Von wem haben wir unsere Wörter? Wo kommen sie her? Wer hat sie sich ausgedacht? Das sind Fragen, über die Germanisten seit 200 Jahren grübeln. Aber seitdem wissen sie auch: Sprachen kommen nicht aus dem Nichts. Und sie verändern sich ständig. Und die Wurzeln unserer Wörter verraten uns, aus welchem Winkel der Welt die Menschen kamen, die ganz am Anfang unserer Sprachfamilie standen.

Denn es ist ja eine Sprachfamilie – das Indoeuropäische. Lange Zeit auch das Indogermanische genannt nach den beiden östlichen und westlichen Zipfeln seiner heutigen Verbreitung – von Indien bis zu den germanischen Sprachen. Die keltische Sprachfamilie gehört genauso dazu wie die italische, die slawische, die baltische und die iranische.

Und natürlich wurde auch diese Forschung von Rassisten lange Zeit missbraucht, um daraus eine Überlegenheit der „germanischen“ oder gar „arischen Rasse“ zu konstruieren. Alles wissenschaftlich längst widerlegter Blödsinn. Aber wie wir wissen, laufen etliche Leute noch immer herum mit diesen Blasen im Kopf. Unfähig, überhaupt die Dynamik in der jüngeren Menschheitsgeschichte zu begreifen.

Geschichte heißt immer: Veränderung

Und um Dynamik geht es. Denn natürlich erzählen Sprachfamilien auch von Wanderungen. Einige Zeit stritten sich die Sprachforscher nur darüber, wo man eigentlich den Ursprung des Indoeuropäischen verorten kann. Jahrelang dominierte die Kurgan- und Steppentheorie, meinte man die Menschengruppen, aus deren Sprache die heute noch nachweisbaren Spuren in der großen indoeuropäischen Sprachfamilie stammen, irgendwo im Süden des heutigen Russlands verorten zu können.

Doch alles – auch eine groß angelegte Computersimulation mit allen bekannten Daten zum Indoeuropäischen – deutet auf einen Ursprung hin, der auch die archäologische Logik für sich hat. Denn danach lag der Keim für diese Sprachfamilie im heutigen Kleinasien, dort, wo vor 11.000 Jahren Ackerbau und Viehzucht begannen und von wo aus die Ackerbaukulturen auch nach Westeuropa aufbrachen.

Wie diese neolithische Ackerbaukultur vor rund 7.000 bis 8.000 Jahren auch nach Mitteleuropa kam, kann man ja unter anderem in dem bilderreichen Nachschlagewerk „Spuren des Menschen“ nachlesen.

Und es überrascht auch nicht, dass das von Sprachforschern mühsam herausdestillierte Datenmaterial zum Indoeuropäischen auch all die Namen der Tiere und Arbeitsgeräte enthält, mit denen die Bauern damals loszogen, um neue fruchtbare Landschaften zu kultivieren. Sie wurden wieder sesshaft und ihre Sprache begann sich zu verändern.

Sprache verändert sich ständig. Das ist ja der Grundtenor dieses Büchleins, das man so von Dudenredakteur/-innen eigentlich nicht erwartet hätte. Sind sie denn nicht zuständig dafür, die Sprache zu normieren und festzuzurren, damit alle Leute im deutschen Sprachraum dieselbe Grammatik und Orthografie benutzen?

Das Ringen um eine normierte Hochsprache

So könnte man den Job verstehen. Und ein wenig verstand ja Konrad Duden die Herausgabe seines Wörterbuches auch einst so.

Doch zur Geschichte der Sprachwissenschaft gehört auch die lange Vorgeschichte der Schaffung einer einheitlichen deutschen Hochsprache. Denn als sich das, was wir heute das Deutsche nennen, herausbildete, wäre wohl noch kein Sprecher darauf gekommen, es so zu bezeichnen.

Wir wissen nicht einmal, wie die Sprechergruppen sich nannten, als sich aus dem Indoeuropäischen vor rund 4.000 Jahren die germanische Sprachengruppe herauszubilden begann. Wobei auch die Germanen sich selbst wohl nie so nannten. Es ist wie so oft eine Fremdzuschreibung, möglicherweise direkt von ihren südlichen und westlichen Nachbarn, den Kelten, sodass in Germanen möglicherweise das keltische Wort für Nachbar steckt.

Möglicherweise. Denn bei diesen frühen Entwicklungen fehlt den Forschern vor allem eines: die schriftliche Überlieferung. Die setzte erst um das Jahr 800 zur Zeit Karls des Großen ein, als insbesondere in den Klöstern erstmals biblische Texte in die jeweilige regionale Mundart übersetzt wurden.

Diese alten Belege zeigen, dass auch das Gebiet des heutigen Deutschland ein regelrechter Flickenteppich der Mundarten war. Die Sprecher bezeichneten sich als Bayern, Sachsen, Hessen, Schwaben – aber nicht als Deutsche. Auch wenn die Klosterschreiber durchaus sahen, dass diese Sprachen der verschiedenen Volksstämme sich sehr ähnlich waren.

