Schon seit Jahrhunderten strahlt Leipzig weit in die Region aus, prägt sie und sorgt für ein enges Beziehungsgeflecht mit einem Stück Weltgegend, an dem weder Historiker noch Geografen vorbeikommen, wenn sie sich mit der zentralen Stadt beschäftigen. Und natürlich schwebt darüber die Frage: Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Und warum ausgerechnet Leipzig? Der Historiker Lutz Heydick taucht dazu auch tief in die geologische Vorgeschichte ein.

In zahlreichen Büchern hat er sich schon mit der Morphologie der Region auf vielfältige Weise beschäftigt. Er ist die wichtigen Flüsse von Mulde bis Sale entlang geradelt (und lud damit zur Entdeckung einer abwechslungsreichen Landschaft mit dem Fahrrad ein), hat den beiden Landkreisen Leipzig und Nordsachsen ein Porträt verschafft. Und so hat er letztlich zum Jubiläum des Sax-Verlages auch den Verlag selbst verortet in „Gefühlt mitteldeutsch“.

Was dann schon die nächste Verortung deutlich macht, denn Leipzig ist ja auch gleichzeitig der – gefühlte – Mittelpunkt der Region, die man aus historischen Gründen Mitteldeutschland nennt. Hätten die Politiker 1990 den Mumm besessen, nicht die drei historischen Länder Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt wiederzugründen, sondern ein größeres und letztlich wirtschaftlich stärkeres „Mitteldeutschland“, Leipzig wäre der logische zentrale Ort dieses Landes gewesen.

Und die Ministerpräsidentin dieses Landes hätte im Konzert der deutschen Bundesländer eine völlig andere Stimme. Der Osten leidet eben auch an seiner Kleinteiligkeit, seinen Zwerg-Bundesländern, die dann eben auch Zwergen-Politik betreiben.

Wo sind die Grenzen des Leipziger Landes?

Aber zurück zum Leipziger Land, dessen Konturen der Historiker Lutz Heydick in diesem Buch akribisch herausarbeitet – auch in der Diskussion und der Kritik zu früheren Autoren, die immer wieder andere Definitionen für diesen Landstrich fanden, den Raum mal weiteten, mal verkleinerten, sich mal von (durchaus veränderlichen) Landesgrenzen irritieren ließen, mal von geografischen Grenzen wie den Flüssen und Landschaftsformen.

Aber Heydick kennt die Geschichte, kennt die Verflechtungen. Und die haben natürlich auch mit der Geografie der Region zu tun, mit Flussverläufen und der Entstehung von Handelswegen. Die ja vor Jahrhunderten nicht so entstanden, wie heute gnadenlose Planer eine Autobahn durch die Landschaft fräsen. Über solche Mittel verfügten die Menschen vor 1.000 Jahren gar nicht.

Handelswege entstanden also dort, wo die geografischen Gegebenheiten günstig waren, die Passage von Bergen und Flüssen möglichst einfach und die Wege zum nächsten Handelsort möglichst direkt und sicher waren.

Bei Leipzig kam dann natürlich auch noch die Förderung durch die Meißnischen Markgrafen hinzu, die sich hier ganz bewusst einen eigenen Messeort schufen, mit dem sie Geld verdienen konnten. Der dann wieder die Begehren der Merseburger Bischöfe erweckte. Denn schnell hatte sich herausgestellt, dass die Lagegunst Leipzig tatsächlich zum zentralen Messeort prädestinierte.

Und damit zum Taktgeber für eine ganze Region, die Heydick in diesem Buch Stadt für Stadt genau eingrenzt. Und eben auch erklärt, warum genau diese Städte das Leipziger Land begrenzen. Trotz eigener historischer Größe, die sie einmal hatten, stehen sie jetzt unwiderruflich im Bannkreis der Großstadt.

Lauter Perlen von Städten

Das gilt für die einst kurfürstliche Residenzstadt Torgau genauso wie für das einst bischöfliche Wurzen, für Eilenburg (von wo aus die Wettiner ihre Karriere zu Markgrafen in Meißen antraten), aber auch für das einst vom Kaiser gepäppelte Altenburg, für Weißenfels, Zeitz und Naumburg, ebenfalls für Delitzsch, Grimma und Oschatz.

Zu jedem dieser Orte gibt es ein eigenes Porträt, das gleichzeitig dazu einlädt, diese Städte selbst einmal zu besuchen. Jede ein Kleinod. Mit Landsberg begegnet man auch dem Ort, der einst der Markgrafschaft Landsberg seinen Namen gab – und Leipzig die Landsberger Pfähle im Wappen.

Auf einmal merkt man, welch eine reiche Geschichte da jenseits der Großstadt zu entdecken ist – 1.000 Jahre satte Geschichte auch mit etlichen Teilungen Sachsens, dem Kampf der Wettiner um die Landeshoheit, aber auch der Rolle der Straßen, Flüsse und – ab 1836 – der Eisenbahnen, die Handel und Wandel vorantrieben.

