sich nicht unbedingt hinsetzen und so tun, als würde sich die Gegenwart jetzt nach der Vergangenheit richten müssen. Aber leider tun das viele Alte. Nur die wenigsten setzen sich wirklich hin wie Hanno Speich in Mailand und gehen ihrer eigenen Geschichte auf den Grund. Es ist auch ein Stück Leipzig-Geschichte.

Denn Speich, 1933 geboren, floh 1948 mit seiner Familie aus dem zunehmend von neuer Bevormundung, Enteignung und Diskriminierung geprägten Osten. Der Warnschuss war deutlich genug gewesen, als Hannos Vater vom KGB abgeholt und tagelang verhört wurde. Das stalinsche System des Misstrauens, der Indoktrinierung und Drangsalierung wurde Stück für Stück auch in der sowjetischen Besatzungszone implementiert. Und es betraf in besonderem Maße alles, was noch von der freien Wirtschaft der Vorkriegszeit übrig war: freie Unternehmer, Inhaber mittelständischer Unternehmen, Andersdenkende sowieso. Dass man damit tatsächlich die Intelligenz des Landes traf, war den Sachwaltern eines innigen Glaubens, man könnte ein Land mit bürokratischer Planwirtschaft am Laufen halten, sehr wohl bewusst.

Und trotzdem wurde diese Politik von Anfang an mit rigider Härte durchgezogen. Hannos Eltern zogen die Konsequenz und organisierten die heimliche Flucht in den Westen und weiter bis nach Triest an der Adria, damals ein von den Engländern verwaltetes Sonderterritorium. Jugoslawien erhob – immerhin zu den Siegern des Krieges gehörend – Ansprüche auf dieses vormals italienische Gebiet, das vor dem 1. Weltkrieg zu Österreich gehört hatte und entsprechend geprägt war. Hier lebten Hannos Großeltern, hier hofften Hannos Eltern einen Neuanfang zu finden, was ihnen dann doch nicht gelang. Was nicht nur daran lag, dass Hannos Vater sich schwer tat mit dem Erlernen der italienischen Sprache. Augenscheinlich litt er auch psychisch noch unter den Spätfolgen der Verhaftung.

Das ist eine Dramatik, die sich erst langsam auftut im Lauf der Geschichte. Und auch dem pensionierten Ingenieur Hanno Speich wäre es mit 80 Jahren wohl schwergefallen, seine Lebensgeschichte zu erzählen, wenn nicht sein Leipziger Jugendfreund Manfred all seine Briefe aufbewahrt hätte. Über 40 Jahre schrieben sich die beiden über Ländergrenzen hinweg, oft auch ohne Blatt vor dem Mund, was gerade für Manfred gefährlich war, der zwar wusste, wie engmaschig das Beobachtungsnetz der Stasi war. Aber wie dicht dran er war, selbst in die Fangstricke dieses Geheimdienstes zu geraten, das begriff er auch erst nach 1990, nach diesen atemberaubenden Entwicklungen im Sommer und Herbst 1989, die er alle miterlebte.

Weil Hanno Speich auf diese Briefe zurückgreifen kann, wird das Buch zu einer Doppelbiografie, in der er aus der Ferne miterlebt, wie auch Manfreds Betrieb verstaatlicht und sein Freund von gnadenlosen Funktionären abgedrängt wurde, während sie emsig dabei waren, nicht nur den Betrieb, sondern das ganze Land herunterzuwirtschaften.

Ähnlich von der verqueren Wirtschaftspolitik betroffen hat vor Jahren auch Erhard Kaps seine Erinnerungen an diese Zeit aufgeschrieben, der genauso miterlebte, wie Enteignung und Misswirtschaft nicht nur die Ergebnisse von Generationen fleißiger Arbeit zerstörten, sondern auch den Tag vorbereiteten, an dem die DDR hätte Konkurs anmelden müssen.

Hanno Speich sah die Zeichen dafür schon in den 1970er Jahren, auch wenn er nur aus den Briefen des Freundes über die Entwicklungen in Leipzig erfuhr. Aber er hatte ja den Vergleich, war als Manager für ein erst kleines italienisches und dann ein großes deutsches Unternehmen tätig, das sich auf Hydraulische Systeme spezialisiert hatte. Er wusste, wie schnell Innovationen in den Markt drückten und wie schnell eben noch gültige Ingenieurprojekte veralteten und damit nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Und über den österreichischen Freund Hans hielt er auch Kontakt zu Manfred – bis zu dem Zeitpunkt, als Hans selbst den Horror einer Verhaftung durch die Stasi erlebte.

Was nicht in den Briefen steht, rekonstruiert der Autor aus der Erinnerung. Und schnell merkt man, dass 70 Jahre schon längst eine Zeitspanne historischen Ausmaßes sind. Die Atmosphäre, die Lebensbedingungen und politischen Querelen der 1950er Jahre muss Speich schon recht detailliert erzählen, weil sie mit dem heutigen Zustand Europas fast nichts mehr zu tun haben. Übrig bleiben immer nur Generalerzählungen wie die vom Wirtschaftswunder, das Speich ja miterlebt hat, genauso, wie er die zunehmenden sozialen Spannungen in Italien in den 1960er Jahren miterlebte, den Aufstieg Italiens zu einer Industrienation – und die dramatischen Radikalisierungen, die gerade in Italien ihren Blutzoll fanden.

