Die Reste der industriellen Vergangenheit sind überall in Leipzig noch zu sehen. Auch wenn dort keine Schornsteine mehr rauchen und kein Maschinenlärm mehr dröhnt. Die meisten dieser eindrucksvollen Fabrikbauten wurden längst umgebaut zu modernen Wohnanlagen. Dass hier einmal namhafte Unternehmen wirtschafteten, sieht man den Gebäuden nicht mehr an. Schon gar nicht, wie das alles mal aussah, als die Schornsteine tatsächlich noch rauchten.

Da helfen oft nicht einmal alte Karten oder Stadtansichten. Dafür gibt es eine bislang noch gar nicht erschlossene Fundgrube, der sich jetzt der Lehmstedt Verlag und die Stadterforscherin Sabine Knopf gewidmet haben. Sabine Knopf kann ein Lied davon singen, wie aufwendig es ist, die Firmengeschichte all der im Stadtgebiet stehenden prächtig sanierten Klinkerbauten zu erforschen.

Denn das Thema ist – wie sie im Vorwort feststellt – noch kaum bearbeitet und deshalb auch kaum im Fokus der regionalen Geschichtsschreibung.

Feldforschung zu Fuß

Eine gewisse Vorarbeit hat die studierte Germanistin ja schon selbst geleistet. Etwa mit dem 2011 im Links-Verlag erschienene Reiseführer „Buchstadt Leipzig“, der im Grunde ein Stadtführer durch das (ehemalige) Grafische Viertel mit all seinen einst weltberühmten Verlagen, Druckereien und Sortimentern ist.

Als das Grafische Viertel 1943 in Feuer aufging, verbrannte damit auch die Buchstadt Leipzig. Und wahrscheinlich verbrannten auch tausende druckfertige Firmenbriefbögen, von den Archiven der hier ansässigen Unternehmen ganz zu schweigen.

Und trotzdem machte sich Verleger Mark Lehmstedt daran, alles zu sammeln, was irgendwo noch an Briefbögen Leipziger Unternehmen aus der Zeit bis 1945 existiert. Seine Sammlung dieser Geschäftspost hat er gerade erst – so wie seine Sammlung von Buchtüten – dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum übergeben.

Das Besondere an dieser Sammlung ist das Augenmerk auf die im Briefkopf abgebildeten Fabrik- und Firmengebäude. Diese Grafiken sind oft überhaupt die einzige bildliche Darstellung, die es von diesen einst ganze Stadtviertel prägenden Fabriken gibt. Gerade wenn man an das Grafische Viertel denkt, wo Dutzende dieser einst qualmenden und lärmenden Hallen in der Bombennacht von 1943 in Schutt und Asche fielen und in den Folgejahren völlig aus dem Stadtbild verschwanden.

Wer heute durchs Grafische Viertel läuft, findet nur noch wenige anschauliche Beispiele dieses einst kompakten und geschäftigen Bücherviertels.

Rund 250 solcher oft grafisch exzellent gearbeiteten Darstellungen von einstigen Leipziger Firmengebäuden hat Lehmstedt gefunden – und natürlich ruft der Verleger auf, ihm weitere Exemplare zu schicken, falls jemand über solche Fundstücke verfügt. Denn da sonst oft überhaupt keine bildlichen Darstellungen dieser Unternehmen mehr existieren, sind es einmalige Fundstücke mit historischem Wert.

Das wird erst richtig klar, wenn man die kleinen Beiträge von Sabine Knopf dazu liest, die zu jeder dieser Firmen die verfügbaren Daten aus dem Sächsischen Wirtschaftsarchiv, dem Stadtgeschichtlichen Museum und dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum zusammengetragen hat.

Was natürlich bei großen, weltberühmten Unternehmen wie Pittler, Krause, Brehmer oder Tittel & Krüger etwas leichter fällt als bei einst renommierten Namen, die aber keine Spuren in der Stadtgeschichtsschreibung hinterlassen haben.

