Wer sein Leben sucht, der stößt auf Probleme. Das wusste schon Johann Wolfgang Goethe, der es zwischen Dichtung und Wahrheit zu rekonstruieren versuchte. Unser Gedächtnis hat vieles gespeichert. Aber nicht alles. Und am Ende ist es eine Rekonstruktion. Und ein hartes Stück Arbeit für den Autor, nicht die falsche Geschichte zu erzählen.

Denn man ist ja nicht allein mit seiner Erinnerung. Andere Leute deuten und deuteln permanent herum an der Geschichte. Ein ganzes Heer von Tagelöhnern ist immerfort beschäftigt, Geschichte im Sinne ihrer Brötchengeber umzudeuten, zu sortieren, zu retuschieren und in die Köpfe zu hämmern. Ein Phänomen, das jeder Autobiograph kennt. Und die faulen unter den Selbstdarstellern schreiben alles Mögliche – nur nicht ihre eigene Lebensgeschichte.Und so war auch schon er erste Band der Trilogie, die der Leipziger Autor, Hörbuchverleger und einstige SPD-Stadtrat Gerhard Pötzsch über das Leben des Bernd Klapproth schrieb, der Versuch einer beharrlichen Dekonstruktion. Denn was ist wirklich das eigene Leben? Wie hat man es wirklich erlebt? Oder noch ein bisschen schärfer: Hat man wirklich sein eigenes Leben gelebt? Oder spuckt die Erinnerung nur lauter Versatzstücke aus, die eigentlich die Sichtweise anderer Leute sind, die man sich immer nur angeeignet hat, weil es leichter ist, die Welt in den gängigen Schablonen zu sehen?

Da ist es schon ein Kunstgriff, wenn Pötzsch an seiner statt Bernd Klapproth im Leipziger Westen aufwachsen lässt, wo nach dem Garten des Großvaters die berühmte Taschentuchdiele zu jenem Ort wird, den er im ersten Teil der Trilogie als Heimat erfährt. Obwohl in dem Band auch sein Versuch, die schöne Heimat DDR via CSSR zu verlassen, geschildert wird, der dann in 15 Monaten Knast wegen (versuchter) Republikflucht endete.

Und als er dann wieder draußen ist und er am „Haus der tausend Dinge“ steht, zurück in seinem Heimatkiez, ist auch noch Jimi Hendrix gestorben. Aus der Traum, den Sänger jemals in einem Konzert selbst zu erleben. Was ja eng verbunden ist mit dem Traum, überhaupt einmal in die Welt hinauszukommen. Die Szene ist auch wie ein Scharnier – nicht nur zwischen den verstörenden Erlebnissen im Knast und der doch sehr normierten Freiheit, sondern auch zwischen der letztlich doch schlüssigen Kindheit und Jugend in „Taschentuchdiele“ und der seltsamen Zwischenzeit.

Das Buch erschien ja immerhin schon 2015. Und „Zwischenzeitblues“ erzählt eben auch davon, dass es deutlich schwerer ist, der berühmten Mitte des Lebens genau dieselben eindeutigen und erzählbaren Konturen zu geben. Denn was war da eigentlich los? Mal ganz abgesehen von diesem Land, in dem dieser Bernd Klapproth jetzt schon aus Trotz bleiben wollte. Die (da oben) sollten schon merken, was sie sich da eingefangen hatten, indem sie ihn nicht wegließen.

Aber Leben müsste ja eigentlich mehr sein als Trotz. Auch so ein Grund, warum andere ihr (Zwischen-)Leben dann so gern verklären und auf die offizielle Erzähllinie einschwenken. Das ist immer leichter und billiger. Da muss man sich mit den eigenen Irrungen und Wirrungen nicht beschäftigen. Wenn man denn solche abschweifenden Gedanken hatte. Und Menschen wie Pötzsch hatten immer welche.

