Wie ein Geist tauchte er immer wieder in Beiträgen zur Leipziger Geschichte auf: der erste und älteste der jüdischen Friedhöfe in Leipzig. Nur wer überhaupt weiß, wo er einmal lag, findet die wenigen übrig gebliebenen Mauerreste. Höchste Zeit, einmal seine Geschichte zu erzählen. Und das hat die Historikerin Katrin Löffler jetzt getan. Und noch viel mehr.

Denn sie hat alles, was an verfügbaren Aktenbeständen noch existiert, durchgearbeitet. Da kann ein ganzer Friedhof verschwinden – aber nicht die Aktenbestände zu seinem Entstehen, seiner Belegung und seiner Auflösung. So gesehen ist es durchaus etwas Gutes, dass Deutschland so ein bürokratisches Land ist.

Selbst die Säkularisierung eines Friedhofs muss genehmigt, geprüft und aktenkundig verbrieft werden. Auch im Jahr 1937, als ein paar städtische Akteure die Zeit gekommen sahen, diesen Friedhof im Johannistal auflösen zu können und an seiner statt eine Grünfläche anzulegen.

Misstraut den Grünflächen, schrieb einst Heinz Knobloch.

Die Gründung des jüdischen Friedhofs im Johannistal ist aufs engste mit der Entstehung der jüdischen Gemeinde in Leipzig verbunden. Und mit der Messe. Denn Messjuden, die vor allem aus Osteuropa kamen, gehörten schon seit Jahrzehnten wieder fest zum Bild der Leipziger Messen, als sie beim Leipziger Rat die Anlage eines eigenen Friedhofs in Leipzig beantragten.

Vorher hatten sie ihre Toten immer nach Dessau oder Prag überführen müssen. Und das war teuer, zeitweilig schien da so mancher Leipziger Angestellte sogar richtig Geld machen zu wollen, wenn er den Trauernden überhöhte Überführungskosten in Rechnung stellte.

Die wichtige Rolle der Messjuden

Doch diese Praxis war schon Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr tragbar. Die Zahl der Messjuden war im Lauf der Zeit immer weiter gestiegen und zunehmend wurden Juden auch wieder in Leipzig sesshaft. Doch es waren die Messjuden, die 1798 erstmals den Antrag stellten, in Leipzig die Fläche für einen Friedhof zu bekommen.

Das scheiterte nicht am Rat der Stadt, der den jüdischen Kaufleuten, die für das Blühen der Messe unersetzlich waren, sehr wohlwollend gegenüberstand. Es dauerte dann trotzdem noch bis nach der Völkerschlacht, bis sich dreißig Juden aus Brody wieder an den Rat wandten und einen eigenen Friedhof in Leipzig beantragten.

Der Rat befürwortete das Anliegen. Und im Oktober 1814 war das Gelände dann im Johannistal gefunden – damals noch vor den Toren der Stadt gelegen, direkt an der Sandgasse, die zur einstigen Leipziger Kiesgrube im Johannistal führte.

Hier pachteten sie ein damals für ausreichend befundenes Gelände vom Johannishospital. Und noch im selben Jahr gab es die erste Beerdigung. Bis 1864 wurde der Friedhof genutzt. Dann war er gänzlich belegt und die jüdischen Begräbnisse fanden fortan auf einem neuen, viel größeren Friedhof an der Berliner Straße statt.

Der Friedhof im Johannistal wurde zu einem sehr stillen, verborgenen Ort, der auf Besucher auch einen gewissen poetischen Eindruck machte. Was auch ein Glücksfall ist, denn es sind Zeitschriftenbeiträge, die nicht nur ein Stimmungsbild dieses Friedhofs überlieferten, sondern auch Bilder aus der Zeit, als er noch ungestört und unzerstört war.

Wenn Kleingärtner sich beschweren

Und es ist durchaus möglich, dass er unberührt geblieben wäre, hätten sich die Kleingärtner im Johannistal 1937 nicht beim Rat der Stadt über eine eingestürzte Mauer beschwert. Eine Beschwerde, die dann Dinge ins Rollen brachte, von denen Katrin Löffler annimmt, dass sie so gar nicht gewollt waren.

Aber warum beschweren sich Kleingärtner bei einer Stadtverwaltung und nicht bei den Pächtern des Friedhofs?
Die Frage bleibt trotzdem stehen.

Löffler beschreibt dann akribisch den amtlichen Werdegang von der offiziellen Besichtigung bis zum Antrag ans Ministerium in Dresden, den Friedhof säkularisieren zu dürfen, den die Stadtverwaltung stellte.

Auch wenn sich die jüdische Gemeinde mit Einsprüchen zu wehren versuchte. Doch 1937 saß sie längst am kürzeren Hebel. Ihr Pachtvertrag wurde gekündigt und die Gemeinde aufgefordert, die Gebeine umzubetten. Was auch geschah.

Heute liegen die geborgenen Gebeine alle auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in der Delitzscher Straße. Auch 19 Grabsteine konnten geborgen und hier aufgestellt werden.

Aber Löffler belässt es nicht bei dieser Friedhofsgeschichte, sondern skizziert auch das Werden der Leipziger jüdischen Gemeinde, geht auf die jüdische Beerdigungspraxis ein und rekonstruiert die Namen der einst im Johannistal Beerdigten.

Etwas, was die Ratsleichenbücher ermöglichen, auch wenn manche Angaben Rätsel aufgeben. Aber da in diesen Büchern auch die Konfession der Verstorbenen verzeichnet war, konnte Katrin Löffler sogar eine ziemlich komplette Liste jener Menschen rekonstruieren, die auf dem alten jüdischen Friedhof ihre Ruhe fanden.

