Es ist ein erstaunlich stilles Buch, das der Leipziger Literaturverlag hier vorgelegt hat. Aus einem Land, dessen Autor/-innen es relativ selten schaffen, die Aufmerksamkeit hiesiger Kritiker und Leser zu erwecken. Und das liegt nicht daran, dass Kanada keine aufregende Literaturszene hätte. Es liegt eher daran, dass es kaum deutsche Verlage gibt, die sich um die Übernahme von Titeln bemühen. Also letztlich auch um ein gepflegtes Kanada-Repertoire.

Und dass es hier etwas zu pflegen gibt, zeigen natürlich die acht Dichter/-innen, die Susanne Opfermann und Helmbrecht Breinig ausgewählt haben, um sie jetzt einfach mal in einem Band dem deutschen Lesepublikum darzubringen. Es ist eine Gabe.Genauso wie die Veröffentlichungen im Literaturverlag Ronsdale Press eine Gabe sind, der wahrscheinlich in Kanada ganz genauso zu kämpfen hat, gute Lyrik an ein größeres Lesepublikum zu bringen, wie es deutsche Lyrikverlage haben. Und dabei zeichnen sich die Texte der hier Ausgewählten durch eine Schlichtheit und Schönheit aus, die man auch in Deutschland lange suchen muss.

Und das liegt nicht daran, dass die kanadische Literatur schon von Natur aus eine multilinguale und multikulturelle ist, in der sich die Sprechweisen der indigenen Einwohner (der First Nation und der Métis) mit den Stimmen der vielen Kanadier/-innen vermischt, die ihre Wurzeln in anderen Regionen des Erdballs haben.

In gewisser Weise diskutiert die Auswahl auch die Idee des multikulturellen und „besseren Amerika“. Und das gerade in den Texten der indigenen Autor/-innen sehr deutlich. Dazu brauchte es gar nicht erst den Skandal mit den jüngst gefundenen Skeletten von 215 gestorbenen indigenen Kindern auf dem Gelände eines katholischen Internats.

„Und einfach so / kommt alles heraus / mehr als nur eine Geschichte, die Wahrheit / tief im Inneren / der Internate / die Geschichten ihrer Überlebenden“, schreibt Garry Gottfriedson, Angehöriger der Nation der Secwépemc. In einem anderen Gedicht stellt er ebenso ruhig verwundert fest: „Ich war ein Ausländer (…) in meinem eigenen Heimatland.“

Es ist genau dieser Tonfall, ganz ohne Pathos oder Anklage, der die Gedichte in diesem Band so ruhig macht. Man hat stets das Gefühl, auf einer offenen Veranda zu sitzen und dabei hinauszuschauen in eine große, stille Landschaft, in der niemand wirklich Eile hat, in der es die deutsche Hektik und Ich-bin-in-Eile-Mentalität nicht gibt.

Was den Tonfall verändert. Denn wer Zeit und Ruhe hat zum Sprechen, der spricht genauer, der schaut um sich und nimmt all das wahr, was die Hektischen und Effizienten schon lange nicht mehr wahrnehmen. Auch die zerstörte Natur. Auch Kanada ist längst nicht mehr heil. Flüsse versiegen, Seen trocknen aus und die Waldbrände fressen sich bis in die Vorgärten.

Es ist, als hätte einem jemand eine Ladung aktueller Wirklichkeit aus Kanada ins Haus geschickt, nicht nur die schreienden Häppchen aus den Agenturtickern, die schon lange keine vollständigen Bilder mehr bringen von dem, was in der Welt geschieht. Auch nicht von dem, was aufmerksame Menschen – und Dichter sind immer sehr aufmerksame Menschen – vor ihren Augen sehen, betroffen, bestürzt, verwundert. Und sie packen es in Gedichte, die selbst wie kleine Gemälde sind. So wie die Bilder des amerikanischen Malers Andrew Wyeth, die Pamela Porter erwähnt in „Stillleben“: „Das Schweigen ist eine Hülle …“

Aber Bilder verraten ihre Geheimnisse, wenn man sie offenen Auges anschaut. Auch John Donlan stellt ein Gemälde ins Zentrum eines Gedichtes: „Jan van Eycks Madonna des Kanzlers Rolin“: „Es ist eine erschreckende Szene. Niemand sieht glücklich aus.“

Von Naturlyrik sprechen die beiden Herausgeber, die ja auch die Gedichte übersetzt haben. Aber das Wort führt in die Irre, ist gerade in der deutschen Literatur vorbelastet. Man denkt gleich an Eichendorff und Mörike. Aber damit hat das alles nichts zu tun. Hier wird nichts romantisiert, nichts angehimmelt.

Da, wo die Natur ins Bild kommt – auch ganz groß mit riesigen Büffelherden und den Bergrücken der Kordilleren – steht sie nicht für die Gefühle der kleinen Menschlein, die hier nach irgendetwas suchen. Eher ist das hier eine Landschaft, wie man sie von Walt Whitman kennt, von Neruda oder Cardenal. Es ist eine geradezu nüchterne, gewachsene Beziehung zur Natur und ihren Lebewesen. Auch weil etliche der Autor/-innen mittendrin leben in dieser Landschaft und sehen, wie sie sich verändert, wie sie auch leidet.