Sein Klapproth ist ein großer Grübler, einer, der auch in der Rückschau noch merkt, dass dieses Leben nicht so eindeutig verlaufen ist, wie er sich das als 25-Jähriger noch gedacht hatte. Das ist ein Alter, da meint man noch genau zu wissen, wohin man will. Man muss nur direkt drauf zusteuern. Und dann sitzt man als fast 70-Jähriger da und merkt: Das hat wohl nie so richtig geklappt. „Aber natürlich erkenne ich aus dem Abstand zwischen meinem damaligen Wollen und der danach eintretenden Realität meines Lebens (…) einen gigantisch auseinanderklaffenden Widerspruch.“

Und der Widerspruch steckt auch in der Einsicht: „Ich habe geglaubt!“

Heute waren ja alle immer schon Widerstandskämpfer gewesen und haben schon immer gewusst, dass der Traum von einer solidarischen Gesellschaft ein Märchen war, an das nie einer geglaubt hat. Schon gar nicht die Arbeiter auf der Straße oder bei den Stadtwerken, wo Poetzsch ein ganzes Kapitel handeln lässt, ohne seinen Helden auch nur einmal auftauchen zu lassen. Dafür zeigt er mit dem Direktor, dem Partei- und dem Gewerkschaftssekretär drei Enthusiasten, die felsenfest davon überzeugt sind, dass sie ihre Arbeit nur gut machen müssen, dann wird diese Gesellschaft genau das werden, was versprochen war.

Und wo ist da dieser Klapproth?

Später lässt Pötzsch ihn auch in alten Fotografien wühlen und erkennen, dass er daraus seine Lebensgeschichte nicht rekonstruieren kann. Das, was weiterhelfen könnte, wäre vielleicht neben dem Bild zu sehen gewesen. Doch wir haben ja damals keine seriellen Fotos gemacht, stellt er fest. Und man merkt: Klar, so geht es einem ja auch. Mit vielen Fotos kann man gar nichts mehr anfangen, weil man sie einfach nicht mehr mit Namen, Leuten, Ereignissen in Verbindung bringen kann. Und die Ereignisse, die einen wirklich weitergestoßen haben im Leben, die hat niemand im Bild festgehalten.

Das ist ein wenig wie in Umberto Ecos faszinierendem Roman „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“, in der ein Mann nach einem Schlaganfall versucht, sich selbst wiederzufinden – und dazu die Comics seiner Kindheit durchforscht. Etwas von sich findet er da, aber er kann bis zum Schluss nicht klären, ob er das wirklich selbst ist oder ein anderer, den er quasi aus Bruchstücken von Erinnerungen und Gefühlen rekonstruiert.

Wobei sich dieses „Auch ich habe geglaubt!“ bei diesem Klapproth schon im nächsten Moment mischt mit dem Zwiespalt, den wohl die meisten jungen Menschen haben: einerseits der Überzeugung, einzigartig und in gewisser Weise zu Höherem auserwählt zu sein, und auf der anderen Seite der bitteren Erkenntnis, auch nur ein rundgeschliffenes Sandkorn unter Trilliarden von Sandkörnern zu sein. „Zum Da-Sein verdammt.“

Aber diese Mitte der 1970er Jahre waren auch für diesen Klapproth ein Bruch, den Poetzsch wieder indirekt zeigt, indem er jetzt den Pfarrer Oskar Brüsewitz mit sich ringen und zum Entschluss kommen lässt, zur Flamme Gottes zu werden. Seine Selbstverbrennung im August 1976 war tatsächlich wie ein Moment des Erschreckens in dieser eben noch so glatten Geschichte des Landes, das so stolz war, endlich in die Weltgemeinschaft aufgenommen zu werden und dann auch noch den ersten Deutschen ins Weltall entsenden zu können.

Auf einmal berührt die Weltgeschichte auch wieder diesen so grüblerischen Klapproth, der auf einmal merkt, dass ihm das eigentlich schon mehrfach passiert ist. Bei der Beatdemo war er 1965 dabei, bei der Sprengung der Paulinerkirche 1968 – und nun verhagelt der Start von Sigmund Jähn ins All seinen ersten Auftritt als Autor im Rundfunk. Denn sein Grübeln hat ihn zum Schreiben gebracht.

Es liest sich wie ein spontaner Einfall, wie er seinen Klapproth den eben ausgekochten Text mutig in den Briefkasten stecken lässt. Und oft sind es genau diese Momente im Leben, in denen sich das, was einen wirklich beschäftigt, einfach Bahn bricht, zur Tat schreitet, Dinge tut, die so überhaupt nicht in die geregelten Abläufe passen. Aber anders kommt man auch nicht aus seiner Bahn und erlebt, dass das Leben keine gespurte Loipe ist und niemand wirklich festgelegt hat, wie man bitteschön ans Ziel kommen kann.

Es sind Momente, in denen man merkt, dass all diese Erzählungen vom richtigen Leben, vom sauberen Lebenslauf Märchen für Dumme sind. Meistens eher die Mittel der eh schon Etablierten, die Nachkommenden fein bei der Stange zu halten und ihnen einzureden, die Welt wäre berechenbar und das Leben hätte ein Ziel.

