In Leipzig hat sich John Sauter unter seinem Künstlernamen Johnny Katharsis schon einen Namen gemacht. Doch er ist nicht nur Rapper und hat gerade sein neuestes Album herausgebracht. Er ist auch Lyriker. Seinen zweiten Gedichtband hat er jetzt in der Edition Azur veröffentlicht.

„Nostromo“ heißt das neueste Album von Johnny Katharsis, das er im Januar veröffentlichte. Kurz darauf gefolgt vom Videoclip „Schnaps“, in dem man schon recht deutlich hört, dass es eigentlich nicht so esoterisch zugeht in den Songs des 1984 in Freiberg/Sachsen geborenen Musikers. Eher auf eine beharrliche Weise poetisch mit einem Sinn für das Alltägliche.So, wie man wahrscheinlich ziemlich früh lernt, auf diese Gegend hier zu schauen, die manche noch immer gern Zone nennen und dabei gar nicht mal mehr die alte Ostzone meinen, sondern etwas Ähnliches, wie man es in „Picknick am Wegesrand“ bei Arkadi und Boris Strugazki findet (verfilmt von Andrej Tarkowski unter dem Titel „Stalker“).

Johnny Katharsis – Schnaps (prod. HeMightBe) x Nostromo LP

Dass er den Rap dazu eigentlich nicht braucht, zeigt er als John Sauter in seinem Gedichtband „Zone“, in dem tatsächlich die heimischen Städte und Landschaften eine unverwechselbare Kulisse bilden – Bergwerksschächte, Müllhalden, verlassene Fabriken, von Tagebauen zerwühlte Landschaften, die Einsamkeit der ostdeutschen Provinz dort, wo die lebendige Großstadt in das stillere Hinterland übergeht und der Staub aufwirbelt, wenn sich nur das kleinste Lüftchen regt.

Wobei Sauter nicht vergessen hat, dass einen mit seiner Heimat immer etwas Traumhaftes verbindet, etwas, was sich in unserem Unterbewussten mit dichten, kaum greifbaren Szenen verbindet, die im Traum zuweilen nach oben schwappen und uns das beklemmende Gefühl geben, wieder da zu sein. Da, wo die Gerüche des Waldes, der alten Häuser, Kohlebunker und Nieselregen gespeichert sind.

„Das Land am Horizont / Riecht nach Heimat“, schreibt er. Und ist damit im Grunde mittendrin in diesem Wurzelwerk, in dem auch die Menschen in diesem Landstrich aufgewachsen sind, an Orten wie Freiberg, irgendwo da in den Arbeitersiedlungen, wo man sich kannte und alles vertraut war. Und wo das Weggehen auch immer so wirkt, als verwandele sich jemand, als nähme er nun den Geruch der Fremde an.

„… sieht mich als Fremden / sieht mich als leer / dieses Land“. Auch so landet man in Zonen – dort nicht mehr Teil der alten Meute und trotzdem mit allen Wurzeln verhaftet, in der neuen Stadt aber erst recht fremd und auch noch ausgegrenzt. Doppelte Fremdheit in einem Land, dessen Verlorensein Sauter nachspürt.

Denn es ist kein lautes Land, jedenfalls nicht, wenn man drin lebt und merkt, wie still es geworden ist, seit der Maschinenlärm nicht mehr die Nächte erfüllt und die Werksbusse nicht mehr überfüllt die scharfen Kurven fahren, um die noch halb betrunkenen Arbeiter ins Werk zu schaffen. Fahren sie noch? Irgendwie schon. Als wären die Busfahrer Geister, die nicht mehr innehalten können mit dem, was sie immer gemacht haben. Damals, als die „Menschen schippten / Kohle in die Luken der Keller“.

Da muss aber auch Sauter noch jung gewesen sein, ein Kind, das aufwuchs in so einer als normal empfundenen Welt. Und nun kommt ihm das vor, als wäre das ein Traum. „Doch / Über den Häusern, schmalen Bäumen / Antennen und letzten elektrischen Lichtern / Waren die Sterne so deutlich zu sehen / Dass uns klar wurde / Hier / Kommen wir niemals raus“, schreibt er.

Und schreibt es mit dem Wissen, dass er da längst raus ist, dass es dieses Land der Kohlen und der deutlich zu sehenden Sterne nicht mehr gibt. Schon gar nicht in Leipzig, wo grelle weiße Lichter dafür sorgen, dass man keinen Stern mehr deutlich sieht. Dafür bauen die Spinnen ihre Netze genau über diese Lampen: Insektenfallen.

Wobei die Zone, die er in jenen Teilen seines Gedichtbandes beschreibt, die eher nicht mehr zu Freiburg und Kindheit, Jugend und Heimat gehören, ebenfalls eine Rand-Zone ist, mit besetzten Häusern, leeren Fabriklandschaften, die eher an eine wüste Ödnis grenzen als an Wald. Der Blick verengt sich. Hier will keiner die große Gesellschaft malen, die ganze Welt.

Die ist nicht erfahrbar, das weiß dieser Autor. Erfahrbar ist nur, was man sieht und spürt und riecht, was nah ist. Nur so begreifen wir ja die Menschen, denen wir nah sein dürfen, so intensiv, dass sie für uns die ganze Welt sein können im Hier und im Jetzt. Starke Lyrik ist immer im Jetzt, erkundet die ganzen erstaunlichen Unschärfen, die uns umgeben, die wir sonst, beim oberflächlichen Irgendwiedasein nur übersehen, wegsummieren im gleichgültigen Blick.