Und trotzdem leben sie nicht hinterm Wald, ist nichts provinziell. Die Geschichte ist überall präsent. Auch Pamela Porter nimmt die große, widersprüchliche Geschichte Amerikas mit hinein in ihre Texte. Wissend darum, dass sie von Blut trieft und dass ganz und gar nichts gut ist und dass es die Jäger sind, die die Geschichte machen, nicht die gejagten Löwen: „Der Löwe sprach. Bis sie selbst ihre Geschichte erzählten, würde der Jäger bleiben.“

Es ist, als lauschte man den Stimmen Kanadas, die ruhig davon erzählen, was ist und was war. Und was mit dem Lärm da draußen auf allen Kanälen nichts zu tun hat. Aber viel mit dem Lärm der riesigen Maschinen, die das Land umwühlen und aushöhlen wie „ein wütendes Mastodon“ in John Donlans Gedicht über „Die George River Karibuherde“. Während in Inge Israels Gedichten die Erinnerung an ihre verlorene Familie in Europa wachbleibt.

So gesehen sind diejenigen, die hier ein neues Zuhause gefunden haben, jenen, denen das Land genommen wurde, nah und verwandt. „Als Mischling bin ich aus Verachtung geboren / die Erinnerung an das Überleben des Weißen Mannes beim Pelzhandel / der Fluch meiner ursprünglichen Ahnen“, schreibt Gottfriedson.

Denn auch wenn ein Land wie Kanada stolz ist auf seine Vielfalt, lässt das weder die Wunden noch die Vergangenheit verschwinden. Erst recht nicht, wenn die Wunden nicht heilen und man die Sprache der Mächtigen sprechen muss, damit man überhaupt gehört wird. „Aber die Worte meiner Ahnen / strömen aus meinem Mund um / mit der Waffe des Weißen Mannes / dem Klang meines Bliures eine Stimme zu geben“, schreibt Gottfriedson.

Das ist der Beginn großer Lyrik: zur Sprache kommen zu wollen und zu müssen. Und sei es in der Sprache derer, die sonst nicht zuhören würden. In diesem Fall des kanadischen Englisch, aus dem alle Gedichte übersetzt wurden. (Und das englische Original steht gleich daneben.) Und damit können wir selbst zuhören. Und es ist tatsächlich, als hörte man den hier Versammelten beim Sprechern und Erzählen zu. Jeder trägt seine Geschichten und Bilder bei, das, was für jede und jeden sichtbar und greifbar ist.

Das dürfte auch Dichter/-innen in deutschen Landschaften ähnlich ergehen. Denn sie sind genauso unerhört und ungesehen. Wer wird sich um das Sagbare und Irdische kümmern, wenn der Zirkus voller Sensationen ist?

„Das ist aus dir geworden“, schreibt Pamela Porter, „Gischt, Mondstaub, Atem. Sodass / die, die mit ihrem Wagen im Gang des Supermarkts hantieren, / fast durch dich hindurchgehen, obwohl du / den Schutt der Welt hinter dir herziehst …“

Wer so aufmerksam ist, sieht auch, wie wenig er oder sie gesehen wird. Wie die Unaufmerksamen in ihrem Geschäftigsein vertieft sind. Was eigentlich nur eine Ausrede ist, aber eine gültige in einer Zeit, in der Aufmerksamsein und Innehalten geradezu verboten sind. So aber werden die Schreibenden zur Stimme der Nicht-Gehörten. Derer, die immer wieder vergessen werden, weil sie aus Sicht der Werter und Bewerter nicht wichtig sind, vernachlässigbar. Nicht mal einer Erwähnung in den Nachrichten wert.

Sage niemand, dass man sich so nicht auch in einem deutschen Supermarkt fühlen kann. Oder wo auch immer man das Frösteln erlebt, das entsteht, wenn die Gemüter vereist sind und keiner mehr einen Blick hat für den zugefrorenen Fluss, die alten Frauen (auf die Marya Fiamengo ein stilles Lied singt), den Weißen Klee (den John Donlan bemerkt) oder die Frau an Einsteins Seite, die auch heute noch so gern vergessen wird, wenn über den genialen Albert geschrieben wird. Pamela Porter schreibt über sie, wohl wissend, dass die Frauen auch heute noch aus den Erinnerungen verschwinden, wenn das Genie eines Mannes gerühmt wird.

Es ist ein erstaunlich vertrautes Land, das sich hier aufblättert, auch wenn man die gewaltigen Dimensionen immerzu ahnt. Es ist ein großes Stück jenes von Whitman besungenen Amerika, und es wird genauso geschunden wie das von Whitman nicht besungene innere Europa. Texte, die das Fernweh nicht einmal befeuern, denn dieses Kanada wirkt nah und vertraut, so wie diese acht Dichter/-innen, die eher nur beiläufig andeuten, wie hart ihr Leben ist, wie schwer die Geschichte lastet, die man zwar erzählen kann.

Aber wen erreichen diese Erzählungen, wenn niemand zuhört? Umso wichtiger, dass sie jetzt in diesem Gedichtband stecken, den man durchaus lesen kann am offenen Fenster mit Blick auf den Garten, auch wenn man keine verbrannten Wälder dabei sieht. Und keine Karibuherden. Aber die tauchen ganz von allein auf. Gedichte lenken die Aufmerksamkeit auf das, was wirklich ist. Und was auch dann bleibt, wenn der Lärm im Äther sich ausgetobt hat, „Strahlenstürme aus Wörtern“, wie sie John Donlan nennt, der durchaus weiß, was man alles sieht, wenn man nur wartet.

Die meisten von uns können nicht mehr warten. Deswegen haben es Gedichte mit uns so schwer. Denn sie versetzen uns in jene Stille, in der wir uns selbst wieder hören und spüren. Das ist der Anfang fürs Zuhörenkönnen. Und das tut in diesem Fall gut. Als wäre man selbst unterwegs gewesen in ganz und gar kanadischen Tagen.

Susanne Opfermann; Helmbrecht Breinig Gedichte für eine neue Welt, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2020, 19,95 Euro.

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