Einerseits.

Andererseits waren sie noch weit bis ins Hochmittelalter so verschieden, dass Leute aus dem Norden Deutschlands enorme Schwierigkeiten gehabt haben dürften, die aus dem Süden oder Westen zu verstehen.

Was „das Volk“ so redet

Doch genau in der Zeit der Klosteraufzeichnungen tauchte auch erstmals der Begriff für das Deutsche auf: die Sprache des Volkes. Also der Leute, die da in der Nähe des jeweiligen Klosters wohnten und natürlich weder lesen noch schreiben konnten und schon gar nicht die Amtssprache in Klöstern und Kanzleien beherrschten.

Und das war eben Latein. Mit lateinischen Gottesdiensten konnten sie auch nichts anfangen. Und so zeugen die frühesten Übersetzungen aus der Bibel eben auch von den frühesten Nachweisen deutscher Dialekte.

All das wird den Leser/-innen dieses handlichen Buches geradezu spielerisch nahegebracht in kurzen Kapiteln und Texten, aufgelockert mit aus Buchstaben und Satzzeichen zusammengebauten Grafiken, die die vielen Einflüsse und Veränderungen zeigen, die der Wortschatz des Deutschen bis heute erlebt hat.

Wirklich greifbar werden so die Frühformen des Deutschen also erst um das Jahr 800 (obwohl z. B. das Sächsische und das Anglische schon im 6. Jahrhundert enormen Einfluss auf die Herausbildung des Englischen genommen haben müssen).

Und mit den Minnesängern im 12. und 13. Jahrhundert beginnend können die Autor/-innen des Büchleins auch das langwährende Bemühen nachzeichnen, für die ja in einem gemeinsamen Sprachraum lebenden Menschen tatsächlich einmal eine gemeinsame Hochsprache zu schaffen, die alle verstehen konnten.

Anfangs nur für die adlige Elite, für die ja Minnegesang und Heldenepen gedacht waren. Aber spätestens mit Aufkommen des Buchdrucks wurde die Schaffung einer funktionalen Hochsprache gerade für Schriftverkehr und Handel immer drängender.

Und da war es ja bekanntlich Martin Luther, der mit seiner Übersetzung des „Neuen Testaments“ eine Marke setzte, die bis heute gilt und für gewöhnlich als Geburtsstunde des Hochdeutschen verstanden wird, auch wenn das letztlich erst der Beginn war und die Arbeit an diesem Projekt bis ins 19. Jahrhundert dauerte.

Das Grimm’sche Wörterbuch (das Jakob und Wilhelm Grimm zu Lebzeiten nicht beenden konnten) und der „Duden“ waren die wichtigen Marksteine, die im Grunde die Normierung der deutschen Hochsprache zu einem Abschluss brachten. Aber nicht zum Ende.

Sprache ist keine Trutzburg

Denn auch diese Standardwerke beendeten die Veränderung der deutschen Sprache nicht. Denn Sprache ist nichts Abgeschottetes, auch wenn das einige Sprachpuritaner im Lauf der Zeit immer wieder behaupteten und mit mächtigem Aufschlag darangingen, die deutsche Sprache von „fremden Elementen“ zu säubern. Was ihnen nie gelang.

Denn wer sich durch das Büchlein geblättert hat, weiß, dass das Deutsche immer eine evolutionäre Sprache war und fähig und offen, mit Einflüssen aus allen Himmelsrichtungen auch immer Neues aufzunehmen und damit auch die entsprechenden Wörter, die man natürlich nicht neu erfinden musste – von den Lehnworten aus dem Lateinischen, die mit den Römern und den Mönchen in deutsche Lande kamen, bis hin zu all den Worten, die mit der Entwicklung der Technik entstanden (wo eben andere Länder die Vorreiter waren), aber auch Begriffen aus Kunst, Mode, Architektur usw.

Oder einmal so formuliert: Die deutsche Sprache war immer eine lernwillige und neugierige Sprache. Bornierte alte Leute regten sich jedes Mal auf über all die fremden Worte. Aber schon wenige Generationen später waren die Wörter aus dem Französischen, Englischen, Italienischen so etabliert, dass die meisten Sprecher nicht einmal auf die Idee gekommen wären, dass es mal fremde Wörter waren.

„Denn während sich der Wortschatz in einer sehr dynamischen Entwicklung befindet, beweist die Grammatik Stabilität und Beharrlichkeit und nimmt selbst kühne Neuschöpfungen unter ihre strukturierenden Fittiche“, schreiben die Autor/-innen quasi als Bilanz für ihre kleine Reise durch unsere Wörterwelt. Und merken auch an, dass ungebräuchlich gewordene Wörter auch wieder verschwinden.

