Die Reihe der Spaziergänge durch markante Leipziger Ortsteile geht weiter. Connewitz, die Südvorstadt, Gohlis, Plagwitz und Leutzsch hat der Lehmstedt Verlag schon in die Reihe seiner handlichen Stadt(teil)führer aufgenommen. Jetzt hat sich Sabine Knopf einmal aufgemacht, die Straßen des 1910 eingemeindeten Ortsteils Stötteritz zu erkunden. Ist da überhaupt was los? Oder kann man sich den Ausflug sparen?

Auf jeden Fall lernt man wieder einen Ortsteil mit einer ganz eigenen Atmosphäre kennen, stiller als andere, weniger ruhmsüchtig und medial präsent. Obwohl sich auch Stötteritz gewaltig verändert hat im Lauf der Zeit. Vom einstigen Tabakdorf ist nichts mehr zu sehen.

Das muss dann Sabine Knopf schon erzählen, damit der Reisende überhaupt eine Vorstellung davon bekommt, was Stötteritz einmal reich gemacht hat, auch wenn es Leute gegeben zu haben scheint, die über den Knaster von den Stötteritzer Feldern lästerten.

Vergangenheit ist auch die Existenz einer berühmten Kaffeerösterei am Ort. Vergangenheit sind die sieben Windmühlen, die einst am Ortsrand zu sehen waren. Darunter die berühmte Tabaksmühle – schon auf Probstheidaer Flur – von der aus Napoleon das Schlachtgeschehen 1813 lenkte. Hier hatte man eine gute Aussicht und hier war immer Wind.

Sötteritz ist der höchstgelegene Ortsteil von Leipzig. Deshalb entstand auch genau hier das Wasserwerk, mit dem sich Leipzig vor über 100 Jahre die modernste Wasserversorgung zulegte – mit 65 Meter hohem Wasserturm, den es heute mit kleinerer Turmhaube immer noch gibt, und vor allem einer Versorgung aus dem viel saubereren Grundwasser. Womit die Zeit des Trinkwassers aus Flusswasser für Leipzig zu Ende ging.

Kirchentrümmer, Wäldchen und Gletschersteinpyramide

Und da hat man schon den ersten Grund, mal rauszufahren nach Stötteritz. Da das Völkerschlachtdenkmal quasi gleich nebenan liegt, nimmt es Sabine Knopf einfach mit auf in ihren erstaunlich weiten Rundgang mit 46 Stationen. Aber das erweitert natürlich den Horizont.

Genauso wie der Aufstieg auf den Trümmerberg in der einstigen Etzoldtschen Sandgrube, wo die Reste der Paulinerkirche, des ebenfalls 1968 gesprengten Augusteums der Uni Leipzig und der Reudnitzer Markuskirche aufgehäuft wurden. Lange Zeit ein tabuisierter Ort – mittlerweile ein Ort der Erinnerung mit einer eindrucksvollen Klanginstallation.

Man begegnet also tatsächlich Leipziger Geschichte, wenn man nach Stötteritz fährt. Und auch ein paar namhaften Leuten, die hier mal wohnten – dem Erfinder der Homöopathie Samuel Hahnemann, Erich Loest, der ja dem Völkerschlachtdenkmal ein ganz eigenes literarisches Denkmal gesetzt hat, dem legendären Opernregisseur Joachim Herz und dem Schriftsteller Christian Felix Weiße, dem das untere Gut von Stötteritz gehörte und wo er ab 1790 auch lebte.

Während das obere Gut verschwunden ist, gehört der untere Gutshof noch heute zu den Sehenswürdigkeiten im Herzen von Stötteritz, gleich neben der Marienkirche gelegen, wo Sabine Knopf ihre Wanderung beginnt.

Mit ihr erfährt man die Entstehung des Stötteritzer Wäldchens und der Gletschersteinpyramide, aber auch des Güntzparks, der einst als Park für die Güntz’sche Heilanstalt für Geisteskranke entstand – eines der ganz frühen Relikte einer modernen Heilkunde, die die heilende Wirkung von lebendiger Natur in die Therapie einbezog. Heute ist es ein offen zugänglicher Park.

Wetterstation, Brauerei und eigener Bahnhof

Von Früherem erzählt auch die Villa Köhler in der Prager Straße, wo der hohe Radarturm heute noch vom langjährigen Dienst als Wetterstation erzählt. Während auf dem Nachbargrundstück das einst legendäre Gasthaus „Zum Napoleonstein“ verschwunden ist. Mitsamt der einst berühmten Sammlung zur Völkerschlacht. So ein Gang durch den Ort erinnert nun einmal immer wieder auch an Verluste.

