Leipzig ist noch immer eine Stadt der Büchermenschen, wenn auch nicht mehr die einstige Buchstadt, wie sie in den Geschichtsbüchern steht. Und es sind auch nicht mehr die großen alten Namen, die an großen Verlagspalästen stehen – die Brockhaus, Reclam, Kiepenheuer, Tauchnitz. Als Mark Lehmstedt am 1. März 2003 zum Gewerbeamt ging und die Gründung eines neuen Verlages in Leipzig anzeigte, wirkte das wie ein „Nu grade!“ Und Sächsisches gehörte am Anfang tatsächlich zum Verlagsprogramm.

Mit „Sächsischen Miniaturen“ wollte der junge Verlag eine kleine Kulturtat für die sächsische Sprache vollbringen. Das war noch, bevor der Leipziger Sprachprofessor Beat Siebenhaar feststellte, dass das Sächsische als Idiom längst am Verschwinden ist. Und damit verschwinden auch die Leser für einst händeringend gesuchte Titel in sächsischer Mundart. Die sächsischen Titel aus dem Hause Lehmstedt sind heute vergriffen.

Man sammelt so seine Erfahrungen, stellt Mark Lehmstedt fest, der bei seinem Start als Verleger schon eine Kariere als Wissenschaftler hinter sich hatte. 1990 hatte er sich im Fach Germanistik mit einer Studie über den Leipziger Verleger Philipp Erasmus Reich promoviert, war anschließend in Forschungsprojekten und als Lektor tätig.

370 Titel in 20 Jahren

Und dann gründete er seinen Verlag, der heute mit 370 veröffentlichten Titeln zu den renommierten Verlagen in Leipzig gehört. Und das auch, weil er von Anfang an auch den Mut zum Ausprobieren hatte. Wirklich angefangen hat er ja 2003 mit Leipzig-Titeln. Regionalia, wie das Regal in den Buchhandlungen meistens auch heißt, wo jeder, der sucht, Titel zur Stadt, zur Region, zu Land und Leuten findet. Oder eben Spezialtitel zum Alten Rathaus und zum Coffeebaum, mit denen Lehmstedt damals startete. Und die Buchhändler und Buchhändlerinnen verblüffte. War denn der Markt nicht gerade üppig mit Sachsen – und Leipzig-Titeln geflutet worden?

War er.

Doch von Anfang überzeugte der Germanist, der auch die Liebe zum gut gestalteten Büchern mitbrachte, mit eben solchen grafisch anspruchsvoll gestalteten Büchern. Nicht nur der Inhalt sollte überzeugen. Die Käufer sollten sich auch an der Schönheit der Bände erfreuen. Und von Anfang an hatte Lehmstedt dabei mit Mathias Bertram in Berlin einen kongenialen Partner im Boot, der aus jeder Buchidee auch ein Buch machte, das sich auf jeder Messe für den Titel „Schönste Bücher“ bewerben konnte.

Teamwork im Lehmstedt Verlag. Foto: Ralf Julke
Teamwork im Lehmstedt Verlag: Mareike Bardenhagen, Annika Lippold und Kristina Schulze. Foto: Ralf Julke

Und er brachte Verbindungen mit, die dem jungen Verlag bald zu einem seiner wichtigsten Segmente verhalfen: großformatigen Fotobänden mit eindrucksvollen Dokumentarfotografinnen und -fotografen des Ostens. Eine Reihe, die erstmals in aller Breite sichtbar machte, was für hochkarätige Dokumentarfotografie es in der DDR gegeben hatte.

Jeder Band die neue Entdeckung des wirklichen Lebens im Osten. Der Höhepunkt 2014: die zwei Bände „Das pure Leben“, die geradezu zum Standardwerk für die ostdeutsche Dokumentarfotografie geworden sind. An diesen beiden Bänden kommt man nicht mehr vorbei, wenn man wissen will, mit welcher Intensität die begnadeten Fotografinnen und Fotografen des Ostens das wirkliche Leben jenseits von Propaganda und Paraden eingefangen haben.