Und sie ist nicht nur in die Archive gegangen und hat Adressbücher aus dieser Zeit gewälzt, um die Inhaber und die Geschäftstätigkeit der jeweiligen Firmen dingfest zu machen. Sie hat sich auch – wie zuletzt bei ihrem Stadtteilführer zu Stötteritz – wieder auf die Socken gemacht und vor Ort nachgeschaut, was eigentlich von den einst prachtvollen Fabrikanlagen erhalten geblieben ist.

Das ist oft der spannendere Teil der Firmengeschichte, auch wenn es durchaus auf eine Menge Forschungsbedarf hindeutet, wenn die Autorin zwar das Verschwinden der Firmen aus den Adressbüchern anmerken kann, aber nicht sagen kann, warum die Firma erloschen ist.

Von den Zeitenwechseln verschlungen

Denn manche dieser einst berühmten Firmen hat die Weltwirtschaftskrise von 1929 verschlungen, manche fielen der „Arisierung“ der Nationalsozialisten zum Opfer, andere überstanden die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges nicht. Wieder andere endeten im Enteignungsgeschehen der frühen DDR. Oft erzählten nur noch die rostenden Firmennamen an zunehmend verfallenden Werkhallen von den einstigen Besitzern.

Aber das Erstaunliche ist, wie viele dieser eigentlich für große Maschinenbatterien und Dampfmaschinen erbauten Hallen trotzdem überlebt haben, in ihrer Substanz so robust, dass sie in den letzten Jahren mit etwas Aufwand in teils sehr komfortable Wohnanlagen, Bürogebäude und Seniorenheime umgewandelt werden konnten.

Manche harren noch eines Investors, der ihnen wieder Leben einhaucht. Manchmal sind Teile der alten Fabrikanlage abgerissen worden, andere neu genutzt worden. Und die Leser/-innen werden durchaus überrascht sein, wenn sie hier merken, dass Leipzig nicht nur ein einziges Industriequartier im Leipziger Westen hatte – jene von Carl Heine initiierte Industrielandschaft in Plagwitz, Schleußig, Lindenau und Kleinzschocher.

Die findet man in diesem Buch geballt im Kapitel „Südwesten“ – ganz am Ende des Buches.

Die Briefköpfe mit den einstigen Industrie- und Gewerbebauten im Kopf verweisen die Suchenden auf das ganze Leipziger Stadtgebiet. Und nicht ganz grundlos beginnt das Buch mit der Innenstadt und den inneren Vorstädten, einem Gebiet, zu dem nun einmal auch das Grafische Viertel gehörte.

Aber hier standen auch die berühmten Hotels, Konfektionshäuser, Versicherungs- und Bankhäuser. Hier hatte auch so mancher Großhändler seine Büros und manch berühmte Firma ihre Geschäfte – von Eulitz-Strumpfwaren bis zu Schirmer-Kaffee.

Sogar in der Südvorstadt

Die Briefköpfe mit Firmendarstellungen sind trotzdem nur eine kleine Auswahl. Nicht alle Firmen nutzten die Gelegenheit zur Eigenwerbung derart anspruchsvoll und ließen sich ihren Firmensitz von professionellen Künstlern stechen und in den aufwendig gestalteten Briefkopf einarbeiten.

Aber die es sich leisteten, hinterließen damit eben auch ein Bild von ihrem Gewerbe, das heute oft die einzige Spur in das geschäftige Leipzig vor 100 Jahren ist. Und da rauchen die Schornsteine eben nicht nur in Plagwitz oder im Grafischen Viertel, sondern auch im Leipziger Norden von Gohlis und Eutritzsch bis nach Schönefeld und Paunsdorf.

Man findet die alten Fabriken sogar in Wohnquartieren, in denen man heute nicht mehr vermuten würde, dass auch hier die schwer beladenen Pferdefuhrwerke rollten, die Essen qualmten und die Hinterhöfe mit Gewerbelärm erfüllt waren.

Beispielhaft kann man das etwa in der Südvorstadt erleben, wo man auch heute noch viele alte Fabrikgebäude selbst in Hinterhöfen findet – längst umgebaut, freilich zu Wohnanlagen. Oder ersetzt durch neuere Wohnbebauung wie in der Shakespearestraße, in der sich einst ein Unternehmen ans andere reihte – natürlich befördert durch die Tatsache, dass der Bayerische Bahnhof gleich um die Ecke lag und man die produzierten Güter gleich zur Verladerampe bringen konnte.