An Dinge, die einst Stolz der hier Wohnenden waren – wie die Ulrich-Brauerei samt ihrem Gasthof oder die weltberühmten Postkartenverlage – wie Dr. Trenkler & Co. Und auch das legendäre Körting-Radio wurde einst in Stötteritz gebaut.

Mit Sabine Knopf lernt man auch einen Teil von Stötteritz kennen, der sonst nur selten wahrgenommen wird – die Industriegeschichte des Ortes. Hier wurden einst Schimmel-Klaviere gebaut und Druckwalzen hergestellt, Möbel und Schuhe produziert. Logisch, dass örtliche Unternehmer dringend um einen Eisenbahnanschluss kämpften, den sie 1891 dann auch bekamen.

Zwei Jahre später sogar mit Personenzuganschluss. Das Bahnhofsgebäude steht heute zwar leer, die Bahnhofs-Apotheke ist verschwunden. Aber dafür halten hier die S-Bahnen und ermöglichen den Neugierigen, ihren Rundgang auch in der Papiermühlstraße zu beginnen, die noch an die einst hier stehende Papiermühle erinnert.

Aus den vielen in stolzen Klinkern gebauten Fabrikanlagen wurden im Lauf der letzten Jahre moderne Wohnanlagen, die wesentlich mit dazu beitrugen, dass sich auch die Einwohnerzahl von Stötteritz wieder deutlich erhöhte.

Doch während diese Neu-Stöttertitzer quasi im Kern des alten Stötteritz wohnen, wird der Gang in die Naunhofer Straße und weiter in den Süden Richtung Kolm zu einer Reise in die präsentable Baugeschichte von Beginn des letzten Jahrhunderts, mit Villen und Reihenhäusern oder auch den ansehnlichen Sozialbauten eines Hubert Ritter.

Bewahrtes und Verschwundenes

Hier begegnen sich Baugeschichte und die Welt Leipziger Persönlichkeiten, die hier einst wohnten. Berühmtheiten darunter wie OBM Erich Zeigner, Thomaskantor Erhard Mauersberger oder das Fotografenehepaar Rössing. Manchmal hängt sogar eine Tafel am Haus, manchmal nicht. Da hilft dann der kleine Spaziergang-Führer, den Ort zu entschlüsseln.

Denn wenn man nicht weiß, welche Rolle die preußische Königin Louise einst als adeliges Vorbild spielte, kann man mit dem Königin-Luise-Haus am Eingang zum Südfriedhof nichts anfangen. Und das Rathaus von Stötteritz erkennt man als solches auch nicht auf den ersten Blick, seit es nicht mehr als Verwaltungsgebäude genutzt wird.

Die zeitweilig berühmte Freiluftgalerie Stötteritz von Günther Huniat ist verschwunden. Da hatte die Stadt 2013 keine Lust, diesen besonderen Ort dauerhaft zu bewahren, anders als bei der alten Schule von Stötteritz, die im sanierten Schulensemble der Schule am Weißeplatz bewahrt wurde.

Man macht sich auf dem Rundgang sehr viele Gedanken um Bewahren und Verschwinden. Denn die vielen Stötteritzer Villen und Gründerzeithäuser sind mittlerweile fast alle aufwendig saniert und machen den Ortsteil zu einem beliebten Wohnort. Der sich wahrscheinlich trotzdem atmosphärisch deutlich unterscheidet von jenem Stötteritz der Zeit, als der Theologe Caspar René Gregory hier lebte, gebürtiger Amerikaner und eine „Autorität auf dem Gebiet der Handschriftenkunde des Neuen Testaments“, der sich noch hochbetagt im 1. Weltkrieg als Freiwilliger im deutschen Heer meldete und mit 70 Jahren an einer Verletzung starb. An der Neuen Nikolaischule erinnert ein Gedenkstein an ihn.

Aber auch die Gletschersteinpyramide, die er aus Findlingen aus dem Garten an seinem Haus bauen ließ, erinnert an ihn. Es sind oft die kuriosen Schicksale der Menschen, die einen Ort erst interessant machen. Und es hilft dabei, so ein Büchlein in der Jackentasche zu haben, wenn man durch all diese Straßen läuft.

Denn von allein erzählen die Häuser ihre Geschichte nicht. Und wenn man die Geschichte dazu kennt, schaut man anders auf die Häuser und merkt, dass dieses Stötteritz doch so einiges zu bieten hat, was den Sprung die die Straßenbahn oder die S-Bahn lohnt.

Sabine Knopf Leipziger Spaziergänge. Stötteritz Lehmstedt Verlag, Leipzig 2022, 6 Euro.

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