Das Ding ist ein Klassiker. Und es wird nie zu Ende geschrieben sein: das von Jakob und Wilhelm Grimm gestartete „Deutsche Wörterbuch“, dessen erster Band 1852 erschien und in dem mit der Auslieferung des letzten, des 32. Bandes, seit 1961 über 320.000 Wörter aufzufinden sind. Aber wer hat schon 32 dicke Bände daheim im Regal stehen? Welche Laune freilich viele der darin aufgezeichneten Wörter machen, zeigen Thomas Böhm und Peter Graf in dieser sehr eigenwilligen Auswahl.

Schon 2018 hat Peter Graf die „einzigartige Schatzkammer“ erkundet und damals eine „Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten“ herausgegeben. Diesmal hat er sich mit Thomas Böhm zusammengetan und den Fokus bei der Wortauswahl einmal auf das Menschliche, Allzumenschliche gelenkt. Eben das, was uns alle aneinander aufregt, verwirrt, stört und auf den Keks geht.

Wäre da nicht ein kleines Problem: Woher haben die Grimms eigentlich all die Wörter? Von ihren Nachfolgern ganz zu schweigen, die ihr Werk fortsetzen. Denn Wilhelm Grimm starb ja über dem Buchstaben D, Jakob bei F. Der eine also ungefähr bei Dollbruder, Dorfschöne und Dreckamsel, der andere bei Freiheitsluft, Freudemacherin, Frischgewagt und Frohgesicht. Bei Frucht war es für Jakob dann nämlich auch vorbei mit der mühseligen Wortarbeit.

Die zartfühlenden Quellen so mancher Worte

Denn die zwei sammelten ja nicht nur die Wörter, sondern suchten auch möglichst viele – gedruckte – Belegstellen zusammen. Was dann den zusammengesammelten Wortschatz sehr prägt. Im Vorwort gehen die beiden Herausgeber auf einige der besonders auffälligen Wortspender ein – es sind Johann Wolfgang von Goethe und Jean Paul, die ja schon zu den Lebzeiten der Grimms als Klassiker galten. Besonders Jean Paul hat es den Herausgebern mit seinen Wortschöpfungen angetan. Aber auch die „zartfühlende Lyrik von Heines Zeitgenossen Friedrich Rückert“ finden sie bemerkenswert. Von ihm stammt der „Lebensocean“ im Titel.

Eins ist sicher: Im Jahr 2022 hätten die Belegstellen der Grimms völlig anders ausgesehen. Böhm und Graf vermissen zum Beispiel Robert Gernhardt als wortreich zu zitierenden Lyriker. Und ein kritischer Redakteur hätte wahrscheinlich eine Menge Worte wieder rausgeschmissen. Worte, die auch zu den Zeiten, als die zitierten Dichter lebten, ganz bestimmt nicht zum normalen Sprachschatz der Deutschen gehörten.

Besonders fällt das auf bei den oft ziselierten und gefühlig geschaffenen Kunstworten und Zusammensetzungen, die die Grimms aus den Dichtungen des deutschen Barock zusammengesammelt haben und die es nur dort gibt. Zeichen eines zutiefst frommen und von religiöser Inbrunst geprägten Zeitalters.

Manches davon steht zwar heute noch in Liederbüchern der evangelischen Kirche. Aber niemand spricht so. Und wenn ein heutiger Autor diese Worte verwenden wollte, käme er um Gänsefüßchen gar nicht umhin. Das wird besonders deutlich, wenn es um der deutschen Amateur-Dichter liebstes Steckenpferd geht: Herzschmerz und Liebesleid.

Liebesgesäusel

Da kommt Fleming mit „liebebeflammt“ genauso zu Wort wie Opitz mit seiner „Liebesthräne“. Und dazwischen? Unsere hochverliebten Klassiker und natürlich Friedrich Rückert mit solch wilden Wortfindungen wie „liebefasernd“ und „Liebeslippe“. Die Grimms waren Sprachwissenschaftler. Aber diese Bruchstelle haben sie sichtlich ignoriert.

Dabei steht für das, was leider ziemlich viele deutsche Verseschmiede da im 17., 18. und 19. Jahrhundert angerichtet haben, ein sehr schönes Wort, das nicht zufällig auch aus dieser Zeit stammt: klügeln. Was auch meint, dem Leser eine poetische Finesse vorzugaukeln, indem man besonders ausgefallene Wortfügungen findet. Von denen eine Menge auch in diesen Band gefunden haben. Angefangen vom Menschengehäuse von Claudius bis zu Himmelsanverwandter (Rist) und der Erfüllungshoffnung eines gewissen Müller.

Dazwischen gibt es natürlich lauter Perlen, die tatsächlich von der Bildhaftigkeit deutscher Volkssprache erzählen. Die ganzen Dichter-Konstrukte sind in der Regel alles Mögliche, nur nicht bildhaft und deshalb auch nicht einprägsam.

Aber das Galgenfrüchtlein kennt mancher ja heute noch in seinem Bruder, dem Galgenvogel. Der Kastengeist ist noch allemal so umgangssprachlich wie die Lakaiengesinnung, der Lustmensch und der Prahlhans. Auch diese Auswahl zeigt ja, zu welch erstaunlichen Kreationen die deutsche Freude beim Wortzusammensetzen führen kann.

Es muss nur treffen. Oder genauer: zwei müssen sich treffen. Zwei Worte, die zusammen etwas wirklich Neues ergeben – so wie das herrliche saumselig, das es genauso ins Buch geschafft hat wie Affenliebe und die zutiefst deutsche Waldeslust.

