Es gibt sie tatsächlich, diese Leute, die einen in lauter Rednerpose zutexten mit allem, was sie über irgendein Thema wissen – oder zu wissen glauben. Und das in einer Lautstärke, dass man gar nicht anders kann, als darüber nachzudenken, wie man das Restaurant, die Bahn oder die Party nur schnellstmöglich verlassen kann, um dieser sonoren Klugscheißerei zu entgehen. Und dann auch noch das: Der Klartext Verlag in Essen produziert auch noch serienweise Bücher für solche Leute?

Für DDR-Klugscheißer, Fußball-Klugscheißer, Tier-Versteher und Musik-Protzer. Obwohl: Wenn man sich hineinliest in diese etwas anderen „Experten“-Bücher, dann merkt man, dass es eigentlich Bücher für Leute sind, die den üblichen Klugscheißern, die mal irgendwas irgendwo gelesen oder gehört haben, mit sanftem Räuspern ein paar richtige Fakten entgegenhalten wollen.

Wozu der Bedarf in neueren Zeiten ja bekanntlich gewachsen ist, wo immer mehr Leute sich ihr Halb- und Viertelwissen aus dubiosen Internet-Quellen besorgen, wo echte „Klugscheißer“ sich als Kenner von allem Möglichen aufspielen und die Leichtgläubigen damit einfangen, die wirklich alles glauben, wenn es ihnen nur Leute mit der nötigen Einbildung als Tatsache verkaufen.

Man möchte ja mitreden können.

Möchte man das wirklich?

Jetzt hat es auch ein Leipzig-Bändchen in die Reihe geschafft, für das sich der Thüringer Autor Mirko Krüger noch einmal in seine Studienstadt begeben hat, zu der er die innige Beziehung nie verloren hat. Sein Lieblingsort ist hoch droben im Panorama-Café, von wo aus man die große Stadt zu seinen Füße liegen sieht, schön überschaubar, von Grün umrankt.

Und natürlich mit Legenden zugeschüttet, Märchen und Histörchen, die einem überschwängliche Stadtbilderklärer genauso selbstgewiss immer wieder erzählen wie die Besinnungskolumnen der regionalen Zeitung, die Jahr um Jahr emsig strickt an ihrer Variante von Stadtverklärung.

Kein Wunder, dass die üblichen Legenden auch in Mirko Krügers Buch gefunden haben. Wenn sie schon nicht die Weltsicht des gemeinen und landläufigen Leipzigers ausmachen, dann doch die offiziellen Bilderbuchgeschichten zur Stadt und ihrer Geschichte. Jenen Geschichten, die sie unterscheidbar machen von anderen Städten.

Die Klugscheißer-Bände zu Bochum, Hamburg und Thüringen sind ja genauso gestrickt. Jeder hat die bekannten Namen und Histörchen im Kopf. Jeder hat gleich eine Vorstellung vom Ort, wenn er nur den Namen hört – na ja, bis auf diese eine Stadt, die es bekanntlich nicht gibt.

Aber die andern haben alle so etwas, worüber landauf, landab die meisten Leute sofort Bescheid wissen. So Bescheid, dass sie sagen können: Kenn’ ich.

Die Vernünftigen sagen das zwar nicht, sondern geben zu, dass sie davon mal gerüchteweise gehört haben. Die Leute, die auch Viertelwissen schon für eine komplette Wissenschaft halten, erzählen einem dann aus breiter Brust, was für Kenner der Materie sie sind. Meist mehr, als jeder Eingeborene sich trauen würde je zu behaupten.

Und dann gibt es die, die wenigstens wissen wollen, was hinter den schon mal gehörten Brocken steckt – weil sie wirklich neugierig sind, ganz egal, ob sie dann deswegen auch mal hinfahren würden. Das ist so ein wenig Respekt davor, dass andere Leute auch eine schöne Wohnung haben und ihr liebevoll geputztes Nippes mögen und gern vorzeigen.

Immerhin hat es ja Arbeit gemacht, es hinzustellen – so wie das Völkerschlachtdenkmal, die raufenden Studenten vor Auerbachs Keller, den kaffeetrinkenden Türken am Coffe Baum, Leibniz, Bach und Wagner. Es gibt was zu erzählen. Und was die Stadtbilderklärer gern erzählen, ist nun einmal der Stoff, der Leipzig zur Heldin einer eigenen, unverwechselbaren Geschichte macht.

Die manchmal ihre Tücken hat, oft schon deshalb, weil schon am Anfang eine Legende stand. So wie mit Goethes Faust-Erzählung und dem arg verknapptem Zitat von „Mein Leipzig lob’ ich mir“ oder bei der Erfindung der Leipziger Lerche.

Vieles sieht, wenn man es genauer betrachtet, ein klein wenig anders aus – die Geschichte von Woyzeck genauso wie die Sache mit Goethes großer Verliebtheit in Käthchen Schönkopf oder die Sache mit der ältesten Leipziger Stadtansicht, von der auch Mirko Krüger meint, sie sei von Nordwesten her gemalt. Was wir an dieser Stelle bezweifeln.

