Sie sehen aus wie ernste kleine Piloten, wenn sie mit ihren bunten Helmen bei Papa oder Mama auf dem Rad mitfahren, stolz wie Bolle. Und das ist richtig so. Denn ihre Eltern wissen, wie verletzlich dieses Köpfchen ist und das, was darin leuchtet und lacht und quiekst. Denn was wir als Persönlichkeit sind und werden, das passiert in unserem Kopf. Da ist die Frage spannend: Ab welchem Alter lassen sich Kinder auch auf diese spannende Erkundungstour im „Hotel zum Oberstübchen“ ein?

Eine Altersempfehlung hat der Klett Kinderbuch Verlag nicht draufgeschrieben aufs Buch. Die Texte, die Marja Baseler und Annemarie van den Brink formuliert haben (und Meike Blatnik aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt hat) wenden sich im Grunde an ein junges Lesepublikum, warten auch mit kleinen Fragekatalogen und vielen Ratschlägen auf, die die kleinen Leser/-innen dazu animieren, sich auch über ihre eigene Persönlichkeit Gedanken zu machen.

Denn just in der Zeit, in der man als Knirps noch denkt, doch eigentlich nur ein ganz normales Menschenkind zu sein, fangen die Verwirrungen an, die dann ein Leben lang nicht aufhören. Man nimmt sehr verdutzt wahr, dass sich andere Kinder anders verhalten, seltsam manchmal, oder einfach nur forscher, vorlauter, ängstlicher, eigensinniger …

In der Grundschule wird einem langsam klar, dass man zwar in der tollsten Klasse gelandet sein kann, aber auf einmal differenziert sich die ganze Klasse aus – gibt es Rabauken und echte Kumpel, Abenteuerlustige und Schweigsame, Vordrängler und Verunsicherte. Und kein Mensch erklärt einem, warum das so ist, warum sich alle anders verhalten und was das mit dieser „superschnellen Schaltzentrale“ zu tun hat, die wir in unserem Kopf haben und für die es so viele verschiedene Worte gibt.

Man staunt geradezu, wie viele Redewendungen es sogar gibt. Und wie viel Wissen, das auch schon unsere Großeltern und Urgroßeltern hatten – vom „kühlen Kopf bewahren“ übers „Hirnschmalz“ bis zum „Er ist nicht auf den Kopf gefallen“. Wie verletzlich der Kopf ist, gehört zum Erfahrungsschatz vieler Generationen. Aber was da genau passiert und wie viel das eigentlich ist, das hat erst die moderne Hirnforschung nach und nach kartiert. Aber wie kann man das in einem Bilderbuch zeigen?

Marja Baseler und Annemarie van den Brink lassen ihre Figuren – die Familie Stein, die Omas und Opas 50. Hochzeitstag feiern möchte – in eine von Tjako van der Pol gezeichnete Bilderwelt reisen – genauer: ins „Hotel zum Oberstübchen“. Das ja alle kennen, weil Oberstübchen einer der bildhaftesten Begriffe für unser Gehirn ist.

Und in diesem Buch machen sich die Kinder sogar richtig auf die Erkundung all der Räume in den oberen Etagen des „Hotels zum Oberstübchen“, finden dort Dinge, stoßen auf Rätsel, lernen aber vor allem, warum ihr Leben und ihre Persönlichkeit so viele Aspekte hat und warum vom Gehirn aus alles gesteuert wird und welche Rolle dabei die Nervenzellen spielen, das Rückenmark und die Nervenbahnen.

Man merkt schnell, dass das Buch eine Fortsetzung des Vorgänger-Buches „Die Kackwurstfabrik“ ist, in dem die drei Künstler/-innen erzählt haben, was mit dem Essen in unserem Körper passiert, der ja ein richtiger Kosmos herrlich funktionierender Dinge ist, die alle zusammen ein ganzes Menschenkind ausmachen. Das natürlich anfangs gar nichts weiß darüber, wie das alles funktioniert. Und in der Schule wird es auch erst sehr spät behandelt – und dann oft sehr trocken und formelhaft.

Obwohl es ein Abenteuer ist. Das weiß doch jeder. Alle Abenteuer passieren in unserem Kopf. Und das ganz und gar nicht ordentlich in Zimmern und Stübchen. Deswegen sind die vier Seiten, mit denen die Landkarte unseres Gehirns erklärt wird, nicht ganz unwichtig. Wo hat eigentlich das Turnen, das Jonglieren, das Neugierigsein und das Träumen seinen Platz? Hat es überhaupt nur einen Platz, so wie das Essen und Schlafen im „Hüpo-ta-la-muss“ und das Klettern ohne zu fallen im Kleinhirn?

In unserem Gehirn steckt ja unsere ganze Entwicklungsgeschichte. Und unsere unterschiedlichen Denk- und Empfindungswelten sind im Gehirn ganz unterschiedlich lokalisierbar – obwohl die Forscher auch dabei so ihre Zweifel haben, denn vor allem ist unser Gehirn ja ein gewaltiges Geflecht aus Nervenzellen, die über Milliarden Verbindungen miteinander verknüpft und verbandelt sind.

Und weil das so einfach auch als Grundschulkind noch nicht zu verstehen ist, geht es ab Seite 16 auf Erkundungstour durchs Hotel und lernen die kleinen Leser/-innen scheinbar so seltsame Dinge kennen wie den „Kontrollraum“, den „Traumsaal“, das „Atelier“ und den „Entspannungsraum“ – alle ordentlich in die beiden verschiedenen Gehirnhälften verteilt, sodass die Kinder immerfort die Seite und die Etage wechseln und dabei immer neue Welten kennenlernen. Und nicht nur das.