Aber was, wenn einem diese Zone, in der man sich aufhält, nicht gleichgültig ist, nicht gleichgültig sein kann? Mit all ihren so typisch zonalen Widersprüchen: „Hier / Hält man es für eine gute Idee / Das Amt für Zugereiste / Ins Plattenbaugebiet zu legen / In Sichtweite der Kneipe mit Frakturschrift / Sitzen wir im Park …“

Ein Land voller aufreißender Widersprüche, als würden sie erst so richtig zutage treten, wenn der Boden aufreißt und die Trockenheit in die Stadtränder kriecht: „Rostige Tore vergessener Grundstücke / Quietschen im Wind, Fußbälle mit Hundebiss / Werden zu Erde / Disteln in verlassenen Beeten / Dazwischen Wasser in schwarzen Kanälen …“

Es ist „eine seltsame, neue Ordnung / von der wir schon die Anzeichen erkennen“, schreibt er. Gerade in diesem Gedicht wird deutlich, wie ähnlich die so verlassene Zone der Zone aus „Stalker“ ist. Und wie sich die Zonen überlappen, die Vergangenheit, die sich aufgelöst hat, mit der Wüste, die sich bildet, wenn keine Menschen mehr da sind und die Häuser und Höfe leer stehen.

Eine Übergangs-Zone, in der der Verfall besonders bedrückend wird, der Betrachter aber selbst weiß, dass er hier nicht bleiben wird. Im letzten Text des Bandes, der eigentlich ein großer, intensiver Gesang über „das Land“ ist, in dem Sauter aufwuchs, schreibt er: „Wir verlassen das Land / Selbst rudern und dann / Kommen wir ja vielleicht / Irgendwann an.“

So fühlt man sich als Fortgezogener, der das Land wohl verlassen kann. Nur verlässt es ihn nicht. Er nimmt es mit – auf jeden Fall im Kopf, das Altbekannte, mit leichtem Gepäck, „ein paar Setzlinge eingepackt“. Denn die braucht man ja, wenn man im neuen Land Fuß fassen und wurzeln will. Der Wald ist in Sauters Gedichten immer präsent, wenn auch oft nur hinter rostigen Zäunen, wilde Gelände voller Pilzgeruch.

Es gibt immer diesen anderen Raum, auch wenn er seinen Halt immer wieder in anderen sucht, dem in vielen Gedichten stets gegenwärtigen Du, das Nähe gibt und Vertrautsein. Ein Du, mit dem sich Träume erleben lassen oder intensive Momente mit Fish’n’chips auf dem Dach.

Denn auch das versteht man ja nur, wenn man sich nicht blenden lässt: Dass es diese Nähe eines Menschen ist, die einen die Fremde erst aushalten lässt, das Gefühl des Herausgeworfenseins. Die Zone – so betrachtet – ist ein menschenarmer Ort, in dem man nicht weiß, ob es einen hier halten wird. Wo man noch so etwa braucht wie eine Anti-Angst-Kette. Man vergisst ja so leicht, dass Heimat auch das Gefühl gibt, geschützt zu sein. Das oft trügt.

Das wissen ja die jungen Leute in diesen Landschaften, von denen viele so weggegangen sind aus „der alten Stadt“, wo es „an der Haltestelle / Neben den Blocks“ nach Meer roch. Noch einmal jedes Geräusch hören, „jeden Spruch von den Wänden notieren“. Denn da im Fremden würde man alle Kraft brauchen, alle Energie. Und man würde brüllen. „So endet es nicht / Man muss nur brülln / Muss es nur fühln / Muss es nur wolln / Mit Herz auf / Tausenden von Volt“.

Denn diese Kraft brauchen sie alle, die die „stille Stadt“ verlassen haben und nun, auf sich selbst gestellt, alles neu beginnen müssen. In der „stillen Stadt“ ist das nicht mehr möglich. „Der Mond scheint auf die Mörtelzeit / Ich kann den Gemäuern fast beim Bröckeln zuhören / Denke ich …“

So wurden das im Grunde Gedichte, wie sie vor allem diese Generation schreiben kann, die ausgezogen ist aus der Mörtelzeit und augenscheinlich noch immer das Gefühl hat, dass sie mit ihren Träumen und Sehnsüchten an dieser Zone hängt. Nur die nahen Menschen bewahren einen davor, sich in der Erinnerung zu verlieren, „dem nicht Greifbaren / Wovor wir uns / Jeder für sich / Fürchten …“

Zone ist immer auch ein Übergang, ein Zwischenreich zwischen der nur noch erträumbaren Vergangenheit und dem Demnächst, von dem man noch nichts weiß. „Wir verlassen das Land, die Melodie ist da / Ich mein die Lieder, die auf den Plattenspielern liefen / Ab heute müssen wir sie selber singen / Wir verlassen das Land / Müssen eigne Geschichten erfinden …“

Was die Kinder aus der Zone ganz bestimmt unterscheidet von ihren Altersgenossen westwärts, die keine stillen Städte verlassen mussten. Nur wer fortgehen muss, weil in der stillen Stadt nur noch der Putz bröckelt, weiß, wie das ist, wenn man seine Geschichten selbst anfangen muss zu erzählen. Mit diesem Anfang endet der Gedichtzyklus, den man auch genau so lesen kann: als eine Reise durch ein stilles Land, als eine Art poetisches Tagebuch mit sehr bildhaften Reflexionen.

Man könnte melancholisch werden dabei, wenn einen Stille melancholisch macht. Oder sich auch wieder einlassen auf die Intensität des mit allen Fasern erlebten Moments – ohne Musik im Kopfhörer, ganz eingestellt auf das, was man hören kann, wenn keine Maschine mehr lärmt. So fängt das an. Nur wer sich auf den Weg gemacht hat, die Zone zu verlassen, kann so eindringlich über das Erleben in der Zone erzählen.

John Sauter Zone, Edition Azur, Voland & Quist, Dresden und Berlin 2021, 20 Euro.

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