Also alles eine Erfolgsgeschichte?

Deutschlands Städte im Taschenformat

Nicht unbedingt, stellt Mark Lehmstedt fest. Der sich sehr wohl bewusst ist, dass er ohne Unterstützung anderer diese 20 Jahre nicht geschafft hätte. Angefangen mit den Leipziger Buchhändlerinnen und Buchhändlern (von denen es 2003 noch deutlich mehr gab als heute), die seine Bücher nur zu gern ins Regal stellten. „Das sind mal Bücher, die man auch verkaufen kann.“

Aber auch ein bisschen Glück gehört dazu. Manchmal einfach eine pfiffige Idee, so wie 2007, als er mit der Historikerin Doris Mundus darüber nachdachte, wie man eigentlichen einen guten Stadtführer gestalten könnte. „Die Anregung kam tatsächlich von Doris Mundus.“ Die wünschte sich einfach mal einen handlichen Stadtführer, den man in die Tasche stecken konnte, übersichtlich, mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten, die man so an einem Tag erkunden konnte. Denn meist hat man ja nicht mehr Zeit zur Verfügung, wenn man mal am Wochenende irgendwo hinfährt. „Da will man ja keinen dicken Band mitschleppen.“

Das Ergebnis war im Grunde ein Testballon: „Leipzig an einem Tag“. Keiner von beiden wusste, ob sich das verkaufen würde.

Der kleine Stadtführer verkaufte sich wie warme Semmeln. Die Idee war die richtige gewesen. Und was für Leipzig funktionierte, müsste ja auch für all die anderen Städte in Deutschland funktionieren, in die man so bei Gelegenheit einfach mal aus Neugier fährt. Mittlerweile ist der Lehmstedt Verlag bei diesen handlichen Stadtführern Marktführer in Deutschland. Jedes Jahr zu Beginn der Reisesaison kommen weitere Städte dazu – inzwischen etliche auch auf Englisch. Und sie sind zur tragenden Säule für den Leipziger Verlag geworden, den Mark Lehmstedt 2003 noch im schönen, beschaulichen Lindenau gegründet hatte. Dort, wo man noch nicht unbedingt glauben konnte, dass aus dem Aschenputtel Lindenau mal einer der beliebtesten Ortsteile für junge Familien werden sollte.

Feuer, Insolvenz, Pandemie: Jahre der Schütteltour

Seit zehn Jahren hat der Verlag seinen Sitz im Barthels Hof. Da ist auch Platz für sein Dreamteam, wie Mark Lehmstedt es nennt: Kristina Schulze und Mareike Bardenhagen und aktuell auch Annika Lippold als Praktikantin, die ihm einen gewaltigen Teil der Arbeit abnehmen. Was ihm seit einigen Jahren ermöglicht, wieder in seinem Lieblingsfach, der Buchwissenschaft zu arbeiten. Erst an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, seit 2019 als Privatdozent für Buch- und Mediengeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig. Da knallten natürlich die beiden Corona-Jahre voll hinein. Und nicht nur dort.

Denn diese beiden Jahre waren auch für alle Verlage – bis auf die Kinderbuchverlage – ein Härtetest. Die Stadtführer blieben im Lager liegen, weil Leute, die nicht reisen können, auch keine Stadtführer kaufen. Die reich illustrierten Bände blieben liegen, weil auch Museen, Museumsshops und Buchhandlungen oft über Monate dicht waren.

Die positiven Meldungen aus diesen Jahren: 2020 gab es für den Lehmstedt Verlag sowohl den Sächsischen als auch den Deutschen Verlagspreis. 2022 kam noch einmal der Sächsische Verlagspreis für die profunde Arbeit am guten Buch.