Zu einer Handvoll von ihnen kann sie sogar kleine Biogafien schreiben, weil sie auch in anderen Aktenbeständen der Stadt auftauchten und so ihre Stellung in der Gesellschaft, ihre Tätigkeit und ihre wirtschaftliche Lage greifbar werden.

Zeit für das Erinnern

Kein Wunder, dass Bernd-Lutz Lange, Sven Trautmann und Thomas Feist, die dem Buch ihre Vorworte beisteuerten, ziemlich überrascht und froh darüber waren, was Katrin Löffler da mit wissenschaftlicher Akribie alles herausgefunden hat.

Was andererseits ohne die Unterstützung durch die Stadt, insbesondere das Referat für Internationale Zusammenarbeit, so gar nicht möglich gewesen wäre. 2020 war das, als eine Anfrage von Martin Stern aus Jerusalem das Referat dazu anregte, die Geschichte des fast vergessenen Friedhofs aufarbeiten zu lassen.

Inzwischen hat sich die Verwaltung ja auch vorgenommen, 2029 eine Gedenktafel am einstigen Standort des Friedhofs anbringen zu lassen. Zum 215. Geburtstags des Friedhofs.

Stellungnahme der Stadt zu einer Gedenktafel für den alten jüdischen Friedhof.

Dann gibt es zumindest einen Ort, den alle besuchen können, die sich für diese frühe Geschichte der Leipziger jüdischen Gemeinde interessieren. Das Buch dürfte viele Leserinnen und Leser anregen, sich damit etwas ausgiebiger zu beschäftigen. Auch mit den Menschen, die hier beerdigt wurden.

Denn das, was Katrin Löffler den Rastsleichenbüchern entnehmen konnte, erzählt auch von den Lebensbedingungen im frühen 19. Jahrhundert. Denn beerdigt wurden hier nicht nur hochbetagte Mitglieder der Gemeinde. So manches Schicksal erzählt davon, dass auch die beschwerlichen Fahrten der zu Messen fahrenden Juden ihren Tribut forderten.

Viele der hier Beerdigten sind – aus heutiger Perspektive gesehen – jung gestorben. Selbst das erste Begräbnis galt einem elf Monate alt gewordenen Jungen. Aber auch viele junge Menschen im Alter von 18, 24, 33 Jahren usw. fanden hier ihre Ruhe. Oft kann man nur vermuten, was der Grund für ihren frühen Tod war.

Und die damals noch kaum behandelbaren Seuchen gehörten ganz bestimmt dazu. Möglicherweise auch Armut, wie Katrin Löffler anführt, denn viele jüdische Menschen kamen augenscheinlich auch deshalb zu den Messen nach Leipzig, weil dann auch die reichen jüdischen Kaufleute hier waren, die man um Almosen bitten konnte.

… und dann doch keine Grünanlage

So ganz nebenbei wird auch deutlich, dass diese Handelsstadt im frühen 19. Jahrhundert tolerant war. Man respektierte die Beerdigungspraxis andersgläubiger Gemeinschaften, versuchte sie lediglich den Hygienegesetzen des Landes zu unterwerfen, was ebenfalls amtlichen Niederschlag fand, aber letztlich in Einvernehmen mündete.

Immerhin bemerkenswert, weil andererseits kaum ein anderes Land innerhalb Deutschlands bei der Gesetzgebung für jüdische Bürger noch so konservativ war wie Sachsen.

Das ist eine Passage, die einen doch aufmerken lässt, denn in gewisser Weise erkennt man da das tief konservative Sachsen der Gegenwart wieder, ein Land, das in seinem Kern immer eines der konservativsten Länder im Deutschen Bund war. Und das seit über 200 Jahren.

So nebenbei erzählt Katrin Löffler aber auch die Geschichte der Messjuden, kann aber auch Bilder präsentieren, wie der Friedhof nach der Umbettung aussah. Ein kahles Feld gleich hinter der Sternwarte der Universität, das dann doch nicht zur öffentlichen Grünfläche wurde und heute Teil der Kleingartenanlage ist.

Die Inschriften der auf dem Neuen jüdischen Friedhof wieder aufgestellten Grabsteine werden für die Leser so weit wie möglich entschlüsselt. Und mit den Daten aus den Ratsleichenbüchern kann Löffler auch Jahr für Jahr jene Personen identifizieren und in einer großen Liste versammeln, die im Johannistal beerdigt wurden.

Und da dort auch ihre Herkunftsorte angegeben sind, sieht man hier Spalte um Spalte, wie stark Leipzigs Messegeschehen damals nach wie vor von den anreisenden Messjuden aus Chelm, Brody, Kalisch, Lemberg usw. geprägt war. Aber man findet auch Begrabene mit Herkunft aus westlichen Ländern darunter.

Und natürlich auch jene Kaufleute, die damals schon fest in Leipzig siedelten und dann jene großen, wohltätigen Familien begründeten, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Leipzigs Aufstieg zur blühenden Industrie- und Handelsstadt mit prägen sollten.

Dieser fast vergessene Friedhof ist mit diesem Buch gründlich dem Vergessen entrissen worden. Wer immer wissen möchte, wie er aussah und wer hier einst begraben wurde, wird in diesem Buch fündig werden. Und damit ist auch eine große Lücke sowohl in der Leipziger Geschichte als auch der der jüdischen Gemeinde geschlossen worden.

Katrin Löffler Leipzigs alter jüdischer Friedhof im Johannistal Lehmstedt Verlag, Leipzig 2022,22 Euro.

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