Nicht zu vergessen den Blick in die geschundene Landschaft bei Delitzsch und bei Borna, heute als Seenland gefeiert, einst die Energiequelle für die Industrialisierung der Region. Und es waren keine armen Städte, die sich hier rund um Leipzig gruppierten. Und heute fast alle mit der S-Bahn erreichbar sind.

Eine moderne Art der Vernetzung einer Region, die mit ihren Toren und Straßen seit Jahrhunderten auf die Handelsstadt in der Mitte orientiert waren.

Ein Raum schafft Strukturen

In gewisser Weise ist Heydicks Landbereisung auch eine kleine Aufforderung, diese uralten Strukturen nicht nur ernst zu nehmen. Sondern auch den Blick zu schärfen für die gemeinsame Besonderheit, die sich nicht nur in der historischen Markgrafschaft Landsberg zeigte, sondern auch in einem Begriff wie Osterland, der in der sächsischen Geschichte immer wieder auftauchte und damit eben auch einen deutlich markierten Landesteil von Sachsen bezeichnete, der immer anders war als die anderen prägenden Landschaften Sachsens.

Dass der Begriff Osterland verdrängt wurde, hat genau mit diesem Aufstieg Leipzigs zur einzigen dominierenden Stadt zu tun, welche längst die ganze Region prägt.

Heydick beschreibt es mit dem Satz: „Wie Leipzig Halt und Zentralität aus seinem wachsenden Umfeld bezog, hafteten die Ränder mit zunehmender Kohäsion an diesem zentral werdenden Platz des Körpers ‚Leipziger Land‘.“

So gesehen spürt das Buch den Kräften nach, die für die Raumstrukturen menschlicher Besiedelung sorgen. Und die Orte wie Leipzig hervorbringen. Da und dort diskutiert der Autor ja auch die Frage, welcher andere der porträtierten Orte denn in der Lage gewesen wäre, Leipzig als diesen zentralen Ort zu ersetzen? Das ist nicht einmal Halle gelungen, das heute mit Leipzig eine Art doppelten Mittelpunkt der Region Mitteldeutschland bildet.

Merseburg wurde spätestens mit den Leipziger Messeprivilegien ausgebootet. Und Taucha, das die Merseburger Bischöfe gern als Gegengewicht zum wettinischen Leipzig aufgebaut hätten, blieb mitten in dieser Entwicklung stecken. Was eben nicht bedeutet, dass die heute kleineren Orte keine reiche Geschichte hätten.

Im Gegenteil: Heydick zeigt, dass jedes einzelne Städtchen den Besuch lohnt, jedes auch zu recht stolz ist auf die Zeugnisse seiner Vergangenheit. Aber gerade seine Diskussion des jahrzehntelang fluktuierenden Begriffs „Leipziger Land“ zeigt eben auch, dass Zentralität eben eine Menge mit Logistik zu tun hat. Erst prägt die Landschaft die menschlichen Handelswege – dann prägen die Handelswege die Strukturen der maßgeblichen Städte, die von Marktflecken zu Messestädten aufsteigen. Oder Marktflecken bleiben.

Wer gehört dazu? Und wer nicht?

Geschichte ist immer Veränderung und Bewegung. Aber sie hat auch Strukturen, an denen selbst Bischöfe, Markgrafen und Könige nicht vorbeikommen. Der Raum prägt die Geschichte der Menschen. Und ihr Denken über Zugehörigkeit und Gemeinsamkeiten.

Und so ist das Buch eben nicht nur eine Einladung, Heydicks begründeten Überlegungen zur Struktur des Leipziger Landes zu folgen, sondern mit ihm auch all die funkelnden Orte in diesem Leipziger Land – und an seinen Rändern – zu besuchen. Die Ränder sind deshalb wichtig, weil sie eben auch Bruch- und Konfliktstellen sind, Grenzen einstiger Machtbereiche und heutiger Verwaltungsstrukturen.

Orte auch, an denen man die Willkür amtlicher Grenzziehungen erleben kann, die meist wenig mit dem Willen der Einwohner zu tun haben, wenn man an die preußischen Zugriffe auf den Norden und Westen des Leipziger Landes denkt oder an den Verwaltungsakt, der Altenburg Thüringen zuschlug und nicht der Region, der sich die Altenburger zugehörig fühlten.

Und für alle, die diese Region noch gar nicht kennen, auch wenn sie schon ewig in Leipzig wohnen, ist es ein Buch, das zu Entdeckungen einlädt. Und zu dutzenden spannender Ausflüge in eine faszinierende Landschaft, in der es sogar ein paar Berge gibt. Von denen die Geografen aber gern von „ertrinkenden“ Bergen sprechen.

Denn: Wenn man die geologischen Maßstäbe anlegt, dann landet man in vulkanischen Zeiten. Auch das gehört zum Leipziger Land.

Lutz Heydick „Das Leipziger Land. Naturraum und Geschichte“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2023, 22,80 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar