Nein, versöhnt war er mit diesen Deutschen ganz bestimmt nicht, als er am 27. Februar 1946 als Zeuge der sowjetischen Anklage im Nürnberger Prozess aussagte. Dazu hatte der jiddische Dichter Avrom Sutzkever zu viel erlebt. Er gehörte zu den wenigen Überlebenden des Wilnaer Gettos und hatte zusehen müssen, mit welchem Sadismus die deutschen Eroberer darangingen, die 80.000 Juden in der Stadt zu ermorden. Das Buch enthält nicht nur seine Tagesaufzeichnungen vom Flug nach Deutschland.

Es enthält auch eine Übersetzung seiner Aussage im Nürnberger Prozess. Und es enthält die Gedichte, die auf diesem Ausflug ins Reich des Bösen entstanden sind, das er als ein einziges Sodom empfindet. Von Bestien bewohnt. Denn als Bestien hat er sie erlebt, die Feldkommandanten, NS- und SS-Führer und ihre Häscher, die den von Hitler entfesselten Krieg als Erlaubnis zu allen Grausamkeiten verstanden.

Das Erschütternde steht eigentlich in den Anmerkungen am Ende des Buches, denn diese Leute, die vor aller Augen mordeten und ihre Grausamkeiten mit bürokratischer Trockenheit verbrämten, bekamen nach dem Krieg oft nur geringe Haftstrafen, wurden frühzeitig entlassen und profitierten auch davon, dass der systematische Mord an den Juden auch im Westen lange Zeit nicht in der grausamen Dimension gesehen wurde, die er tatsächlich hatte.

Was eben auch daran lag, dass in Ämtern und Gerichten nach wie vor viele Mitläufer und Mittäter der Nazi-Zeit saßen. Sie prägten den Geist der Nachkriegszeit und erst spät sorgten Filme, Dokumentationen und Bücher dafür, dass die ganze Brutalität dieser systematischen Tötung jüdischer Menschen wirklich Teil des öffentlichen Bewusstsein wurde.

Und damit auch die Dimension der Entmenschlichung, die hier betrieben wurde – von Staats wegen, wie man schreiben muss. Denn mit Hitler und Konsorten kam in Deutschland etwas an die Macht, was alle Regeln humanen Zusammenlebens außer Kraft setzte und Mordlust und Sadismus entfesselte.

Avrom Sutzkevers Flug über Kiew, Landsberg und Berlin nach Nürnberg war seine einzige Reise, die er je nach Deutschland unternahm. Die Texte, die der Berliner Künstler Arndt Beck hier versammelt und illustriert hat, zeigen komprimiert jene zwei Wochen, in denen Sutzkever erst auf den Anruf wartete, ob er im Flugzeug nach Deutschland sitzen würde, und in denen er dann dieses Deutschland erlebte – die zerbombten Städte Berlin und Nürnberg, das Warten auf die Aussage im Prozess, den gerade einmal halbstündigen Auftritt, wo er den Verantwortlichen für das große Morden direkt Auge in Auge gegenüberstand und wusste, dass seine Aussage eine eigene Anklage war. Eine, die nach Nürnberg nicht beendet wäre.

Denn dass die Erben der einstigen Mörder so gern leugnen, dass es den Holocaust gab, hat eben auch damit zu tun, dass die wirkliche Aufarbeitung erst Jahre später kam. Und dass auch die deutschen Medien lange nicht damit umgehen konnten, was nun einmal deutsche Chargen bei ihren Mordzügen durch Europa angerichtet hatten. Wie kann man sich eigentlich noch wohlfühlen in seinem Land, wenn solche Leute zwölf Jahre lang regieren durften und derart offen ihre Mordlust austoben konnten an anderen Menschen, denen sie jede Würde nahmen und jedes Recht auf Leben?

Denn dahinter lauert die Frage: Wie geht man mit solchen Leuten um, die auch heute noch ganz ähnlich denken und die diese Verachtung anderer wieder zu Politik machen wollen? Ist da etwas kaputt in unserem Land? Stimmen unsere ganzen Selbstbilder nicht? Fehlt uns das simpelste Mitgefühl für das Leid anderer Menschen? Wie leicht ist es, die Mitmenschlichkeit mit Stiefeln zu treten, wenn man nur genug Leuten einredet, dass sie etwas Besseres sind als andere?

Und das dann auch noch hinter Phrasen versteckt. Was Sutzkever schon 1946 so empfand, als er vorm Nürnberger Tribunal aussagte und sich in einem Gedicht Gedanken macht darüber, welchen Sinn das Verlangen nach Gerechtigkeit eigentlich hat, wenn die Millionen Ermordeten diese Gerechtigkeit nicht mehr erfahren können?

Es ist ein nicht unwichtiger Perspektivwechsel, zu dem Sutzkevers Texte zwingen. Denn mit ihm schlüpft auch der heutige Leser wieder in die Rolle der Machtlosen, denen ja – von Staats wegen – alle Rechte genommen wurden. Die damit auch wehrlos gemacht wurden, wenn es ihnen nicht glückte – wie Sutzkever – den Mördern noch gerade so zu entfliehen und in den Naroczer Wäldern unterzutauchen.