Was dann auch die Ballung von Fabriken rund um den Eutritzscher Freiladebahnhof deutlich macht oder die an der Eilenburger Straße am einstigen Eilenburger Bahnhof. Es war ja nicht nur der von Carl Heine erschlossene Westen, der von direkten Gleisanschlüssen profitierte. Denselben Effekt sieht man heute noch an der Riesaer Straße oder bei den Gewerbegebieten in Leutzsch.

Misstraut den Grünflächen

Und bei jeder einzelnen Firma erzählt Sabine Knopf eben auch, was heute von den abgebildeten Gebäuden noch zu sehen ist. Oder eben nicht, etwa bei der einst in der Elisenstraße (heute Bernhard-Göring-Straße) heimischen Verlagsbuchhandlung Lange & Meuche: „Das Verlagshaus fiel 1943 einem Bombenangriff zum Opfer.“

Heute stehen da neu gebaute Wohnblocks der LWB. Man braucht schon sehr viel Phantasie, sich hier diesen doch nicht gar so kleinen Verlagskomplex vorzustellen. Genau dasselbe mit Otto Nuschkes Buch- und Steindruckerei in der Zeitzer Straße 35 (heute Karl-Liebknecht-Straße).

Ein Firmenbrief, der schon deshalb etwas Besonderes ist, weil der Sohn des Firmengründers Gustav Otto Nuschke ebenfalls Otto Nuschke hieß und es in der DDR bis zum stellvertretenden Ministerpräsidenten brachte.

Wo Nuschkes Druckerei ausgebombt wurde, entstand eine der frühesten Plattenbauten in Leipzig – und steht immernoch an der Grünfläche gleich gegenüber vom Volkshaus.

Wenn man sich durch das Buch blättert, bekommt man tatsächlich einen Eindruck vom betriebsamen Leben in Leipzig vor 100 Jahren, auch wenn man beim täglichen Spaziergang gar nicht mehr ahnt, dass hier einmal Fabriken standen mitten in belebten Wohnvierteln.

Da gilt wieder der schöne Satz von Heinz Knobloch: „Misstraut den Grünflächen!“ Dieser Feuilletonist hätte an diesem Buch ganz bestimmt seine Freude gehabt. Und beim Umblättern natürlich eine herrliche Lust darauf bekommen, sich mit einzelnen dieser fast vergessenen Firmen und ihren Inhabern etwas näher zu beschäftigen.

Spätestens bei Otto Nuschke wäre er hellhörig geworden. Denn der war eben nicht nur später mal stellvertretender Ministerpräsident, sondern auch ein Kollege als Redakteur bei der „Hessischen Landeszeitung“ und später beim „Berliner Tageblatt“. Und er hatte Kontakt zu den Attentätern des 20. Juli 1944.

Da müsste man doch mal lesen, was er so geschrieben hat, hätte sich ein Heinz Knobloch gesagt. Denn in der Deutschen Nationalbibliothek müsste es ja auch noch die Ausgaben des „Berliner Tageblatts“ geben, das 1939 sein Erscheinen einstellen musste. Nur so als Nebengedanke. Denn wenn keiner losgeht und nachschaut, wird auch keiner die Geschichte erzählen.

Das ist der große Reiz an so einem Buch mit scheinbar ganz gewöhnlichen Geschäftsbriefköpfen, die auf einmal ihre Geschichten erzählen, wenn eine fleißige Spaziergängerin wie Sabine Knopf loszieht und sich den Ort des Geschehens einmal von Nahem beschaut.

Dazu genau regt dieses Buch an. Und so Mancher, der sich bislang nur über die schönen gelben Klinker seiner Wohnanlage freute, wird hier die Vorgeschichte seines Zuhauses finden. Kurz und knapp. Denn nur so haben fast 250 einst renommierte Leipziger Unternehmen in diesem dicken Buch ihren Platz gefunden.

Sabine Knopf Als die Schornsteine rauchten Lehmstedt Verlag, Leipzig 2022, 30 Euro.

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