Hat es aber nicht. Das geben wir ihm nämlich erst selbst. Nur in diesen seltenen Momenten des Ungehorsams werden wir zu Helden des eigenen Lebens, tun Dinge, die uns vorher unmöglich erschienen. Und dann sitzt – Jahrzehnte später – der Autor seines Lebens da und grübelt, wie das nun so alles gekommen ist. Denn geplant war das nicht. Der Zufall spielte seine Rolle.

Aber auch Männer wie dieser Brüsewitz oder ein einst berühmter Talente-Entdecker im Osten wie Reinhard Weisbach, der just in dem Moment stirbt, da sich dieser Bernd Klapproth in der neuen Welt der Literatur erstaunt umschaut und noch nicht weiß, was das bringen wird und welche (ungeschriebenen) Regeln hier herrschen. Denn seine Reportage von der Erdgastrasse wird nie im Radio gesendet. Dafür findet er sie Jahre später in seiner Stasi-Akte.

Gerhard Pötzsch hat sie mit hineingenommen in sein Buch über diese Zwischenzeit, die sich im Nachhinein als so unlinear, unlogisch und flickenhaft ausnimmt. So unmöglich, dass nicht nur bei diesem Klapproth ab Mitte der 1980er Jahre das seltsame Gefühl lebendig wurde, dass das alles nicht wahr sein konnte. Als nämlich ein gewisser Gorbatschow in Moskau anfing, Politik zu machen, die man begreifen konnte.

Die das Selbstverständliche einfach in Worte packte und begann, es auch in die Tat umzusetzen, sodass die alten Herren in Ost-Berlin nicht mehr wussten, wie sie überhaupt noch reagieren sollten. Und auf einer Reise nach Kiew, Moskau und Peredelkino schnuppert dieser Klapproth auch diesen Hauch der Utopie. Und besucht – das überrascht nun nicht mehr – die Erinnerungsstätten von Bulgakow und Pasternak.

Am Grab Pasternaks lässt er diesen Zwischenzeitblues ausklingen. Auch mit so einem Randgedanken, dass man irgendwann einfach aufhören muss, die Gründe für menschliches Handeln ergründen zu wollen. Sonst kommt man aus der Kopfzermarterei nie heraus und es ändert sich auch nichts.

Da wundert es dann nicht, wenn diese ganzen 20 Jahre nicht nur im Leben des Bernd Klapproth so flickenhaft wirken. Manchmal sogar, als wäre er gar nicht dagewesen. Und nun sitzt er über seinen Fotosammlungen und fragt sich, ob das eigene Leben überhaupt noch erzählbar ist, wenn man doch immerfort nur auf Kopien von Kopien trifft, angehäuften Konsum, gedankenlos Gelebtes. Da wird doch auch die eigene Lebenserzählung nur wieder eine Kopie. Es sei denn, einer nähme sich wirklich Zeit, das alles noch einmal zu durchdenken. „Ich stelle mir also hilfsweise vor: Alles wäre frisch, neu, unbesehen und unentdeckt. Dann wäre ja noch nichts erzählt!“

„Vergangenheitsbewältigungsunterfangen“ nennt er es. Was nicht verhindert, dass der zweite Band seiner Lebens-Trilogie wie eine Collage wirkt, in der auch dieser Klapproth erst in dem Moment wieder Kontur gewinnt, in dem er eine (kleine) „Revolution im Geiste“ wagt. Die ja im Grunde die „Revolution im Geiste“ vorwegnimmt, die in den Köpfen einiger Ostdeutscher vor sich ging genau in diesen Jahren: Nichts muss so bleiben, wie es ist. Die Dinge aber ändern sich erst, wenn einer die alten ausgelatschten Wege in die „Erlösung heischende Ferne“ verlässt. Und handelt.

Als Leipziger weiß man, warum er im Jahr 1988 einen Punkt gesetzt hat hinter den „Zwischenzeitblues“. Den man als Leipziger ruhig auch mit der verbotensten aller Bands verbinden kann. Womit wir wieder bei der Musik wären, die für diesen da 1970 so verträumt auf der Merseburger stehenden Bernd Klapproth im Leben nicht nur Begleitmusik war, sondern auch immer Ermutigung, sich mit dem vorgeschriebenen Leben nicht zufriedenzugeben.

Gerhard Pötzsch Zwischenzeitblues, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021, 20 Euro.

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