Nur so konnte er zum Zeugen werden und für jene sprechen, die er hatte sterben sehen. Nur so konnte er dem Erleben dieses kaltblütigen Mordens Bilder geben, seine Gefühle in Gedichte fassen. Bis nach Berlin verfolgen ihn die Bilder der Ermordeten und das Bild des Getto-Tores, das er im Brandenburger Tor wiedererkennt.

Und in Gedichten wie Tagebuchnotizen zeigt er seine Erschütterung darüber, dass die Deutschen scheinbar einfach wieder zur Tagesordnung übergangen sind, genauso gedankenlos, wie sie zuvor gelebt hatten. Das mag nicht stimmen. Jeder sieht die Welt ja immer durch die Augen des Betroffenen, bringt das Erlebte mit und sucht auch nach Zeichen, die es bestätigen könnten.

Es ist der andere Blick, der Blick dessen, der nicht vergessen kann, dass aus diesem Land, das er jetzt erstmals erlebt, das Grauen über seine Heimat und seine Mitmenschen kam. Das Unfassbare, das die vom Schlachter zum Schlächter aufgestiegenen kleinen Bürger aus deutschen Provinzen da angerichtet hatten mit einer eisigen Systematik, die das Morden letztlich zu einem bürokratisch vollzogenen Akt gemacht haben.

Die Entmenschlichung beginnt immer mit Worten. Deswegen ist vieles von dem, was heute wieder – gerade von den „social media“ entfesselt – in die Gesellschaft schwappt, so gefährlich. Es macht Menschen wieder zu Schablonen, Masken und Feind-Bildern, schürt den Hass auf das, was eigentlich Verständnis erfordert. Und Bescheidenheit. Eine Tugend, die nun wirklich keine deutsche ist. Sie setzt nun einmal auch voraus, dass man sich hineinversetzen kann in den anderen, in seine Angst und seine Trauer.

Und es ist nicht nur Trauer, die auf diesem 33-jährigen Dichter aus dem heutigen Vilnius lag, als er durch das zerbombte Berlin lief. Es ist auch Wut und auch Dankbarkeit an die „fliegenden Festungen“ der Alliierten, die dieses Sodom systematisch in Schutt und Asche gelegt haben. Für Mitgefühl ist da in den Gedanken des Mannes, der das Schlimmste überlebt hat, kein Platz. Und man ahnt nur, wie frappierend dieses Deutschland auf ihn wirken musste – denn seine Heimat war noch viel gründlicher zerstört, niedergebrannt, zum „killing field“ gemacht worden.

Sein letzter Tagebucheintrag ist eigentlich schon ein Abschied von Europa, auch wenn das Flugzeug wieder nach Moskau zurückkehrt. Ein Jahr später wird er nach Israel auswandern, wo er 2010 hochbetagt stirbt. Einige wenige seiner Texte wurden seither ins Deutsche übersetzt. So etwa die „Gesänge vom Meer des Todes“, die der Leipziger Hubert Witt übersetzt hat.

Arndt Becks Auswahl zeigt Sutzkever in jenem Moment seines Lebens, da er im Scheinwerferlicht der Geschichte stand und eine Anklage vorbrachte, die bis heute gilt. Es ist der andere Blick auf dieses Deutschland, das nur zu gern ganz schnell vergessen hätte, welches Unheil es eben noch über die Völker Europas gebracht hatte. Der Blick dessen, der zutiefst verletzt wurde, entsetzt im Angesicht einer Unmenschlichkeit, die man nicht verstehen kann, wenn man mit aller Liebe am Leben hängt.

Der Blick des Betroffenen, der nicht bereit ist, sich als Opfer zu betrachten. Der jetzt die Mörder anklagt, dort, wo seine Anklage auch gehört wird. Wo sie ihm nicht ausweichen können, die Herren auf der Anklagebank. Auch wenn sie ihn mit hasserfüllten Blicken durchbohren. Jetzt ist er nicht mehr der Gejagte und Erniedrigte. Jetzt sagt er ihnen ins Gesicht, was sie getan haben.

Und im letzten Gedicht, das er „An die Juden in Deutschland“ schreibt, sagt er etwas, was diese Totschläger in Uniform bis heute nicht vertragen: Dass die Ermordeten nicht mehr die Letzten sein werden, sondern „die ersten eines volkes, welches sein ich erkannte / und sieben siegel brach“.

Damit war das Schweigen gebrochen und niemand kann das Geschehene mehr unsichtbar und ungesagt werden lassen. Denn nur, indem man davor die Augen nicht verschließt, ist man gewarnt und kann sich sorgen, dass die Schlächter nie wieder in die Position kommen, ihr eisiges Denken zum Geist eines ganzen Landes werden zu lassen. Man versteht Sutzkevers bittere Anklage und sein düsteres Bild von Deutschland. Es ist genau das Deutschland, das er erlebt hat. Und überlebt hat, das darf man nicht vergessen. Einer jener 600 Wilnaer Juden von 80.000, die nach dem Abzug der deutschen Truppen noch lebten.

Das darf man als Warnung und Mahnung lesen, auch heute noch. Es gibt keine Entschuldigung dafür, wenn man Unmenschlichkeit zur Staatsdoktrin macht, egal, mit welcher Begründung. Und egal, wie fein verpackt. Die Gefahr ist nicht gebannt. Leider, muss man sagen. Grund genug, die Warnung wachzuhalten – auch wenn sie, wie bei Sutzkever, eine ungemilderte Anklage ist.

Arndt Beck In Sodom, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020, 19,90 Euro.

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