341 Einwohner hat Wahrenberg an der Elbe. Einer davon ist ein Dichter, Übersetzer und Philosoph: Walter Thümler. Seit 2014 lebt er dort, nachdem ihm Städte wie München und Berlin zu hektisch geworden sind. Man kann dort nicht richtig nachdenken. Denn zum Nachdenken braucht man Ruhe. Eine Ruhe, die unsere übersättigte und völlig außer sich geratene Gesellschaft meidet mit aller Macht. Denn darum geht es eigentlich: um uns.

Aber über uns selbst können wir in einem Alltag, in dem wir permanent abgelenkt, gestresst und unterhalten sind, nicht nachdenken. Und viele wollen es auch gar nicht, weil man dann anfängt, über ungelöste Probleme, Wünsche und Träume nachzudenken. Und über sich selbst und seine Beziehung zu den (nächsten) Menschen. Alles Dinge, von denen wir uns nur zu gern ablenken lassen, weil sie unbequeme Fragen und Antworten mit sich bringen. Bis zu der ganz zentralen Frage, die jede Religion stellt: Wie halten wir es mit uns selbst aus?

Wo wir doch wissen, dass wir selbst voller Abgründe und Widersprüche sind, voller Kleinmut, Feigheit, Bosheit, manchmal voller Zorn, manchmal voller Hochmut. Immer wieder fühlen wir uns schuldig. Aber wir können nicht damit umgehen. Und viele unter uns fürchten sich regelrecht – nicht nur vor der Welt, wie sie ist, sondern vor ihrem eigenen, beängstigenden Leben.

Man möchte nach Wahrenberg fahren und mit Walter Thümler durch die Felder laufen. Was er so untertrieben „Sentenzen“ nennt, könnte auch den Titel Brevier tragen, Stundenbuch oder „Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets“. Aber der Titel ist schon vergeben. So hat Blaise Pascal seine „Gedanken“ genannt.

Aber um nichts weniger geht es. Thümler setzt sich zwar in Distanz zum „besorgten Bürger“, der unsere Gegenwart mit so viel dummem Lärm erfüllt. Aber er kennt ihn. Denn wer sich selbst immer wieder befragt, der weiß, woher die Sorgen und Besorgnisse kommen.

Und man ertappt sich natürlich dabei, dass man all diese Stellen im Buch mit fettem Stift anstreichen möchte. „Das Leben des Kleinbürgers, der vielen, die sich vorm Leben fürchten, besteht darin, sich so erfolgreich wie möglich vor dem Leben zu schützen. Weil man nicht leben kann, sich nicht zu leben traut, soll auch kein anderer es können.“

Die Kleinbürger hat er nicht umsonst auf dem Kieker: Er weiß ja, wie es ihnen geht. Und dass genau dieser Punkt es ist, der die meisten Menschen ängstigt: sich nämlich ernsthaft und ohne Ablenkung mit der eigenen Unvollkommenheit in der Welt zu beschäftigen. Ihr allergrößtes Problem ist die Selbstliebe. Denn wer nicht in der Lage ist, sich selbst zu akzeptieren, der kann auch niemanden anders lieben. Der sieht im Anderen nie sich selbst, sondern nur das Andere, Ungewollte. Der begegnet anderen Menschen fortwährend mit Misstrauen. Denn alles Üble, zu was er sich selbst fähig hält (weil er es in sich weiß), traut er auch anderen zu. Denen erst recht.

Das ist die Angst, die unsere heutigen „Populisten“ schüren. Die billigste aller Ängste. Denn da genügt nicht viel dazu, die gewaltige Angst vieler in eine geballte Abwehr alles Fremden umzumünzen. Wer sich in seiner eigenen Selbstbehauptung fortwährend bedroht sieht, der ist nur zu bereit, alles, was fremd ist, mit lauter Schreckensbildern aufzuladen.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sagte Christus. Ein Spruch, den selbst Christen meist nur halb begreifen, weil sie glauben, die Nächstenliebe ginge über alles. Aber wer sich selbst nicht lieben kann, der liebt auch den Nächsten nicht. Ein Thema, das Thümler mehrfach umkreist, weil es ihn zutiefst beschäftigt. Die Stille des Dorfes hat er ja auch gesucht, um sich seinen eigenen, tiefsten Ängsten zu stellen und sich bewusst zu werden, wie schwer es ist, sich selbst liebend anzunehmen.

Wir sind ja so nicht erzogen. Und auch wenn man nicht religiös ist und mit der Unbedingtheit, mit der Thümler den Glauben an Gott als notwendig setzt, bereichert einen genau dieses Befragen. Denn natürlich hat er recht: Im Kern hat das frühe Christentum genau diese Fragen gestellt. Wie kann ich getröstet in der Welt leben, wenn ich doch weiß, wie untröstlich, schuldbeladen und voller Scham ich bin? Und tagtäglich machen wir uns schuldig – aus Gedankenlosigkeit, Übermut oder einfach, weil wir uns nicht trauen, ehrlich mit unseren Liebsten über unsere Gefühle zu reden.

Deswegen gibt es auch ein richtig starkes Kapitel zu Liebe und Partnerschaft im Buch, in dem Thümler das ganze Spannungsfeld aufreißt zwischen dem ersten Schmetterlinge-im-Bauch-Gefühl bis hin zu dem Tag, an dem von der Liebe eigentlich nichts mehr da ist, uns aber etwas viel Stärkeres an unsere Partner bindet. Etwas genauso Wertvolles. Das aber vor die Hunde kommt, wenn wir es nicht gewahr werden und darüber reden, uns ihm stellen.