Eine Entwicklung, die sich so völlig unterschied von der zunehmenden Dramatik in Leipzig. Was ja dann erst diese Unterfütterung des ‘89er Herbstes ergab, in dem den Kommentatoren eigentlich nur noch ein Wort blieb: „Wahnsinn“. Und Hanno konnte endlich wieder nach Leipzig fahren und seinen Freund besuchen. Ein Leipzig, an das er irgendwie doch noch hohe Erwartungen hatte. Zumindest rechnete er nicht mit den Enttäuschungen, die ihm dann begegneten, als er die Stadt kurz nach der „Wende“ besuchte und auf eine Atmosphäre der Frustration stieß. Die Stadt steckte mitten im Verlust ihrer einst prägenden Industrie, die Arbeitslosigkeit griff um sich. Die Blütenträume zerplatzten erst einmal.

Die Briefe, die ihm Manfred bei dieser Gelegenheit übergab, bilden das Grundgerüst dieser Lebenserzählung, werden oft auch ausführlich zitiert, um vergangene Ereignisse wieder lebendig zu machen. Das Buch erschien übrigens 2015 zuerst auf Italienisch und musste erst ins Deutsche übersetzt werden, was vielleicht der Grund dafür ist, dass manche Stellen doch stark redigiert wirken. Was verständlich ist: Der Autor war sichtlich besorgt, einige Personen zu schützen und anonym zu halten. Es kommt ja nicht jeder gut weg in der Geschichte. Und die 1950er Jahre, als Manfred in Leipzig das Familienunternehmen versuchte zu sichern und Speich sich in Italien eine Zukunft aufbaute, sind zwar weit weg, ganz tief abgetaucht in die Geschichte. Aber die 1980er und 1990er Jahre sind es noch nicht ganz, auch wenn jüngere Zeitgenossen diese Zeit auch schon mit greisen alten Zauseln verbinden.

Aber etliche dieser Greise und Greisinnen leben ja noch. Einige haben sich eine hübsche Biografie zusammenklamüsert. Andere reden lieber gar nicht drüber und wollen auch gar nicht dran erinnert werden.

Was dann der Punkt ist, an dem sich das Leipziger-Leserherz sagt: Irgendwie ist der Hanno eben doch zu lange im Westen gewesen. Er bringt jedenfalls nicht wirklich viel Verständnis auf für die Zerrissenheit in Hannos Familie, für dieses Ringen um eine neue Position im Leben, wo die meisten alten Positionen fragwürdig und desolat geworden waren. Womit er wahrscheinlich das große Missverständnis zwischen Ost und West berührt, das die ganzen 1990er Jahre überschattete. Der Westen hielt die Zerrissenheit eines nach neuer Orientierung suchenden Ostens nicht aus und der Osten die westliche Kaltschnäuzigkeit, einfach stur geradeaus zu fahren, ohne Besinnung. Die Wunden sind, wie es aussieht, bis heute nicht verheilt.

Da half augenscheinlich auch nicht die über Jahrzehnte in Briefen bewahrte Freundschaft. In der Begegnung wurde erst greifbar, wie stark die beiden Welten auch emotional auseinander gedriftet waren. Hanno Speich gibt seine Ratlosigkeit zumindest zu. Eine Ratlosigkeit, die auch eine Hilflosigkeit ist, denn jetzt kann er nicht mehr trösten und helfen.

Aber er setzt genau in diesen frühen 1990er Jahren auch einen Punkt, an einer Stelle, an der Leipzig und seine Bewohner ja tatsächlich gerade am tiefsten Punkt der Trübsal angelangt waren. Was danach kam, ist ja schon wieder eine andere Geschichte. Und gerade dieser eigentlich früh gesetzte Punkt macht auch deutlich, wie sehr die Jahre 1989/1990 eine Zäsur in den Biografien aller Betroffenen waren. Die nun schon 26 Jahre zurückliegt und immer noch nach einer Einordnung sucht. Was vorher eindeutig und klar war, entpuppte sich ausgerechnet danach als verfitztes Knäuel und moralisches Dilemma.

Vielleicht ist es doch nicht so gut, einfach drüber wegzugehen und so weiterzumachen wie vorher. Erinnerung hilft nicht nur, aus der Geschichte was zu lernen, sondern auch zu begreifen, wie uneindeutig das eigene Leben ist in einer Welt, in der immer wieder die großen Spieler der Macht versuchen, das Schicksal von Völkern und Ländern zu dirigieren – mit in der Regel fatalen und langwirkenden Folgen.

Hanno Speich Unzertrennlich trotz Mauer und Eisernem Vorhang, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 14,95 Euro.

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