Dabei war die Corona-Zeit nicht einmal der erst Härtetest für ihn. 2013 brannte das Lager von LKG ab und ließ auch 100.000 Bücher aus dem Lehmstedt Verlag in Flammen aufgehen. 2019 folgte die Insolvenz von Koch, Neff & Oetinger Verlagsauslieferung GmbH (KNO VA). „Etwas, was man vorher nicht für möglich gehalten hat“, so Lehmstedt.

2016 hatte es schon das Urteil zur VG Wort gegeben, nach dem die Ausschüttungen der VG Wort nur noch Autoren zustünden. Bis dahin waren sie nicht nur bei Lehmstedt fester Bestandteil der Buchkalkulation gewesen, denn auch Lektorat, Korrektorat und Grafik müssen ja bezahlt werden. Und 2020 kam dann Corona. Da staunt selbst Lehmstedt, was für eine Schütteltour er mit seinem Verlag hinter sich hat.

Lebensmittel oder doch kein Lebensmittel?

Da driftet dann das Gespräch auf einmal ab in die nicht unwichtige Frage: Wie geht das nun weiter mit dem Buch? Wird das Buch als Kulturgut irgendwann verschwinden oder – wie im 18. Jahrhundert – wider zum Luxusgut für eine kleine Käuferschicht werden, die das auf Papier gedruckte Werk noch dankbar in Händen halten möchte?

Denn Corona hat ja, anders als anfangs prophezeit, die Umsätze der Verlage nicht in den Himmel schießen lassen. Im Gegenteil. Da viele Buchhandlungen geschlossen waren, haben die Menschen augenscheinlich angefangen, ihre heimischen Buchbestände zu lesen. Und bei den jüngeren Jahrgängen ist das Buch längst schon marginalisiert, verdrängt von den digitalen Endgeräten, die alle Aufmerksamkeit fressen.

Und augenscheinlich auch gehörig an der Lesekompetenz nagen. Jener Kompetenz, ohne die man in der Schule keinen Erfolg und in vielen modernen Berufen keine Zukunft hat. Das Buch als Lebensmittel.

Oder war das immer nur eine Illusion, dass Bücher als Lebensmittel gepriesen wurden? Unerlässlicher Einstieg in eine Wissensgesellschaft, in der Bildung der Schlüssel zum Erfolg und für ein gelingendes Leben ist?

Am Ende bleibt die Skepsis. Was wird das für eine Welt, in der die Leute nicht mehr belesen sind?

Eine triste Welt. Wie heute schon in vielen kleinen Städten Sachsens zu besichtigen ist, wo nicht nur die Buchhandlungen verschwunden sind, sondern auch die Bibliotheken.

Vielleicht sollte man gerade deshalb Bücher machen. Bücher für den Kopf und fürs Auge. Und für das unerlässliche Gefühl, Teil einer großen Geschichte zu sein. So wie das jüngste Buch aus dem Lehmstedt Verlag, das am Dienstag, dem 28. Februar, Premiere im Neuen Rathaus hatte: Clara Licht „Tagebücher 1882 – 1912“.

Eins dieser Bücher, die davon erzählen, wie Leipzig so geworden ist, wie es heute ist. Einige Titel aus dem Lehmstedt Verlag hatten gerade deshalb Erfolg, weil Leserinnen und Leser es eben doch wissen wollen. Was dann auch den ersten Bestseller aus dem Lehmstedt Verlag befeuerte: „Leipzig brennt“, erschienen gleich im ersten Verlagsjahr. Fotos von der Zerstörung Leipzigs im Jahr 1943, als mit dem Grafischen Viertel auch die Buchstadt in Flammen aufging.

Bücher helfen dabei, nicht zu vergessen.

Vielleicht sollte man sie deshalb nicht unterschätzen.

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Lieber Herr Lehmstedt, weiterhin viel Kraft und auch Freude in Ihrer verlegerischen Tätigkeit!
Germanistik-Grundkurs ’89

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