Manchmal überdauern sie in alten Wörterbüchern und es braucht geradezu technische Erklärungen, was sie einmal bedeuteten. Sie verschwinden mit Berufen, die aussterben, mit Alltagsgegenständen, die man heute in keiner Wohnung mehr findet, mit Moden, die vergehen, und veränderten Essgewohnheiten.

Sprache ist die Geschichte ihrer Sprecher

Was an Wörtern tatsächlich gebraucht wird, das bleibt auch erhalten. Es ist irgendwann so etabliert wie Auto, Radio und Telefon (alles Fremdwörter), Apfel, Tomate und Kartoffel (alles Wortimporte) oder Kaffee, Kakao und Schokolade.

So wird der deutsche Sprachschatz immer umfangreicher und wird heute auf 350.000 bis 500.000 Wörter geschätzt. Allgemein gebräuchlich sind etwa 70.000 Wörter, auch wenn die meisten Menschen im Durchschnitt nur 12.000 bis 15.000 Wörter benutzen, davon rund 3.500 Fremdwörter.

Da zähle mal einer. Das macht aber niemand. Die Probleme fangen ja schon bei Fachsprachen an, die für gewöhnlich nur wenige Sprecher tatsächlich benutzen. Zählt man sie dazu? Gehören diese Wörter auch ins Wörterbuch? Man denke nur an Mediziner und Ingenieure.

Im Grunde kann man ja nach Lesen dieses Buches feststellen, dass die Sprache eben auch die Geschichte ihrer Sprecher enthält – ihre Wandergeschichte, ihre Kulturgeschichte, ihre Lerngeschichte.

Und so nebenbei stellen die Autor/-innen noch etwas fest, was man mit der Entwicklung einer Sprache eher nicht in Verbindung bringt, was aber in der deutschen Sprachentwicklung markant zu erkennen ist: Rund alle 300 Jahre erlebt das Deutsche eine Runderneuerung, eine regelrechte Umwälzung, sodass die vorhergehende Sprachperiode deutlich von der nachfolgenden abgrenzbar ist.

Oft spielen gewaltige gesellschaftliche Umbrüche hier die zentrale Rolle: der Dreißigjährige Krieg zum Beispiel und der Zweite Weltkrieg. Was dann die Zäsuren 1650 und 1950 setzt.

Ein Spiegel gesellschaftlicher Umwälzungen

Um 1350 setzte die Etablierung des Frühneuhochdeutschen ein, also des Deutschen als Volkssprache – eng verbunden mit Buchdruck, gedruckten Volks- und Sagenbüchern und natürlich Luthers Bibelübersetzung.

Um 1050 war es die Herausbildung der höfischen Kultur, die zur Herausbildung des Mittelhochdeutschen führte und damit – das Latein ablösend – zur Herausbildung einer im ganzen Heiligen Römische Reich verständlichen Hochsprache als Sprache der feudalen Eliten.

1650 und 1950 aber stehen dann auch dafür, dass nach blutigen Kriegen eben auch die alten Strukturen lädiert sind und jüngere Sprecherinnen nun deutlich mehr Spielraum bekommen, Neues in die Sprache einfließen zu lassen.

Und das waren eben nicht nur Einflüsse aus anderen Sprachen, sondern auch jede Menge technische Neuerungen, wie das ab den 1950er Jahren ja unübersehbar der Fall war. Wer Bücher aus Kaisers Zeiten liest, ist meist verblüfft über die Behäbigkeit dieser Sprache, die moralischen Standards und die Weitschweifigkeit sowieso.

Und natürlich servieren die Autor/-innen des Buches auch ein paar Pralinen „für Sprach-Freaks“, etwa zu den beiden Lautverschiebungen in der deutschen Sprachgeschichte, zu den frappierenden Vokalveränderungen vom Frühneuhochdeutschen zum Mittelhochdeutschen, oder zu den Brüdern Grimm, die den Deutschen ja nicht nur wegen des von ihnen begonnenen Wörterbuchs bekannt sind, sondern noch viel mehr durch ihre Märchensammlung.

Und natürlich liest sich das Buch stellenweise auch wie eine freundliche Polemik zu all den Leuten, die glauben, sie wären – „als Deutsche“ – irgendetwas Besseres und die deutsche Sprache wäre ein unveränderliches Museum, in dem niemand etwas antasten darf.

Wäre das so, die Sprache wäre längst ausgestorben wie das Hethitische oder das Ostgotische. Sie lebt aber. Und Leben heißt – auch in der Sprache – permanente Veränderung, Bereicherung und fröhlicher Austausch mit anderen Sprachen, die manchmal etwas haben, was man noch nicht hat.

Aber gut gebrauchen kann. Was dann eine Sprache mit hohem Gebrauchswert ergibt. Vielfältig anwendbar und außergewöhnlich zumindest in dem Sinn, dass man auch 200 Jahre nach Jakob und Wilhelm Grimm noch darüber staunen kann, was man alles in dieser Schatztruhe findet, wenn man mal hineinschaut.

Die außergewöhnliche Geschichte unserer Wörter Bibliographisches Institut 2022, 16 Euro.

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