Marja Baseler und Annemarie van den Brink spicken jeden Raum auch mit kleinen, wichtigen Ratschlägen, denn sie wissen sehr genau, wie wichtig es ist, Kindern zu vermitteln, dass sie sich selbst etwas Gutes tun und stärker und klüger werden, wenn sie „ihren Denkapparat am Laufen halten“, „Kopfgymnastik betreiben“, Mut zum Fehlermachen und Lernen haben.

Denn das Gehirn ist hungrig nach Erfahrungen und lernt aus Fehlern. (Was unsere heutigen Kultusminister noch immer nicht begriffen haben – ihr Bildungssystem ist ein System, das Fehler bestraft und Kindern den Mut zum Ausprobieren und Neugierigsein austreibt. Aber wem sag ich das? Kultusminister lesen keine Bücher. Auch keine Kinderbücher.)

Dabei brauchen unsere „grauen Zellen“ gerade in jungem Alter richtige Aufgaben, Knobel- und Ausprobieraufgaben. Und den Ansporn, es immer wieder neu zu probieren, wenn es nicht gleich klappt – egal, ob es Handstand ist, Gesichter malen oder Matheaufgaben lösen. Unser Kopf ist „immer aktiv und arbeitet pausenlos“. Kinder wissen das. Immerzu suchen sie nach neuen Herausforderungen, sind neugierig und unersättlich nach immer neuen Geschichten und Abenteuern. Und dann sollen sie stundenlang stillsitzen …

Aber unser Gehirn braucht auch Schlaf. Wobei ja nicht das Gehirn schläft, sondern wir. Das Gehirn arbeitet weiter – räumt auf, sortiert. „Schlaf dich schlau“ ist die Devise. Und es räumt so wild auf, dass daraus genau die wilden Träume entstehen, über die wir morgens so staunen. Denn unser Kopf ist auch ein Traumtheater, zu kreativen Abenteuern fähig genauso wie zum knallharten logischen Denken. Wenn es nicht gerade an irgendwelchen elektronischen Geräten hängt.

Die sind nicht wirklich gut fürs Träumen und Nachdenken, schon gar nicht, wenn der kleine Mensch stundenlang davor sitzt und sich nicht bewegt. Deswegen gibt es in dieser Geschichte ganz viel Bewegung, denn das junge Gehirn braucht (eigentlich genauso wie das ältere) jede Menge frischer Luft (oder eben Sauerstoff, denn es ist das Organ, das in unserem Körper die meiste Energie verbraucht). Und es braucht die Bewegung, damit beide Gehirnhälften gefordert werden. Und da wir ein Lebewesen sind, das zum Laufen gemacht ist, wird unser Gehirn durch Bewegung erst so richtig auf Touren gebracht.

Und es braucht die Herausforderung. Auch im Alter. Denn Demenz ist ja nicht nur eine Krankheit, sie ist oft auch Folge fehlender Beanspruchung: Man darf ein Gehirn nicht in den Ruhestand schicken, dann hört es nämlich auf, seine Nervenzellen zu trainieren und fit zu halten.

Natürlich bekommen die Kinder in der Geschichte heraus, welches das Geheimnis im „Hotel zum Oberstübchen“ ist. Aber damit endet das Buch nicht: Danach gibt es noch einen ganzen Schwung Knobelaufgaben, Tipps zum gesunden Essen und Trinken („Füttere dein Gehirn!“) und ein paar kleine Tests, mit denen die jungen Leser/-innen herausbekommen können, was für Persönlichkeiten sie schon sind – Macher oder Denker, neugierig oder hochemotional. Haben sie schon alle Möglichkeiten ihres Gehirns ausprobiert und geübt? Oder ist der Test ein Ansporn, es jetzt richtig zu versuchen?

Denn viele Erwachsene haben diesen wertvollen Moment leider verpasst, weil ihnen niemand gesagt hat, dass es an ihnen selbst liegt, was sie aus diesem herrlichen Gehirn eigentlich alles machen können – also aus sich. Sie stecken in traurigen Schleifen fest, haben Angst vorm Leben, finden neue Herausforderungen immer zu schwierig … Sie merken schon: Das hat erstaunlich viel mit dem zu tun, was derzeit draußen auf den Straßen passiert.

Wie kann man den Spaß daran entdecken, sich wirklich kniffligen Problemen zu stellen? Wie kann man sich selber stark machen, wenn man gerade miese Laune hat und nicht weiß, wie man da jetzt wieder rauskommt? Es gibt Gedanken, die helfen, und solche, die überhaupt nicht helfen.

So gesehen ist es auch ein Motivationsbuch für Eltern, die ihren Kindern wirklich zeigen wollen, wie sie starke und selbstbewusste Persönchen werden. Und wie sie in ihrem Leben mit Schwierigkeiten umgehen können. Und während Test Nr. 3 zur Hirngymnastik (und zur eifrigen Benutzung beider Gehirnhälften) animiert, geht es im vierten Test reineweg darum, die eigenen Talente herauszufinden. Denn wer weiß, was er oder sie gut kann und was er oder sie gern macht, weiß auch, wo es sich lohnt, sich wirklich häufiger dranzumachen und zu üben und zu üben, bis man noch besser wird.

Denn zum Abenteuer des Lebens gehört nun einmal auch, dass man sich selbst zu Höchstleistungen anspornt – am besten da, wo es einem auch am meisten Spaß macht.

Und wer dieses „selbst“ ist, weiß man nach dem Durchblättern des Buches auch. Denn was wir sind und fühlen und wollen, das steckt alles im „Hotel zum Oberstübchen“. Ein Hotel, das sich wirklich lohnt, gemeinsam zu entdecken.

Marja Baseler, Annemarie van den Brink, Tjako van der Pol Das Hotel zum Oberstübchen, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2020, 15 Euro.

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