Manchmal ein Glückstreffer

Dann und wann gelang natürlich auch einem deutschen Dichter eine Neuschöpfung, die es tatsächlich in den Sprachgebrauch geschafft hat – etwa Goethes Alltagsgesicht, das Quacksalbern oder die am Anfang des 19. Jahrhundert aufkommende kriegerische Todeslust.

Einige der ausgewählten Worte erzählen noch von einem Leben, das es so heute nicht mehr gibt. Aber einem Leben, in dem die Sonderbarkeiten der Mitmenschen noch sehr persönlich genommen wurden – ob nun ihr Lästern, Saufen, Fressen, Fremdgehen oder / und Kindermachen, ihr Großreden und ihre Ungewaschenheit. Eigentlich laute Dinge, die einen heute noch verwirren können, die aber eben auch zeigen, dass nicht alles gut ist, wenn man mit anderen Leuten ein Leben lang dicht auf dicht zusammenwohnen muss, wie das für die meisten Deutschen bis ins 19. Jahrhundert normal war.

Da wurden Dinge wie Uzerei, Tütlichkeit, Rüpeln, Hackschigkeit und Dudeligkeit durchaus schnell zu zwischenmenschlichen Problemen. Und manches liest sich so, als wäre das genau der treffende Ausdruck dafür, wie Menschen sich heute in Internetforen benehmen. Als wäre auch das Internet nur ein Dorf, in dem jeder über jeden tratscht, rüpelt und verhetzt (Stichwort: Verhetzung), was Maul und Kopf nur so hergeben. Jeder eines jeden Dummbart und Einfaltspinsel, der eine Lust daran hat, die Bude zu durchstänkern.

Eine herrlich bildhafte Sprache

Doch, das kann man der deutschen Sprache nicht nehmen: Wo sie aus dem gelebten Leben kommt, ist sie kräftig, treffend und bildhaft und braucht überwiegend gar keine Erklärung, auch wenn die Grimms – hochgelehrt wie sie waren – viele Worte fürsorglich ins Lateinische übersetzt haben und sich die weitere Erklärung gespart haben. Wer Latein entziffern kann, weiß dann, was gemeint ist.

Was zuweilen tatsächlich erst die Augen öffnet dafür, wie sich auch der Wortgebrauch verändert hat im Lauf der Jahrhunderte. Bei Elenden denkt man zwar an Elend und Armut. Aber das ist gar nicht gemeint mit diesem Wort, das die Grimms mit exulare und perigrinari übersetzten. Denn damit war einst gemeint, was einem passiert, wenn man gezwungen ist, ins Ausland (Elend) auszuwandern: Man wurde meist elend, weil man dort kein Auskommen hatte.

Man merkt es beim Lesen, dass es holterdipolter geht, deftige Worte aus dem Sprachschatz des Volkes sich mit künstlicher Wortakrobatik aus deutschen Dichterstuben begegnen. Meistens eher kollidieren, weil hier völlig unterschiedliche Sprechwelten aufeinander prallen. Welten, die sich im gewöhnlichen Leben mehrheitlich gar nicht begegnen, es sei denn, der Philister aus der Stadt geht mal aufs Dorf oder der Stubengelehrte zu den Säufern in die Kneipe. Und sage niemand, dass das heute anders wäre.

Wir tun nur so, als wäre es nicht mehr so. Aber spätestens beim Wort Impfzwang dürfte auch der Geschichtsvergessene stutzen. Na so etwas, das gab es schon zu den Zeiten der Grimms? Natürlich. Damals war es die (Kuh-)Pockenimpfung, die einige Leute auf die Palme brachte, weil sie das für einen Eingriff in Gottes Werke hielten.

Da konnte man sich schon kaffeeschwesterlich aufregen und trotzerlich gebaren. Geändert hat das auch nichts an der Welt und ihrer Vielmeinerei. Aber dem letzten Wort merkt man es ja schon an: In den Duden gehört Vielmeinerei nicht. Es ist von Goethe. Als hätte er sich mit Rückert und Jean Paul einen Wettstreit geliefert, wer mehr Worte erfinden kann, die es in Grimms Wörterbuch schaffen.

Sprach-Welten

So gesehen trifft es die Auswahl, die Thomas Böhm und Peter Graf hier herausgefiltert haben, doch ganz gut: Man findet nicht nur Volkes Stimme, sondern auch die Stimmen derer, die immerzu meinen, sie würden auch noch für die Anderen mitreden und müssten sich dabei besonders zierlich anstellen. Da prallen Welten aufeinander. Aber auch Gefühle.

Und mal ehrlich: Hinterher geht man lieber ins Wirtshaus zu den derberen Zeitgenossen, als zu diesen Perückenträgern der Wortakrobatik, bei denen es schon staubt, wenn man das Wort mit spitzen Fingern anfasst. Manche halten das tatsächlich für Poesie. Lichtenberg (der es absonderlicherweise tatsächlich auch ins Wörterbuch geschafft hat), nannte es Wassersuppenphilosophie.

Es ist ja nicht so, dass nicht auch Professoren der Physik mal ein schlagkräftiges Wort sagen können, wenn es treffen soll. Das ist immer noch besser als eine Weisheitsmiene, die sich im 18. Jahrhundert genauso gut tragen ließ wie im 22. Die beiden Ausgräber jedenfalls haben ihren Spaß gehabt.

Die Grimmschen Worte mussten sie ja nicht noch einmal erklären. Diese erzählen von sich selbst, so wie sie dastehen. Manche Texte wurden grafisch etwas hervorgehoben und dazwischen erinnern kleine Vignetten daran, dass auch in der Sprache manchmal gewaltige Wellen geschlagen werden.

Thomas Böhm und Peter Graf „Neuerliche Entdeckungsfreudige Erkundung des Grimmschen Wörterbuches, den Lebensocean und die Sprachmenschwerdung betreffend“, Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2022, 28 Euro

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