2021 beschäftigte sich die Leipzigerin Silke Heinig mal mit einem Thema, das geradezu ins Vergessen zu verschwinden droht, seit Kinder nicht mehr auf der Straße spielen und deshalb auch keine „Spatzenlieder“ mehr singen. In den Kitas lernen sie meisten therapeutisch brave Lieder für Kinder, aber ganz bestimmt keine frechen Lieder über Räuber, Diebe, Mörder und andere finstere Gestalten, welche die Stadt in Angst und Schrecken versetzen.

Und natürlich die Boulevard-Medien mit fetten Schlagzeilen füllen. Denn was die Straßenlieder für die Kinder waren, das sind die Boulevard-Nachrichten für die großen Leute, die ihre Welt nur zu gern mit Gemunkel, Monstern und Schauermärchen füllen. Sie sind die Gerüchteküchen von heute. Das wäre ein eigenes Thema, gerade in unserer Zeit, in der selbst scheinbar seriöse Medien diese Gerüchtemacher zitieren, als wären es verlässliche Quellen.

Aber genau darum geht es in den Spatzenliedern, deren Charakter Silke Heinig beschreibt – bebildert natürlich ganz zwangsläufig mit spielenden Straßenkindern aus dem vergangenen Jahrhundert. Denn diese Kinder gibt es nicht mehr. Die Straßen sind zu Parkplätzen für Blechkarossen umfunktioniert worden. Und wer seine Kinder heil wiedersehen will, der lässt sie garantiert nicht mehr auf der Straße spielen.

Das Böse ist immer und überall

Und so entstehen auch nicht mehr diese einst überall zu findenden sozialen Netzwerke der Nachbarskinder, die auf ihre Weise das reflektierten und für sich verarbeiteten, was sie am Küchentisch zu Hause oft nur bruchstückhaft mitbekommen haben. Zum Beispiel die Geschichten über besonders blutige Morde, die immer wieder auch zu Kinderliedern geworden sind. Lieder, die Eltern heute ihren Kindern wohl eher nicht beibringen würden.

Aber wie geht man mit dem Schauerlichen um, wenn man nicht wirklich weiß, wie groß die Gefahr tatsächlich ist, ob die Erwachsenen übertreiben oder die Angst nur zu berechtigt ist. Ganz zu schweigen davon, dass Kinder sich oft gar nicht vorstellen können, wie grausam Erwachsene tatsächlich sein können.

Doch genau so entstanden „Spatzenlieder“ wie „Lizzie Borden took an axe“ oder „Warte, warte nur ein Weilchen“. Sie sind der spielerische Umgang mit der Angst und dem Grauen – aber auch die Lust daran, selbst Angst machen zu können. Und damit auch Grenzen zu setzen und den eigenen Sozialraum zu markieren. Straßenkinder konnten einst sehr frech sein. Auch das vergisst man ja beinah in einer Zeit, in der es keine Kindercliquen mehr auf den Straßen gibt. Und wo es sie noch gibt, werden sie verdrängt und mit den Augen einer wachsamen Nachbarschaft skeptisch beobachtet, denn das können ja nur Kinder mit kriminellen Absichten sein.

Das Reich der „Spatzen“

Silke Heinig erläutert zwar im Kapitel „Spatzenlieder“ sehr ausführlich, wie diese Lieder entstanden und funktionierten und wie gut sie etwa zum Spiel mit Hüpfkästen und Springseil und Ball passten. Aber es ist eine vergangene Welt, die da und dort – wie in Rosa Ribas’ „Die große Kälte“ – noch als Motiv in Romanen auftaucht. Teilweise noch in den Erinnerungen von Menschen, die Mitte des 20. Jahrhunderts groß geworden sind.

Aber so wie die alten Leute verschwunden sind, die sich am offenen Fenster noch über Klatsch und Tratsch und alle Wehwehchen austauschten, sind eben auch die „Spatzen“ verschwunden, die die Straße als ihr Reich und ihr Refugium betrachtet haben, wo es manchmal auch rabiate Revierkämpfe gab und das Liedgut auch bezeichnete, wer dazugehörte und wer nicht.

„Spatzen“ in dem Sinn wie die frechen Spatzenschwärme, die es ja tatsächlich noch gibt – jedenfalls da, wo die Hausverwalter die Hecken und Büsche vor den Häusern in Ruhe lassen und nicht der Hausmeister regelmäßig stutzt, damit sich ja keine Spatzen einnisten.