Und deshalb findet er auch sehr scharfe Worte über das, was wir mit unserer Welt und unserem Leben anrichten lassen, bloß weil wir dazu animiert werden, dass es alles, was wir wünschen, doch fix und fertig zu kaufen gäbe. „Die Hölle, das ist das Fertige, das Unteilbare“, schreibt Thümler einen dieser vielen Sätze, die in ihrer Kürze die Probleme unserer Zeit auf den Punkt bringen. Denn wenn wir das „Gefühl“ schon fertig auspacken können, erleben wir den Weg dorthin nicht, sind wir gar nicht bereit für den großen Moment. So, wie man für eine Feier nicht bereit ist, die man nicht mit aller Aufmerksamkeit selbst vorbereitet hat.

Ein anderer Satz geht so: „Unser Leben, wie wir es leben, setzt sich zusammen aus neunzig Prozent Funktion und zehn Prozent Sehnsucht, wiewohl das Verhältnis in Wahrheit umgekehrt ist.“

Aber wir leben in einer Welt, in der uns fortwährend eingebläut wird, wir lebten um zu arbeiten und zu funktionieren. Logisch, dass die meisten Menschen da die Sehnsucht nach einem Leben im Staunen über den Reichtum der Welt verlieren. Sich nicht mal mehr trauen, diese Sehnsucht zu leben. Denn: Da würde man sich ja selbst begegnen. Und was lernen über sich. Und ahnen, was einem wirklich fehlt.

Aber was passiert mit Menschen, die nicht über sich selbst reden, weil sie von sich und ihren Abgründen nichts wissen (wollen)?

„Unser inneres Reden, was für ein Geschrei, welch ein Lärm. Würde das außerhalb von uns erklingen, wir würden Reißaus vor uns selbst nehmen. Solch Lärm tobt in den Köpfen der meisten, endlose Selbstgespräche, Beleidigungen, Unterstellungen, Verurteilungen.“

Wer mit sich selbst nicht im Reinen ist, ist voller Geschrei. Und dass es längst nach draußen gekippt ist, kann man in allen sozialen Netzen lesen.

„Wir bedürfen des Mitleids, weil wir unwissend sind über uns selbst und über die Wirklichkeit. Wir laufen mit geschwellter Brust genaseweist herum.“

Was die meisten von uns haben, ist eine Meinung. Aber das sind nicht sie selbst. Sie sprechen nicht von sich selbst und ihren Nöten, wenn sie fordern, das jetzt meinen zu dürfen. Ein Gespräch kann so nicht entstehen. Ein Gespräch entsteht nur, wenn wir lernen, uns selbst zu akzeptieren. Uns zu lieben, so wie unseren Nächsten oder unsere Nächste. Das setzt Vertrauen voraus. Für Walter Thümler ist es Gottvertrauen.

Aber tatsächlich ist es ja Selbst-Vertrauen. Denn dass wir so voller Misstrauen den anderen gegenüber sind, zeigt ja nur, wie sehr wir uns selbst misstrauen. Wir vertrauen uns selbst nicht. Und wir haben Angst, dass nichts übrig bleibt von uns, wenn wir uns dem anderen aussetzen. Deswegen dieses ganze Gedöns der kleinen Politiker von „Sicherheit und Ordnung“. Das ist die pure Verunsicherung des kleinen Bürgers in sich selbst. Und – noch eins draufgesetzt: die doppelte Angst vor der Freiheit und vor dem eigenen Leben.

„Zu wissen, daß man frei ist, ist eine Sache. Aber die Freiheit anzunehmen und als Freiheit zu gestalten zeigt erst, ob man auch den Mut hat, frei zu sein.“

Die Un-Freiheit spiegelt unser Nicht-Wissen über uns selbst. Denn die wohlfeilen Meinungen sind ja Strandgut, darin versteckt sich einer schamhaft wie in einem Schneckenhaus und muss sich nicht zeigen. Er operiert aus der verschlossenen Burg. Und das tut er aggressiv. „Der Unwissende ist per se übergriffig. Da er sich nicht selbst besitzt, sucht er Selbst-Substitute, und das kann alles werden.“

Und da bekommt ihn unsere Konsumwelt zu packen, denn sie bietet alles an, alle Surrogate für alles, was die Menschen bei sich selbst nicht zu suchen trauen oder sich nicht wagen zu tun. Surrogate der Freiheit und Surrogate der Erfüllung, die selten lange halten. Das ist ihre Tragik: Sie erfüllen uns ja nie mit Selbsterkenntnis, Trost oder Liebe. Der Rausch verfliegt schnell. Und dann?

Ich zitiere nur noch eine Sentenz, weil sie es so schön auf den Punkt bringt: „Das Leben ist Freude. Wir aber richten eine Überlebenslogik auf. Diese läßt nur Spuren der Freude übrig. Eine Logik, die von Angst geprägt und im Grunde – da ohne lebendige Quelle – gewalttätig ist.“

Was ja nun einmal auch heißt: Die Wege zu Trost und Liebe liegen alle in uns, nicht im Schaufenster oder im Supermarktregal. Wir können das Glück nicht kaufen. Und die Freude im Leben finden wir erst, wenn wir uns wieder einlassen auf unsere eigene Lebendigkeit. Also all diese Ablenkungen, die uns fortwährend abbringen von uns, endlich ausschalten und aus unserer wertvollsten Zeit verbannen. Wer immer nur funktioniert und niemals die ganze Sehnsucht erlebt, der hat nicht gelebt. Der trägt seinen ganzen lärmenden Frust über ein nicht gelebtes Leben in die Welt und glaubt ziemlich sicher, dass immer die anderen schuld sind an seinem Weheleid.

Da muss man gar keine Bibel verschenken. Da kann man einfach dieses Büchlein verschenken und es den Ruhe- und Ratlosen ans Herz legen.

Walter Thümler Wie es wirklich ist, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2018, 19,95 Euro.

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