Es war eine pfiffige Idee, die mit Stötteritz begann, wo das emsige Sammeln der Ortsteilchronisten über die Jahre zwar jede Menge Material über den Ortsteil zusammengebracht hat. Aber wie sollte man das ordnen für ein Buch? So entstand das erste Stadtteillexikon, dem bald drei weitere für Plagwitz, Südvorstadt und Großzschocher folgten. Jetzt floss auch der Sammelfleiß der Schönefelder in ein solches Lexikon.

Die Betreuung des Ganzen übernahm der Historiker Michael Liebmann. Denn es gab eine Menge zu sortieren, nicht nur die 195 Stichworte, hinter denen jeweils kürzere und längere Artikel stehen. Denn der Ortsteil besteht eigentlich aus fünf Teilen, die alle zwar zur Schönefelder Flur gehören, heute aber alle eine Art Eigenleben führen. Neben den beiden alten Rittergutsdörfern Schönefeld und Abtnaundorf gibt es noch die drei Wohnquartiere, die erst mit der Industrialisierung entstanden.

Das jüngste ist der in den 1970er Jahren entstandene Wohnkomplex Ost-Schönefeld. Wesentlich bekannter ist das auf dem einst ziemlich unfruchtbaren Rabet entstandene Neu-Schönefeld, das zu seiner Gründungszeit im 19. Jahrhundert nördlich von der Eisenbahnstrecke Leipzig-Dresden begrenzt wurde. Die fuhr, als hier 1838 die ersten Häuser entstanden, noch genau dort, wo heute die Eisenbahnstraße entlangführt. Erst mit dem Neubau des Hauptbahnhofs wurden die Gleisanlagen weiter nördlich verlegt.

Es ist also auch keine Überraschung, dass sich viele Stichpunkte in diesem Lexikon mit dem Bahnhof, den einzelnen Verlade- und Postbahnhöfen und den Eisenbahnlinien beschäftigen – denn das alles liegt auf Schönefelder Flur.

Genauso wie der Ortsteil Neustadt, der ab 1866 entstand. Die gewaltigen Gleisanlagen im Vorfeld des Hauptbahnhofs lassen heute fast unwahrscheinlich erscheinen, dass einst die Bauern von Schönefeld bis ins Rabet ackerten und wirtschafteten und ihr Vieh weiden ließen. Und dass das alte Dorf Schönefeld selbst bis weit ins 19. Jahrhundert seinen dörflichen Charakter bewahrte, weil die Besitzerin des Rittergutes eine städtische Entwicklung im Dorf lange Zeit verhinderte. Trotzdem ging die Entwicklung ja auch an Schönefeld nicht vorbei, auch wenn sich die Eingemeindung nach Leipzig lange verzögerte, so lange, dass die Schönefelder sich sogar extra ein neues Rathaus bauten.

Wir erfahren, wie der Abtnaundorfer Park sich mauserte und wie die Parthe noch weit ins 19. Jahrhundert hier noch ein richtiger, narurbelassener Fluss mit vielen Mäandern war. Baden konnte man in ihrem sauberen Wasser auch. Gleich mehrere Badeanstalten bis hin zum Gothischen Bad gab es, bevor die alte Flussaue völlig überbaut und die Parthe in einen hässlichen Kanal gezwungen wurde. Die Östliche Rietzschke, die am Rabet ihre eigene Flussaue hatte, ist völlig aus dem Stadtbild verschwunden.

Aber nicht nur markante Gebäude samt Schulen, Gasthöfen und Kirchen bekommen ihre Kapitel im Buch. Natürlich begegnet man auch berühmten Schönefeldern – auch solchen, die man hier gar nicht vermutet hätte, wie Gotthard Oswald Marbach und Wagners Schwester Rosalie, Moritz Lazarus und seinem Gast Adolph Menzel – die Menzellinde steht noch heute als Naturdenkmal in Schönefeld. Aber selbst Napoleons Marschall Marmont wird gewürdigt, obwohl der Mann verantwortlich war dafür, dass Schönefeld und sein Schloss während der Völkerschlacht abbrannten. Nicht zu vergessen die Schönefelder Kaufmannswitwe Marianne Pauline Mende, deren Mann in der Parthe ertrank und die einen Teil ihres Vermögens für den Bau des berühmtesten Leipziger Brunnens spendete – den Mendebrunnen auf dem Augustsusplatz.

Natürlich werden die Freges als langjährige Rittergutsbesitzer besonders gewürdigt. Aber der berühmteste Schönefelder war und ist Friedrich Wilhelm Stannebein, der einst die Windmühle in der Nähe des heutigen Stannebeinplatzes bewirtschaftete und mit seinen Wetterbeobachtungen zumindest in Leipziger Zeitungen einen Namen hatte. Wir erfahren von richtigen Studententumulten gegen den anmaßenden Rittergutsbesitzer Zschackwitz, vom Badevergnügen im Rohrteich, vom Einzug der Amerikaner 1945 und von der alten Schönefelder Wassermühle, die seit Jahrzehnten auf dem Trockenen steht. Man findet die Forschungsergebnisse zu Kleingartenanlagen, Kinos und Badeanstalten.

Und natürlich wird auch der brutale Umgang mit den Häftlingen und Zwangsarbeitern in der NS-Zeit thematisiert, an die die Gedenkstätte in Abtnaundorf heute noch erinnert. Die Rolle von HASAG und den ERLA-Werken wird ebenso beleuchtet. Sie bauten ja das Kriegsgerät, mit dem ein irrwitziger Krieg befeuert wurde, der am Ende auch nach Schönefeld zurückkehrte, als die Fliegergeschwader die Rüstungsbetriebe und das Hauptbahnhofumfeld bombardierten.

In der Abtnaundorferf Straße lernen wir einige prächtige Industriellenvillen kennen, wir erfahren, was aus den alten Rittergutshöfen wurde und warum die Gutsfelder westlich der Lindenallee zum Glück unbebaut blieben, sodass hier der Mariannenpark entstehen konnte. Man merkt, dass hier mehrere Ortschronisten über Jahre geforscht und gesammelt haben. Michael Liebmann würdigt sie im Vorwort des Buches. Manche haben sich spezialisiert auf die Gütergeschichte oder die Geschichte der (verschwundenen) Denkmale oder auf die lange Tradition der Sportvereine. Auch dieses Lexikon kann nur ein Zwischenstand sein, wie Liebmann betont. Denn Ortsteilgeschichte ist im Grunde immer die Arbeit von Ehrenamtlichen, von Menschen, die sich in ihrer Freizeit daran setzen, all das zu sammeln, was sich zum eigenen Ortsteil herausfinden lässt.

Die Anerkennung gibt es eigentlich immer erst, wenn am Ende so ein präsentables Buch daraus wird, das all diese Forschungen, die zuvor eher nur in kleinen Ortschroniken oder Blogs erschienen, einem großen Publikum zugänglich macht, auch und gerade den heute in Schönefeld, Abtnaundorf, Neustadt und Neuschönefeld Lebenden. Denn in einer fast durchweg sanierten Gegenwart findet man kaum noch die Spuren der Geschichte, bleibt man eher an rätselhaften Namen wie Rabet und Galgenberg hängen, beachtet die eingezwängte Parthe kaum und würde auch nichts wissen über explodierende Motorboote auf dem Rohrteich oder das verschwundene Partenschlösschen.

Immerhin war Schönefeld lange Zeit auch ein beliebter Ausflugsort der Leipziger. Zumindest bis zu der Zeit, bevor der neue Hauptbahnhof gebaut wurde und ein riesiges Gleisfeld entstand, wo vorher nur Teiche, Wiesen und Sumpf gewesen waren. Erst die riesige Brandenburger Brücke verband Schönefeld ja wieder mit Leipzig.

Aber sein Dornröschendasein hat (Alt-)Schönefeld bis heute ein wenig bewahrt. Mit welcher Straßenbahn man im Lauf der Zeit so hinfahren konnte, erzählt das Buch natürlich auch. Und am Ende ist der Leser natürlich etwas atemlos, weil er in komprimierter Dichte erfahren hat, was alles zu diesem Schönefeld dazugehört. Praktisch der halbe Leipziger Nordosten. Da muss man eher in Heiterblick kräftig bremsen, das als einstiges Vorwerk irgendwie auch noch dazu gehört – aber das Lexikon gänzlich gesprengt hätte.

Michael Liebmann (Hrsg.) „Schönefeld mit Abtnaundorf, Neustadt und Neuschönefeld. Ein Leipziger Stadtteillexikon“, Pro Leipzig, Leipzig 2019, 19 Euro.

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