Das moderne Entsetzen im Boulevard

Wahrscheinlich gab es noch viel mehr solcher „Spatzenlieder“ als die vier, die Silke Heinig näher beleuchtet mitsamt den Kriminalfällen, die dahinter stecken. Aber schon als Bert Brecht die Moritat vom „Apfelböck“ und später die von „Mackie Messer“ schrieb, ging ja auch die Zeit der öffentlichen Moritatensänger zu Ende. Radio und Zeitung ersetzten die traditionelle Quelle für das gemeinsame Entsetzen, das sich heute in asozialen Medien tummelt – genauso schlecht grundiert und mit Übertreibungen aufgeblasen.

Nur dass die Nutzer der „social media“ ziemlich einsam vor ihren Geräten sitzen und das Entsetzen zwar konsumieren, aber daraus keine befreienden Spottlieder machen. Denn genau so funktionierten ja auch die „Spatzenlieder“: Der Verbrecher wurde zur Schreckfigur, aber gleichzeitig in den spottenden Rhythmus gebannt. Also zum Teil des Spiels, so wie der Schwarze Mann, der bei Suchspielen noch jüngst aufgerufen wurde: „Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?“

Quasi die Personifikation des Dunklen und Bösen, das in jeder menschlichen Gesellschaft steckt. Und das man nicht einfach dadurch aus der Welt schafft, indem man den Kindern lauter weichgespülte Heile-Welt-Lieder beibringt. Straßenkinder wussten, dass das Böse gleich um die Ecke oder im Dachbodenzimmer wohnen konnte. Und dass die Erwachsenen heillos übertrieben, wenn sie sich über den einen Mörder die Münder zerfetzten, die nicht so blutigen Taten der etwas „feineren“ Mörder, Diebe und Halunken aber gar nicht erst würdigten.

Auch das ja ein Manipulationsmechanismus heutiger Boulevardmedien, die erst dann zu voller Inbrunst auflaufen, wenn sie blutige Monster erschaffen können und dann – verlogen bis zur Nasenspitze – so tun, als wären dies entartete Ausnahmeerscheinungen in einer heilen Welt. Was übrigens die allergrößte Lüge ist: dass unsere Welt heil wäre und das Böse etwas Abnormes, das es nur in den finstersten Ecken von Hannover, Augsburg oder London gibt.

Gesundes Misstrauen mit Liedern lernen

Dass die „Spatzenlieder“ also auch eine Integrationsfunktion erfüllen, erwähnt Silke Heinmig natürlich ebenso, gerade da, wo es um das Auswendiglernen der Lieder geht. Was auch bei anderen Kinderliedern eine wichtige Funktion erfüllt. Kinderlieder sind auch magisch und erklären den kleinen Sängerinnen und Sängern, wie das Leben und die Welt, in der sie aufwachsen, tatsächlich sind. Und womit sie rechnen müssen.

Und auch deshalb hatte Brechts „Dreigroschenoper“, die ja mit einem englischen Stoff aus dem 18. Jahrhundert arbeitete, bis heute so einen Erfolg. Weil es eben nicht nur eine Gaunerkomödie ist, die irgendwo in exotischen Unterwelten spielt, sondern ein Stück Wahrheit über die brave Welt der bürgerlichen Zuschauer erzählt, die sie in ihren Zeitungen oft nicht mehr erfahren. Denn das Verbrechen verkleidet sich ja nur zu gern brav und gutbürgerlich. Man lernt also besser früh genug, der Mitwelt mit einem gesunden Misstrauen zu begegnen.

Das kann helfen, nicht jedem Strolch auf den Leim zu gehen. Und manchmal bewahrt es einen vor blindseligem Vertrauen, das einem zum Verhängnis werden kann.

Und auch wenn die „Spatzen“ von den Straßen verschwunden sind und mit ihnen die „Spatzenlieder“, hat sich der Charakter der menschlichen Gesellschaft ja nicht gewandelt. Nur werden die Monster heute eben anderswo aufgeblasen. Und Millionen Erwachsene tauchen Tag für Tag ins Entsetzen ein und bringen es nicht mehr in Einklang mit der Welt, in der sie glauben zu leben.

Silke Heinig „Spatzen Lieder. Mord Geschichten“, epubli, Berlin 2021, 9 Euro.

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