Genauso wie die nur scheinbar offene Frage mit der Linde im Stadtnamen oder ob das Neandertaler waren, die vor 280.000 Jahren in der Gegend Waldelefanten jagten. Man merkt schon, dass die üblichen Sagen-Erzähler festhalten an ihrem Stoff und einmal in Gebrauch genommene alte Geschichten so lange weitergebraucht werden, so lange es in den Redaktionen genug Bliemchenkaffee gibt.

Aber das meiste stimmt natürlich. Auch wenn es zuweilen seltsam anmutet, wenn ein Mädchen Namens Mercedes oder ein Knabe namens Bill Kaulitz aufgrund ihres kurzen Kindheitsaufenthalts in Leipzig als Zeugen Leipziger Besonderheit benannt werden. Da fielen einem aber nun wirklich markantere Personen ein – von der Neuberin über Erich Kästner bis zu einem gewissen Heisenberg.

Was aber auch schon viel darüber sagt, wie man aus Thüringer Sicht auf Leipzig schaut. Und welche Geschichten man von dorther für markant und wichtig hält. Natürlich Goethe – wen auch sonst? Da haben auch Schiller und Lene Voigt keine Chance.

Dafür kommen die Standards, ohne die ein ordentlich besoldeter Stadtführer keine Führerlaubnis bekommt, natürlich alle vor – vom Leipziger Allerlei bis zum Traum, einen Kanal bis zur Nordsee zu bauen, vom legendären deutschen Fußballmeister VfB bis zu Bach und Blechbüchse. Fein gemischt mit kleinen Rätselfragen, populären Irrtümern (oder solchen, die es werden könnten) bis zu Aha-Erlebnissen, von denen Leipzig natürlich eine Menge hat.

Die meisten aber sind versteckt. Man muss sie schon erst finden – so wie die Hinrichtungsstätte in der Arndtstraße, Hans Meyers Traum vom höchsten deutschen Berg in Afrika oder die Leipziger Gose, die aufgrund fehlender Werbemaßnahmen in letzter Zeit etwas ins Hintertreffen geraten ist.

Aber wer Mirko Krügers Sicht auf das Wissenswerte, was es zu Leipzig zu wissen gilt, einmal vereinnahmt hat, sieht natürlich mehr von der Stadt, wenn er mal vorbeikommt. Mehr als das Handelsübliche – zum Beispiel die eher unauffälligen Apelsteine, die Scherbelberge, die der kleine Ringelnatz damals, als er als Knab’ in Leipzig weilte, so sehr vermisst hat in der flachen Landschaft, und die Zeugnisse der Friedlichen Revolution, die eben genau davon erzählen: wie friedlich die Leipziger/-innen ihre Revolutionen machen.

Sodass die eigentlichen Rebellionen und Rebellen einfach aus der Geschichte fallen – wie Ausrutscher. Mal mit Ausnahme von Karl Liebknecht, der ja bekanntlich den Vornamen eines berühmten Taufpaten bekam, der aber lieber vermied zur Taufe in der Thomaskirche zu kommen.

Wer Leipzig so noch nicht kannte, wird überrascht sein, was die Stadt für schnuckeligen Erzählstoff zu bieten hat. Wer sie kennt, wird da und dort ein bisschen mehr erfahren als die übliche Straßenbahn-Besserwisserei. Und mancher wird manches vermissen, weil das Büchlein sonst ein dickes Lexikon für Klugscheißer geworden wäre. Also für echte Klugscheißer, solche, die am liebsten gleich die ganze tausendjährige Stadtgeschichte erzählen würden, wenn sie dürften.

Obwohl ja auch 2.000 Jahre drin sind, wie wir seit 2011 wissen. Was dann schon ein Vortragsthema für echte Klugscheißer ist. Und was einen an die Ojemine-Erlebnisse erinnert, die einem begegnen, wenn man durch die Gassen der Stadt stromert und allerenden lauttönende Weise und Wissende die ungläubigen Zuhörer verblüffen hört mit Geschichten, in denen auch eine große Sehnsucht steckt, die Arglosen aus dem Ausland mit wirklich dollen Geschichten so zu beeindrucken, dass sie hinterher nur noch von dieser seltsamen Stadt in Sachsen erzählen, wo Napoleon aus einer wunderschönen Porzellantasse Kaffee trank und die Sachsen mitten in der Schlacht entschieden, dass sie wohl doch lieber von der anderen Seite aus schießen würden ….

Was ihnen bis heute Ärger mit allen Franzosen eingehandelt hat. Sagt man zumindest, hört man. Aber das ist ja genau der Stoff, mit dem man Leute beeindrucken kann, die nicht so klug waren, sich vorher schlau zu machen. Selber schuld, sagt der Kenner. Und kassiert die bewundernde Verblüffung der staunenden Gemeinde ein, die nie geglaubt hätte, dass man so viel über diese seltsame Stadt an der Pleiße weiß.

Mirko Krüger Leipzig für Klugscheißer, Klartext Verlag, Essen 2020, 14,95 Euro.

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